Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
In der Bibel geht dem Bericht über den Tod des greisen Mose sein geistliches Testament voraus, das als »Lied des Mose« bezeichnet wird. Dieses Lied ist in erster Linie ein wunderschönes Glaubensbekenntnis, und es lautet so: »Ich will den Namen des Herrn verkünden. Preist die Größe unseres Gottes! Er heißt: Der Fels. Vollkommen ist, was er tut; denn alle seine Wege sind recht. Er ist ein unbeirrbar treuer Gott, er ist gerecht und gerade« (Dtn 32,3-4). Es ist jedoch auch die Erinnerung an die mit Gott gelebte Geschichte, an die Abenteuer des Volkes, das sich gebildet hat, ausgehend vom Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Mose ruft daher auch die Bitterkeit und die Enttäuschungen in Erinnerung, die Gott selbst erfahren hat: seine Treue, die von der Untreue seines Volkes beständig auf die Probe gestellt wurde. Der treue Gott und die Antwort des untreuen Volkes: so als wollte das Volk die Treue Gottes auf die Probe stellen. Und Gott bleibt immer treu, seinem Volk nahe. Genau das ist der Kern des »Liedes des Mose«: Got-tes Treue, die uns das ganze Leben hindurch begleitet.
Als Mose dieses Glaubensbekenntnis spricht, steht er an der Schwelle zum Gelobten Land und auch zu seinem Abschied vom Leben. Er war 120 Jahre alt, so heißt es in dem Bericht, aber »sein Auge war noch nicht getrübt« (Dtn 34,7). Diese Fähigkeit zu sehen – tatsächlich zu sehen, aber auch symbolisch zu sehen –, wie die alten Menschen sie haben, die die Dinge, die tiefere Bedeutung der Dinge, sehen können. Die Lebendigkeit seines Blicks ist ein kostbares Geschenk: Es gestattet ihm, das Erbe seiner langen Lebens-und Glaubenserfahrung weiterzugeben, mit der nötigen Klarheit. Mose sieht die Geschichte und gibt die Geschichte weiter; die alten Menschen sehen die Geschichte und geben die Geschichte weiter.
Ein hohes Alter, dem diese Klarheit beschieden ist, ist ein kostbares Geschenk für die nachfolgende Generation. Das persönliche und unmittelbare Hören des Berichts der gelebten Glaubensgeschichte, mit all ihren Höhen und Tiefen, ist unersetzlich. In Büchern darüber zu lesen, sie in Filmen anzuschauen, sich im Internet darüber zu informieren, kann zwar nützlich sein, ist aber nie dasselbe. Diese Weitergabe – die »Tradition« im eigentlichen Sinne, die konkrete Weitergabe vom alten an den jungen Menschen! –, diese Weitergabe fehlt den neuen Generationen heute sehr, und zwar immer mehr. Warum? Weil diese neue Zivilisation die Vorstellung hat, dass die alten Menschen Wegwerfmaterial seien, werden die alten Menschen ausgesondert. Das ist brutal! Nein, das geht so nicht. Der unmittelbare Bericht, von Mensch zu Mensch, hat einen Ton und einen Stil, die kein anderes Kommunikationsmittel ersetzen kann. Ein alter Mensch, der lange gelebt hat und die Gabe eines klaren und leidenschaftlichen Zeugnisses für seine Geschichte empfängt, ist ein unersetzlicher Segen. Sind wir in der Lage, dieses Geschenk der alten Menschen zu erkennen und in Ehren zu halten? Folgt die Weitergabe des Glaubens – und des Lebenssinns – heute diesem Weg, den alten Menschen Gehör zu schenken?
Ich kann ein persönliches Zeugnis geben. Den Hass und den Zorn auf den Krieg habe ich von meinem Großvater gelernt, der 1914 am Piave gekämpft hatte: Er hat diesen Zorn gegen den Krieg an mich weitergegeben. Denn er hat mir von den Leiden eines Krieges berichtet. Und das lernt man nicht aus Büchern und auch nicht auf andere Weise, sondern man lernt es so: indem man es von den Großeltern an die Enkel weitergibt. Und das ist unersetzlich. Die Weitergabe der Lebens-erfahrung von den Großeltern an die Enkel. Das ist heute leider nicht so, und man meint, dass die Großeltern Wegwerfmaterial seien. Nein! Sie sind die lebendige Erinnerung eines Volkes, und die Jugendlichen und Kinder müssen den Großeltern Gehör schenken.
In unserer so »politisch korrekten« Kultur scheint dieser Weg zahlreiche Hindernisse zu haben: in der Familie, in der Gesellschaft, auch in der christlichen Gemeinde. Einige schlagen sogar vor, den Geschichtsunterricht abzuschaffen, als wäre er eine überflüssige Information über nicht mehr zeitgemäße Welten, die der Kenntnis der Gegenwart Ressourcen wegnimmt. Als wären wir erst ges-tern geboren worden!
Der Weitergabe des Glaubens fehlt andererseits oft die Leidenschaft einer »gelebten Geschichte«. Den Glauben weitergeben bedeutet nicht, irgendein »Blabla« zu reden. Es bedeutet, die Glaubenserfahrung mitzuteilen. Andernfalls wird sie kaum dazu führen, dass man die Liebe für immer, die Treue zum gegebenen Wort, die Beharrlichkeit in der Hingabe, das Mitgefühl für die verletzten und gedemütigten Gesichter wählt. Gewiss, die Lebensgeschichten müssen in Zeugnis verwandelt werden, und das Zeugnis muss redlich sein. Die Ideologie, die die Geschichte nach eigenen Vorstellungen zurechtbiegt, ist gewiss nicht redlich; die Propaganda, die die Geschichte so anpasst, dass sie die eigene Gruppe begünstigt, ist nicht redlich. Es ist unredlich, aus der Geschichte einen Gerichtshof zu machen, wo die ganze Vergangenheit verurteilt und jede Zukunft entmutigt wird. Redlich sein bedeutet, die Geschichte so zu erzählen, wie sie ist, und nur wer sie erlebt hat, kann sie gut erzählen. Darum ist es sehr wichtig, den alten Menschen zuzuhören, den Großeltern zuzuhören. Es ist wichtig, dass die Kinder sich mit ihnen unterhalten.
