Heute ist der 75. Jahrestag der Veröffentlichung der Apostolischen Konstitution Provida Mater Ecclesia, in der mein Vorgänger Pius XII. die Form des Zeugnisses anerkannt hat, die sich, vor allem ab den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, unter besonders engagierten katholischen Laien verbreitet hat.
Ein Jahr später, am 12. März 1948, fügte derselbe Papst mit dem Motu proprio Primo feliciter einen wichtigen Interpretationsschlüssel hinzu: gegenüber Provida Mater, das Euch einfach als »Institute« bezeichnete, fügte das Motu proprio hinzu, dass die besondere Identität Eures Charismas der Säkularität entspringt, die als »Existenzgrund« der Institute selbst bezeichnet wurde (Primo feliciter, 5). So wurde dieser Berufungsform der Weihe in der Welt die volle Legitimation verliehen. Wie ich Euch bereits vor fünf Jahren gesagt habe, denke ich auch weiterhin, dass jenes Dokument »in gewissem Sinne revolutionär« war (Botschaft an die Italienische Konferenz der Säkularinstitute, 23. Oktober 2017).
Liebe Schwester, seit Provida Mater scheinen mehr als 75 Jahre vergangen zu sein, wenn wir auf die Veränderungen blicken, die in der Kirche stattgefunden haben, sowie auf die Entwicklungen vieler kirchlicher Bewegungen und Gemeinschaften mit Charismen, die dem Euren ähnlich sind. Ich weiß, dass Ihr derzeit mit großem Engagement die nächs-te Generalversammlung vorbereitet, die im August stattfinden wird, und deren Arbeiten ich gerne, so Gott will, abschließen werde. Ich möchte Euch jedoch bereits jetzt für Euren Dienst und für Euer Zeugnis danken. Ich möchte Euch einladen, insbesondere in den kommenden Monaten, in besonderer Weise den Heiligen Geist anzurufen, auf dass er bei jedem Mitglied der Säkularinstitute die kreative und prophetische Kraft erneuern möge, die sie zu einem so großen Geschenk für die Kirche vor und nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil gemacht haben.
Eine große Herausforderung stellt die Beziehung zwischen Säkularität und Weihe dar; ihr seid aufgerufen, diese Aspekte zusammenzuhalten. Denn aufgrund Eurer Weihe kann es leicht geschehen, dass Ihr Euch den Ordensleuten angleicht, aber ich möchte, dass Eure anfängliche Prophetie, insbesondere der Taufcharakter, der die laikalen Säkularinstute prägt, Euch kennzeichnet. Liebe Mitglieder der laikalen Säkularinstitute, seid beseelt von dem Wunsch, eine »heilige Laizität« zu leben, denn Ihr seid eine laikale Einrichtung. Ihr seid eines der ältesten Charismen, und Euch wird die Kirche immer brauchen. Eure Weihe darf jedoch nicht mit dem Ordensleben verwechselt werden. Die Taufe stellt die erste und radikalste Form der Weihe dar.
Im alten Kirchengriechisch pflegte man die getauften Gläubigen als »Heilige« zu bezeichnen. Sowohl der griechische Begriff »hagios« als auch der lateinische Begriff »sanctus« beziehen sich nicht so sehr auf das »Gute« an sich, sondern auf das, »was Gott gehört«. In diesem Sinne spricht der heilige Paulus von den Christen von Korinth als »hagioi«, trotz ihrer Unruhen und Streitigkeiten: nicht um auf irgendeine menschliche Form der Vollkommenheit hinzuweisen, sondern auf die Zugehörigkeit zu Christus. Jetzt gehören wir durch die Taufe zu ihm. Wir gründen auf einer unvergänglichen Gemeinschaft mit Gott und untereinander. Diese unwiderrufbare Vereinigung ist die Wurzel jeder Heiligkeit, und sie ist auch die Kraft, uns unsererseits von der Weltlichkeit zu trennen. Die Taufe ist also die Quelle jeder Form der Weihe.
Andererseits sind die Gelübde das Siegel Eures Einsatzes für das Reich Gottes. Und gerade diese ungeteilte Hingabe an das Reich Gottes gestattet Euch, die ursprüngliche Berufung der Welt, im Dienst des Weges der Heiligung des Menschen zu stehen, zu offenbaren. Das Besondere am Charisma der Säkularinstitute ruft Euch auf, radikal und gleichzeitig frei und kreativ zu sein, um vom Heiligen Geist den besten Weg anzunehmen, das christliche Zeugnis zu leben. Ihr seid Institute, aber institutionalisiert Euch nie!
Die Säkularität, euer Merkmal, verweist auf eine genau umschriebene Weise, in der Kirche und in der Welt gegenwärtig zu sein, die dem Evangelium entspricht: als Samen, Sauerteig. Manchmal wurde das Wort »Anonyme« gebraucht, um über die Mitglieder der Säkularinstitute zu sprechen. Ich sage lieber, dass Ihr in den Wirklichkeiten »verborgen« seid, genau wie das Samenkorn in der Erde und der Sauerteig in der Masse. Und von einem Samenkorn oder vom Sauerteig kann man nicht sagen, dass sie »anonym« seien. Das Samenkorn ist Vorbedingung des Lebens, der Sauerteig ist eine wesentliche Zutat, um das Brot schmackhaft zu machen. Ich lade Euch daher ein, den Sinn und die Weise Eurer Gegenwart in der Welt zu vertiefen und in Eurer Weihe die Schönheit und den Wunsch zu erneuern, an der Verklärung der Wirklichkeit teilzuhaben.
