Liebe Brüder in Christus!
Innerlich bewegt und mit Freude begegne ich euch, den Vertretern der verschiedenen christlichen Kirchen im Irak, wieder hier in Rom, ein Jahr nach dem für mich unvergess-lichen Besuch in eurem Land. Durch euch möchte ich meinen herzlichen Gruß an alle Hirten und Gläubigen eurer Gemeinschaften richten, indem ich mir die Worte des Apos-tels Paulus zu eigen mache: »Gnade sei mit euch und Friede von Gott« (Röm 1,7).
Regionen der Anfänge
Eure Regionen sind Regionen der Anfänge: Anfänge der antiken Kulturen des Nahen Ostens, Anfänge der Heilsgeschichte, Anfänge der Geschichte der Berufung Abrahams. Es sind auch Regionen der christlichen Anfänge: der ersten Missionen, dank der Verkündigung des Apostels Thomas, von Addai und Mari und ihren Jüngern, nicht nur in Mesopotamien, sondern bis in den Fernen Osten. Es sind jedoch auch Regionen der Vertriebenen: Denken wir an das Exil der Juden in Ninive und in Babylonien, von denen uns die Propheten Jeremia, Ezechiel und Daniel berichten, die die Hoffnung des aus seinem Land entwurzelten Volkes aufrechterhalten. Aber auch viele Christen eurer Region wurden ins Exil gezwungen: Die Verfolgungen und die Kriege, die bis in unsere Tage aufeinander gefolgt sind, haben viele von ihnen zur Auswanderung gezwungen, die dann das Licht des christlichen Ostens in den Westen getragen haben.
Liebe Brüder, wenn ich diese Episoden der biblischen und christlichen Geschichte eures Landes in Erinnerung rufe, dann darum, weil sie der gegenwärtigen Situation nicht fremd sind. Eure Gemeinschaften gehören zur ältes-ten Geschichte des Iraks und haben wirklich tragische Zeiten kennengelernt, aber sie haben mutige Zeugnisse der Treue zum Evangelium gegeben. Dafür danke ich Gott und bringe euch meine Anerkennung zum Ausdruck. Ich verneige mich vor dem Leiden und dem Martyrium jener, die den Glauben bewahrt haben, auch um den Preis des Lebens. So wie das Blut Christi, das aus Liebe vergossen wurde, Versöhnung gebracht hat und die Kirche gedeihen ließ, so möge das Blut dieser zahlreichen Märtyrer unserer Zeit, die verschiedenen Traditionen angehören, aber in dem einen Opfer vereint sind, Samenkorn der Einheit unter den Christen und Zeichen eines neuen Frühlings des Glaubens sein.
Eure Kirchen haben durch die geschwis-terlichen Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, zahlreiche Bande der Zusammenarbeit im Bereich der Seelsorge, der Ausbildung und des Dienstes an den Armen geknüpft. Heute gibt es eine tief verwurzelte Gemeinschaft unter den Christen des Landes. Ich möchte euch ermutigen, diesen Weg fortzusetzen, damit durch konkrete Initiativen, einen beständigen Dialog und – was am meis-ten zählt – geschwisterliche Liebe Schritte voran zur vollen Einheit gemacht werden. Mögen die Christen inmitten eines Volkes, das viel Zerrissenheit und Zwietracht erlitten hat, als prophetisches Zeichen der Einheit in der Vielfalt erstrahlen.
Meine Lieben, gemeinsam mit euch möchte ich noch einmal betonen, dass es nicht möglich ist, sich den Irak ohne die Christen vorzustellen. Diese Überzeugung gründet nicht nur auf einem religiösen Fundament, sondern auf sozialen und kulturellen Tatsachen. Der Irak ohne die Christen wäre nicht mehr der Irak, denn die Christen tragen, zusammen mit anderen Gläubigen, stark zur besonderen Identität des Landes bei: ein Ort, an dem das Zusammenleben, die Toleranz und die gegenseitige Annahme von den ers-ten Jahrhunderten an gediehen sind; ein Ort, der die Berufung hat, im Nahen Osten und in der Welt das friedliche Zusammenleben der Unterschiede aufzuzeigen. Nichts darf daher unversucht gelassen werden, damit die Christen weiterhin spüren, dass der Irak ihr Zuhause ist und dass sie vollberechtigte Bürger sind, aufgerufen, ihren Beitrag zu leisten zu der Region, in der sie immer gelebt haben (vgl. Gemeinsame Erklärung von Papst Franziskus und Katholikos-Patriarch Mar Gewargis III., 9. November 2018, Nr. 6). Daher, liebe Brüder, Hirten des Gottesvolkes, seid stets darum bemüht, der Herde beizustehen und sie zu trösten. Seid den Gläubigen, die eurer Fürsorge anvertraut sind, nahe und bezeugt vor allem durch das Vorbild und durch die Lebensführung nach dem Evangelium die Nähe und die Zärtlichkeit Jesu, des guten Hirten.
