Audienz für die Bürgermeister des Nationalen Verbandes der Italienischen Gemeinden (ANCI)

Der Traum von einer besseren Stadt

 Der Traum von einer besseren Stadt  TED-011
18. März 2022

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag und herzlich willkommen!

Ich danke dem Präsidenten für seine Worte zur Begrüßung. Ich freue mich, euch für einen Augenblick der Reflexion über euren Dienst zum Schutz und zur Förderung des Gemeinwohls in den Städten und Gemeinden, die ihr verwaltet, zu empfangen. Durch euch grüße ich die Bürgermeister im gesamten Staatsgebiet, mit dankbarer Anerkennung insbesondere für das, was ihr in diesen zwei Jahren der Pandemie getan habt und auch weiterhin tut. Eure Anwesenheit war entscheidend, um die Menschen zu ermutigen, weiterzumachen und nach vorn zu schauen. Ihr wart ein Bezugspunkt, wenn es darum ging, Bestimmungen durchzusetzen, die manchmal belastend, aber für die Gesundheit der Bürger notwendig waren. Ja, eure Stimme hat auch denen geholfen, die legislative Verantwortung trugen, zügige Entscheidungen zum Wohle aller zu treffen. Danke!

Wenn ich an eure Arbeit denke, werde ich mir bewusst, wie schwierig sie ist. Neben tröstlichen Momenten stehen viele Schwierigkeiten. Denn einerseits ist eure Nähe zu den Menschen eine großartige Gelegenheit, den Bürgern zu dienen, die euch mögen, und um mitten unter ihnen gegenwärtig zu sein. Die Nähe. Andererseits kann ich mir vorstellen, dass ihr zuweilen die Einsamkeit der Verantwortung spürt. Oft meinen die Menschen, dass Demokratie darauf beschränkt sei, durch die Wahlstimme etwas zu delegieren, und vergessen das Prinzip der Teilhabe, das wesentlich ist, damit eine Stadt gut verwaltet werden kann. Es wird verlangt, dass die Bürgermeister die Lösung für alle Probleme haben! Diese werden jedoch – wie wir wissen – nicht gelöst, indem man nur auf die finanziellen Ressourcen zurückgreift. Wie wichtig ist es, auf das Vorhandensein solidarischer Netzwerke zählen zu können, die Sachkenntnisse zur Verfügung stellen, um ihnen zu begegnen! Die Pandemie hat zahlreiche Schwächen zutage treten lassen, aber auch die Großherzigkeit der ehrenamtlichen Helfer, Nachbarn, Mitarbeiter im Gesundheitswesen und in der Verwaltung, die sich dafür eingesetzt haben, die Leiden und die Einsamkeit armer und alter Menschen zu lindern. Dieses Netzwerk solidarischer Beziehungen ist ein Reichtum, der bewahrt und gestärkt werden muss.

Im Hinblick auf euren Dienst möchte ich euch drei Worte zur Ermutigung anbieten: Vaterschaft – oder Mutterschaft –, Randgebiete und Frieden.

»Vaterschaft oder Mutterschaft«. Der Dienst am Gemeinwohl ist eine hohe Form der Liebe, vergleichbar mit der Liebe der Eltern in einer Familie. Auch in einer Stadt muss man verschiedenen Situationen auf verschiedene Weise Aufmerksamkeit widmen; die Vaterschaft – oder Mutterschaft – wird daher vor allem durch das Zuhören ausgeübt. Der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin kann zuhören. Habt keine Angst, »Zeit zu verlieren«, indem ihr die Menschen und ihre Probleme anhört! Gutes Zuhören hilft bei der Entscheidungsfindung, um zu verstehen, wo die Prioritäten liegen, denen man sich widmen muss. Gottlob fehlt es nicht an Zeugnissen von Bürgermeistern, die einen Großteil der Zeit damit verbracht haben, den Menschen zuzuhören und sich ihrer Sorgen anzunehmen.