Auch die Evangelien erzählen ehrlich die gesegnete Geschichte Jesu, ohne die Fehler, das Unverständnis und sogar den Verrat der Jünger zu verstecken. Das ist die Geschichte, das ist die Wahrheit, das ist Zeugnis. Das ist das Geschenk der Erinnerung, das die »Alten« in der Kirche weitergeben, von Anfang an, indem sie es »von einer Hand zur nächs-ten« an die folgende Generation weitergeben. Es wird uns guttun, uns zu fragen: Wie sehr schätzen wir diese Art, den Glauben weiterzugeben, als Weitergabe des Staffelstabs von den alten Menschen der Gemeinde an die jungen Menschen, die sich zur Zukunft hin öffnen?
Und hier kommt mir etwas in den Sinn, das ich schon oft gesagt habe, aber ich möchte es wiederholen. Wie gibt man den Glauben weiter? »Naja, da ist ein Buch, lies es.« Nein. So kann man den Glauben nicht weitergeben. Der Glaube wird im Dialekt weitergegeben, also in der vertrauten Sprache, zwischen Großeltern und Enkeln, zwischen Eltern und Kindern. Der Glaube wird immer im Dialekt weitergegeben, in jenem vertrauten und von der Erfahrung geprägten Dialekt, den man im Laufe der Jahre erlernt hat. Darum ist das Gespräch in einer Familie so wichtig, das Gespräch der Kinder mit den Großeltern. Sie sind es, die die Weisheit des Glaubens besitzen.
Manchmal passiert es, dass ich über diese seltsame Anomalie nachdenke. Der Katechismus der christlichen Initiation schöpft heute großzügig aus dem Wort Gottes und vermittelt genaue Informationen über die Lehren, über die Moral des Glaubens und über die Sakramente. Oft fehlt jedoch eine Kenntnis der Kirche, die aus dem Hören und aus dem Zeugnis der echten Glaubens- und Lebensgeschichte der kirchlichen Gemeinschaft entsteht, von den Anfängen bis in unsere Tage. Als Kind lernt man das Wort Gottes in den Gemeinderäumen, wo der Katechismus gelehrt wird; aber die Kirche »lernt« man als Jugendlicher in der Schule und in den Medien der globalen Information.
Die Erzählung der Glaubensgeschichte sollte wie das Lied des Mose sein, wie das Zeugnis der Evangelien und der Apostelgeschichte. Also eine Geschichte, die in der Lage ist, die Segnungen Gottes mit innerer Ergriffenheit und unsere Verfehlungen mit Redlichkeit in Erinnerung zu rufen. Es wäre schön, wenn es im Katechismusunterricht von Anfang an auch die Gewohnheit gäbe, durch die gelebte Erfahrung der alten Menschen das klare Bekenntnis der von Gott empfangenen Segnungen zu hören, die wir bewahren müssen, und das redliche Zeugnis unserer Vergehen gegen die Treue, die wir wiedergutmachen und korrigieren müssen. Die alten Menschen treten in das Gelobte Land ein, das Gott für jede Generation wünscht, wenn sie den jungen Menschen die schöne Initiation ihres Zeugnisses anbieten und die Geschichte des Glaubens weitergeben, des Glaubens im Dialekt, in jenem vertrauten Dialekt, der von den alten auf die jungen Menschen übergeht. Dann treten, geführt von Jesus, dem Herrn, alte und junge Menschen gemeinsam in sein Reich des Lebens und der Liebe ein. Aber alle gemeinsam. Alle in der Familie, mit diesem großen Schatz des Glaubens, weitergegeben im Dialekt.
Nach der Katechese und Grüßen in verschiedenen Sprachen gedachte der Papst der Kriegsopfer und mahnte zum Frieden:
Ich möchte eine Minute Zeit nehmen, um der Kriegsopfer zu gedenken. Die Nachrichten über die vertriebenen Menschen, die Menschen auf der Flucht, die getöteten Menschen, die verletzten Menschen, die vielen gefallenen Soldaten auf beiden Seiten, sind Todesnachrichten. Bitten wir den Herrn des Lebens, dass er uns von diesem Tod durch den Krieg befreien möge. Mit dem Krieg verliert man alles, alles. Es gibt keinen Sieg in einem Krieg: Alles erleidet eine Niederlage. Möge der Herr seinen Geist senden, damit er uns verstehen lässt, dass der Krieg eine Niederlage für die Menschheit ist, dass er uns verstehen lässt, dass man den Krieg vielmehr besiegen muss. Der Geist des Herrn befreie uns alle von diesem Bedürfnis nach Selbstzerstörung, das zum Ausdruck kommt, wenn man einen Krieg führt. Beten wir auch, dass die Regierenden verstehen mögen, dass Waffen zu kaufen und Waffen herzustellen nicht die Lösung des Problems ist. Die Lösung ist, sich gemeinsam für den Frieden einzusetzen und, wie es in der Bibel heißt, die Waffen zu Werkzeugen für den Frieden zu machen. Beten wir gemeinsam zur Gottesmutter: Gegrüßet seist du, Maria…
(Orig. ital. in O.R. 23.3.2022)