Ihr Christen im Irak, die ihr von apostolischer Zeit an Seite an Seite mit anderen Religionen lebt, habt insbesondere heute eine weitere unverzichtbare Berufung: Setzt euch dafür ein, dass die Religionen im Dienst der Geschwisterlichkeit stehen. Denn es »leisten die verschiedenen Religionen einen wertvollen Beitrag zum Aufbau von Geschwisterlichkeit und zur Verteidigung der Gerechtigkeit in der Gesellschaft« (Enzyklika Fratelli tutti, 271). Ihr wisst gut, dass der interreligiöse Dialog keine Frage reiner Höflichkeit ist. Nein, er geht darüber hinaus. Er ist keine Frage der Verhandlung oder der Diplomatie. Nein, er geht darüber hinaus. Er ist ein Weg der Geschwisterlichkeit, der auf den Frieden ausgerichtet ist, ein oft mühsamer Weg, den Gott jedoch, besonders in diesen Zeiten, verlangt und segnet. Er ist ein Weg, der Geduld und Verständnis erfordert. Aber er lässt uns als Christen wachsen, weil er die Offenheit des Herzens und das Bemühen, konkret Friedensstifter zu sein, verlangt.
Dialog gegen Extremismus
In Dialog zu treten ist auch das beste Gegenmittel zum Extremismus, der eine Gefahr für die Anhänger jeder Religion und eine schwere Bedrohung für den Frieden ist. Man muss sich jedoch dafür einsetzen, die tieferen Ursachen der Fundamentalismen auszurotten – jener Extremismen, die dort leichter um sich greifen, wo materielle und kulturelle Armut sowie Bildungsarmut herrschen. Sie werden genährt von Situationen der Ungerechtigkeit und der Unsicherheit, wie jene, die von den Kriegen hinterlassen werden. Und wie viele Kriege, wie viele Konflikte, wie viele unheilvolle Eingriffe haben euer Land heimgesucht! Es braucht eine unabhängige und zusammenhängende Entwicklung, ohne dass ihm – wie es leider allzu oft geschehen ist – von ausländischen Interessen Schaden zugefügt wird. Euer Land hat seine eigene Würde, seine eigene Freiheit und darf nicht zu einem Kriegsschauplatz reduziert werden.
Liebe Brüder in Christus, ihr sollt wissen, dass ihr in meinem Herzen und in den Gebeten sehr vieler Menschen seid. Lasst euch nicht entmutigen: Während viele, auf verschiedenen Ebenen, den Frieden bedrohen, wenden wir den Blick nicht ab von Jesus, dem Fürsten des Friedens. Und wir dürfen nicht müde werden, seinen Geist anzurufen, den Urheber der Einheit. Der heilige Ephräm hat, auf der Linie des heiligen Cyprian, die Einheit der Kirche mit dem »nahtlosen und ungeteilten Untergewand« Christi verglichen (vgl. Hymnen auf die Kreuzigung, VI,6). Obgleich er brutal der Kleider beraubt wurde, blieb sein Untergewand ungeteilt. Auch in der Geschichte bewahrt der Geist Christi die Einheit der Gläubigen, trotz unserer Spaltungen. Bitten wir die Allerheiligste Dreifaltigkeit, Vorbild der wahren Einheit, die keine Gleichförmigkeit ist, die Gemeinschaft unter uns und zwischen unseren Kirchen zu stärken. So können wir dem sehnlichen Wunsch des Herrn entsprechen, dass seine Jünger »eins sein« sollen (Joh 17,21)!
Ich danke euch von Herzen, dass ihr gekommen seid, und ich schlage euch jetzt vor, gemeinsam das Gebet des Herrn zu sprechen, jeder in seiner eigenen Sprache.
(Orig. ital. in O.R. 28.2.2022)