Und mit dem Zuhören darf nicht der Mut fehlen, Phantasie zu entwickeln. Manchmal erliegt man der Täuschung, dass entsprechende Geldmittel genügen würden, um die Probleme zu lösen. Das stimmt nicht, in Wirklichkeit bedarf es auch eines Projekts des zivilen Zusammenlebens und der Staatsbürgerlichkeit: Man muss in Schönheit inves-tieren, wo Verwahrlosung vorherrscht; in Bildung, wo soziale Schwachheit herrscht; in Orte sozialer Integration, wo man gewaltsame Reaktionen erlebt; in Unterweisung zur Legalität, wo Korruption herrscht. Von einer besseren Stadt träumen zu können und den Traum mit den anderen Gebietsverwaltern, mit den Abgeordneten im Gemeinderat und mit allen Bürgern guten Willens zu teilen, ist ein Zeichen von sozialer Fürsorge. Das ist im Wesentlichen die Aufgabe des Bürgermeisters und der Bürgermeisterin.

Das zweite Wort ist »Randgebiete«. Es muss uns nachdenklich stimmen, dass Jesus in einem Stall in Betlehem geboren und au-ßerhalb der Stadtmauern von Jerusalem auf Golgota gestorben ist. Das erinnert uns daran, dass die »Zentralität« der Randgebiete dem Evangelium entspricht. Ich sage immer wieder gern, dass man von den Randgebieten her das Ganze besser sieht: nicht vom Mittelpunkt, sondern von den Randgebieten her. Oft verspürt ihr das Drama, das man in heruntergekommenen Randgebieten erlebt, wo die soziale Verwahrlosung Gewalt und Formen der Ausgrenzung erzeugt. Von den Randgebieten auszugehen, bedeutet nicht, jemanden auszuschließen. Es ist eine methodische Entscheidung; es ist keine ideologische Entscheidung, sondern die Entscheidung, von den Armen auszugehen, um dem Wohl aller zu dienen. Ihr wisst sehr gut: Es gibt keine Stadt ohne arme Menschen. Ich würde hinzufügen, dass die Armen der Reichtum einer Stadt sind. Das mag einigen zynisch erscheinen, aber das ist es nicht. Sie – die Armen – rufen uns unsere Schwächen in Erinnerung sowie die Tatsache, dass wir einander brauchen. Sie rufen uns auf zur Solidarität, die ein tragender Wert der Soziallehre der Kirche ist, der vom heiligen Johannes Paul II. besonders entfaltet wurde.

In der Zeit der Pandemie haben wir Formen der Einsamkeit und häusliche Konflikte entdeckt, die verborgen waren; das Drama derer, die ihre wirtschaftliche Tätigkeit aufgeben mussten; die Isolierung der alten Menschen; die Niedergeschlagenheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen – denkt an die Zahl der Selbstmorde junger Menschen! –; die soziale Ungleichheit, die jene begüns-tigt hat, die schon in gutsituierten wirtschaftlichen Verhältnissen lebten; die Mühsal von Familien, deren Geld nicht bis zum Ende des Monats reicht… Und auch – ich erlaube mir, sie zu erwähnen – die Wucherer, die an die Türen klopfen. Und das geschieht in den Städten, zumindest hier in Rom. Wie vielen Leiden seid ihr begegnet! Man muss den Randgebieten jedoch nicht nur helfen, sondern sie müssen in Laboratorien einer anderen Wirtschaft und Gesellschaft verwandelt werden. Denn wenn wir mit den Gesichtern der Menschen zu tun haben, dann genügt es nicht, Lebensmittelpakete zu verteilen. Ihre Würde verlangt nach Arbeit, also nach einem Projekt, in dem jeder für das wertgeschätzt wird, was er den anderen anbieten kann. Die Arbeit ist wirklich eine Salbung mit Würde! Der sicherste Weg, einem Menschen oder einem Volk die Würde zu nehmen, ist, ihm die Arbeit zu nehmen. Es geht nicht darum, das Brot nach Hause zu »bringen«: Das gibt dir keine Würde. Es geht darum, das Brot, das du nach Hause bringst, zu »verdienen«. Und das ja, das salbt dich mit Würde.

