Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Ich danke dem Rektor für seine an mich gerichteten Worte und heiße euch willkommen. Ich freue mich, dass gemeinsam mit euch Priestern auch diejenigen da sind, die mit ihrem Dienst das Leben des Priesterseminars gestalten und die große Familie des »Lombardium« bilden. Wir sehen uns heute wieder, aus Anlass des 100. Jahrestags der Wahl von Papst Pius XI., eures ehemaligen Alumnen – einer der ersten Alumnen! –, dem »sein liebes« Seminar immer am Herzen lag. Er stellte ihm das Areal zur Verfügung, wo ihr euch heute befindet, im Schatten der Salus popoli romani. Es ist schön, dass ihr dort seid, und es ist für mich auch Anlass, häufig an euch zu denken. Versuchen wir diesen mit Pius XI. in Verbindung stehenden Wurzeln einige Anregungen zu entnehmen: nicht, um nostalgisch zurückzublicken und uns der Neuheit des Heiligen Geistes zu verschließen, der uns auffordert, im Heute zu leben, sondern um die prophetischen Zeichen für euer geweihtes Amt und eure Sendung, insbesondere im Dienst an der Kirche und am italienischen Volk, aufzuspüren.
Gerade gewählt, entschied Pius XI., sich nicht mehr zum Inneren des Petersdoms hin zu zeigen, sondern auf der äußeren Loggia. Er wollte, dass sein erster Segen Urbi et Orbi gelten sollte, der Stadt Rom und dem ganzen Erdkreis. Und mit dieser Geste – ich glaube, man hat über 40 Minuten lang gearbeitet, um diesen Balkon zu öffnen, der seit Jahren nicht mehr geöffnet worden war, und auch um diesen Ort leerzuräumen, der ein Abstellraum geworden war; und er wartete –, mit dieser Geste erinnert er uns daran, dass man sich öffnen, den Horizont des Dienstes auf die Dimensionen der Welt erweitern muss, um jeden Sohn, jede Tochter zu erreichen, die Gott mit seiner Liebe umarmen will. Bitte, verbarrikadieren wir uns nicht in der Sakristei und pflegen wir nicht kleine geschlossene Grüppchen, wo wir uns »zusammenkuscheln« und in Ruhe gelassen werden wollen. Es gibt eine Welt, die auf das Evangelium wartet, und der Herr möchte, dass seine Hirten ihm gleichen, indem sie die Erwartungen und Lasten der Herde im Herzen und auf den Schultern tragen. Offene, mitleidsvolle, barmherzige Herzen.
Und das lässt mich an die Erfahrung denken, die ihr in Bezug auf die Beichtväter in Santa Maria Maggiore macht: »Geht zu dem oder dem… Zu dem nicht, bitte, er macht dir das Leben unmöglich!« Barmherzige Pries-ter für uns suchen und selbst barmherzig mit den anderen sein. So wie wir Barmherzigkeit wollen, wenn wir hingehen und um Vergebung für unsere Sünden bitten, und wir den barmherzigsten Priester suchen, so sollt auch ihr barmherzig sein. Zu allen. Vergesst nicht, dass Gott niemals müde wird zu vergeben. Wir sind es, die müde werden, um Vergebung zu bitten, aber er wird niemals müde zu vergeben. Diese Großherzigkeit in der Vergebung, ohne zu viele Probleme zu machen: Vergebung. Offene, mitleidsvolle, barmherzige Herzen, sagte ich, und tatkräftige, großzügige Hände, die sich beschmutzen und verwunden lassen aus Liebe, wie die Hände Jesu am Kreuz. So wird der priesterliche Dienst ein Segen Gottes für die Welt.