Es gibt einen neuen Schritt, der getan werden muss. Ursprünglich habt Ihr Euch entschlossen, »aus der Sakristei aufzubrechen«, um Jesus in die Welt zu bringen. Heute muss die Aufbruchsbewegung vervollständigt werden durch ein Bemühen, die Welt (nicht die Weltlichkeit!) in der Kirche gegenwärtig zu machen. Viele wesentliche Fragen sind mit Verspätung auf die Schreibtische der Bischöfe und der Theologen gelangt. Ihr habt zahlreiche Veränderungen im Voraus gelebt. Eure Erfahrung hat die Kirche jedoch noch nicht genügend bereichert. Die prophetische Bewegung, die Euch heute herausfordert, ist der nächste Schritt nach dem, der euch entstehen ließ. Das bedeutet nicht, in die Sakris-tei zurückzukehren, sondern »empfangsbereite Antennen, die Botschaften übermitteln«, zu sein. Gern wiederhole ich es: »Ihr seid gleichsam ›Antennen‹, die bereit sind, aufkeimende Neuheiten zu erfassen, die vom Heiligen Geist erweckt werden, und könnt der kirchlichen Gemeinschaft helfen, diesen guten Blick anzunehmen und neue und mutige Wege zu finden, um alle zu erreichen« (Ansprache an die Teilnehmer der von der Italienischen Konferenz der Säkularinstitute veranstalteten Begegnung, 10. Mai 2014).
In der Enzyklika Fratelli tutti habe ich in Erinnerung gerufen, dass der soziale und ökologische Verfall, in dem die Welt sich heute befindet (vgl. Kap. I), auch Folge einer falschen Art ist, die Religiosität zu leben (vgl. Kap. II). Das hebt der Herr durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter hervor, in dem er nicht die Bosheit der Räuber und der Welt anklagt, sondern eine gewisse selbstbezogene und verschlossene, abstrakte und gleichgültige religiöse Denkweise. Ich betrachte Euch als ein Gegenmittel dazu. Die geweihte Säkularität ist ein prophetisches Zeichen, das dazu aufruft, die Liebe des Vaters mehr mit dem Leben als mit Worten zu offenbaren, sie täglich auf den Straßen der Welt zu zeigen. Heute ist nicht so sehr die Zeit überzeugender Diskurse; es ist vor allem die Zeit des Zeugnisses. Denn während die Apologie spaltet, zieht die Schönheit des Lebens an. Seid anziehende Zeugen!
Die geweihte Säkularität ist aufgerufen, die Bilder vom Sauerteig und vom Salz aus dem Evangelium in die Praxis umzusetzen. Seid Sauerteig der Wahrheit, der Güte und der Schönheit, indem Ihr mit den Brüdern und Schwestern, die bei Euch sind, eine feste Gemeinschaft bildet, denn nur die Geschwis-terlichkeit besiegt das Virus des Individualismus (vgl. Fratelli tutti, 105). Und seid Salz, das Geschmack gibt, denn ohne Geschmack, Verlangen und Staunen bleibt das Leben fade und die Initiativen unfruchtbar. Das wird Euch helfen, Euch daran zu erinnern, wie sehr Nahsein und Nähe die Wege Eurer Glaubwürdigkeit gewesen sind, und wie die Professionalität Euch »Autorität nach dem Evangelium« am Arbeitsplatz gegeben hat.
Liebe Schwester, Ihr habt das Geschenk einer Prophetie empfangen, die das Zweite Vatikanische Konzil »vorausgenommen« hat; es hat den Reichtum Eurer Erfahrung angenommen. Der heilige Paul VI. hat gesagt: »Ihr seid ein fortschrittlicher Flügel der Kirche in der Welt« (Ansprache an den Internationalen Kongress der Leiter der Säkularinstitute, 20. September 1972). Ich bitte Euch heute, diesen Geist der Vorausnahme des Weges der Kirche zu erneuern, Wächter zu sein, die in die Höhe und nach vorn schauen, mit dem Wort Gottes im Herzen und der Liebe zu den Brüdern und Schwestern in den Händen. Ihr seid in der Welt, um zu bezeugen, dass sie von Gott geliebt und gesegnet ist. Ihr seid geweiht für die Welt, die auf Euer Zeugnis wartet, um zu einer Freiheit zu gelangen, die Freude schenkt, die Hoffnung nährt, die die Zukunft vorbereitet. Dafür danke ich Euch von Herzen und segne Euch, und ich bitte Euch, weiter für mich zu beten.
Gegeben zu Rom,
Sankt Johannes im Lateran,
am 2. Februar 2022
(Orig. ital. in O.R. 2.2.2022)