Das dritte Wort: »Friede«. Eine Weisung, die Jesus den Jüngern gab, als er sie aussandte, ist die, Frieden in die Häuser zu bringen: »Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als Ers-tes: Friede diesem Haus!« (Lk 10,5). Im häuslichen Bereich erlebt man viele Konflikte, es braucht Ruhe und Frieden. Und wir dürfen uns sicher sein, dass die gute Qualität der Beziehungen die wahre soziale Sicherheit in einer Stadt ist. Daher gibt es eine historische Aufgabe, die alle einbezieht: ein gemeinsames Wertegefüge zu schaffen, das dazu führt, Spannungen zwischen den kulturellen und sozialen Unterschieden abzubauen. Die Politik, deren Hauptakteure ihr seid, muss mehr der Einübung des Dialogs zwischen den Kulturen als der Verhandlung zwischen verschiedenen Gruppierungen dienen. Der Friede ist nicht die Abwesenheit von Konflikt, sondern die Fähigkeit, ihn zu einer neuen Form der Begegnung und des Zusammenlebens mit dem anderen werden zu lassen. »Wenn ein Konflikt entsteht, schauen einige nur zu und gehen ihre Wege, als ob nichts passiert wäre. Andere gehen in einer Weise darauf ein, dass sie zu seinen Gefangenen werden […] Es gibt jedoch eine dritte Möglichkeit, und dies ist der beste Weg […]: Es ist die Bereitschaft, den Konflikt zu erleiden, ihn zu lösen und ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Prozesses zu machen. ›Selig, die Frieden stiften‹ (Mt 5, 9)« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 227). Der Konflikt ist gefährlich, wenn er in sich selbst verschlossen bleibt. Wir dürfen Krise und Konflikt nicht miteinander verwechseln. Zum Beispiel hat die Pandemie uns in eine Krise geführt, das ist gut. Die Krise ist gut, denn die Krise lässt dich nach Lösungen suchen und Schritte nach vorn tun. Schlecht ist es jedoch, wenn die Krise zum Konflikt wird und der Konflikt geschlossen ist, der Konflikt Krieg ist, der Konflikt nur schwer eine Lösung findet, durch die es vorangeht. Krise ja, Konflikt nein. Konflikte meiden, aber in Krisen leben.

Der soziale Friede ist Frucht der Fähigkeit, Berufungen, Sachkenntnisse, Ressourcen zu vereinen. Es ist grundlegend, den Unternehmergeist und die Kreativität der Menschen zu fördern, damit sie bedeutsame Beziehungen innerhalb der Stadtteile knüpfen können. Viele kleine Verantwortungen sind die Voraussetzung für eine konkrete Befriedung, die Tag für Tag aufgebaut wird. Es ist gut, hier das Prinzip der Subsidiarität in Erinnerung zu rufen, das den Körperschaften Wert verleiht und die freie persönliche Initiative nicht unterdrückt.

Liebe Brüder und Schwestern, ich ermutige euch, den Menschen auch weiterhin nahe zu sein. Denn eine Versuchung besteht darin, vor Verantwortung zu fliehen. Sich abzukapseln, zu fliehen… Sich abzukapseln ist eine Form der Flucht. Der heilige Johannes Chrysostomus, ein Bischof und Kirchenvater, mahnte gerade im Hinblick auf diese Versuchung, sich für die anderen einzusetzen statt auf den Bergen zu bleiben und gleichgültig auf sie herabzublicken. Sich einsetzen. Das ist eine Lehre, die bewahrt werden muss, vor allem dann, wenn wir Gefahr laufen, uns von Entmutigung und Enttäuschung ergreifen zu lassen. Ich begleite euch mit meinem Gebet und segne euch, ich segne euch alle: einen jeden in seinem Herzen, in seinem Beruf, ich segne eure Amtssitze, ich segne eure Mitarbeiter, eure Arbeit. Und ein jeder empfange diesen Segen, wie es dem eigenen Glauben angemessen ist. Und ich bitte euch, für mich zu beten, denn auch ich bin »Bürgermeister« von etwas! Danke.

(Orig. ital. in O.R. 5.2.2022)