Jene Geste von Pius XI. war mehr wert als tausend Worte. Im Allgemeinen waren die Gesten Pius’ XI. mehr wert als tausend Worte, weil er ein Papst mit einer Persönlichkeit war, um es vornehm auszudrücken. In diesen Jahren studiert ihr und gewinnt vertieften Einblick, und das ist ein Geschenk Gottes. Aber euer Wissen soll nie abstrakt sein, entfernt vom Leben und der Geschichte. Eine Kirche, die viel zu sagen hat, aber deren Worte ohne Salbung sind und nicht das Fleisch der Menschen berühren, dient nicht dem Evangelium. Um Worte des Lebens zu haben, muss man das Wissen im Gebet dem Heiligen Geist unterordnen und dann die konkreten Situationen der Kirche und der Welt erleben. Ein Lebenszeugnis ist notwendig: Ihr sollt Priester sein, die von dem brennenden Wunsch erfüllt sind, das Evangelium auf die Straßen der Welt zu bringen, in die Stadtviertel, in die Häuser, vor allem an die Orte der Armen und Vergessenen. Das Zeugnis, die Gesten, wie jene erste Geste von Pius XI.
Eine zweite Anregung. In seiner ers-ten feierlichen Predigt sprach der Papst von den Missionen. Mehr als Antworten zu geben, forderte er dazu auf, sich eine Frage zu stellen: »Was kann ich dem Herrn schenken?« (Predigt am 300. Gründungstag der Kongregation »Propaganda Fide«, 4. Juni 1922). Das ist eine schöne Frage, die ihr auf alles anwenden könnt, was ihr jetzt tut, um euch auf die Mission vorzubereiten. Was kann ich geben, ist eine Frage, die nicht um euch kreist, um den Wunsch nach jenem Lehrstuhl, jener Pfarrei, jenem Posten an der Kurie: Nein, es ist eine Frage, die es erfordert, das Herz zu öffnen für die Verfügbarkeit und das Dienen. Es ist eine Frage, die uns vor dem Karrierismus schützt. Hütet euch vor dem Karrierismus, bitte! Letztendlich ist er nutzlos, er hilft nicht.
Fragen wir uns zu Beginn jeden Tages: »Was kann ich schenken?« Auch hier in Italien beschränkt sich der kirchliche Diskurs oftmals auf eine fruchtlose interne Dialektik zwischen Progressiven und Konservativen, zwischen dem, der den einen Politiker vorzieht, und dem, der den anderen vorzieht, und man vergisst den zentralen Punkt: Kirche sein, um das Evangelium zu leben und zu verbreiten. Sorgen wir uns nicht um die kleinen Hausgärtchen, es gibt eine ganze Welt, die nach Christus dürstet. Seid Hirten der Herde und keine Schafkämmer für die »Erlesenen« [Besten]! Ich fordere euch auf, in diesen Jahren und in dieser Stadt, in der universalen römischen und der lombardischen Dimension, voller Be-geisterung ein offenes Herz zu pflegen,
ein verfügbares Herz, ein missionarisches Herz!
Eine letzte Anregung möchte ich einer der zahlreichen Sozialenzykliken von Pius XI. entnehmen. Ich lese einige Worte, geschrieben vor fast einem Jahrhundert und dennoch höchst aktuell: »Am auffallendsten ist heute die geradezu ungeheure Zusammenballung nicht nur an Kapital, sondern an Macht und wirtschaftlicher Herrschgewalt in den Händen einiger weniger […] Zur Ungeheuerlichkeit wächst diese Vermachtung der Wirtschaft sich aus bei denjenigen, die als Beherrscher und Lenker des Finanzkapitals unbeschränkte Verfügung haben über den Kredit und seine Verteilung nach ihrem Willen bestimmen. Mit dem Kredit beherrschen sie den Blutkreislauf des ganzen Wirtschaftskörpers; das Lebenselement der Wirtschaft ist sozusagen in ihrer Hand« (Quadragesimo anno, 105-106). Das ist hart!
Wie wahr und wie tragisch ist all dies heute, während die Schere zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen immer weiter auseinandergeht. In diesem Kontext der Ungleichheiten, die die Pandemie noch verstärkt hat, werdet ihr als Priester des Zweiten Vatikanischen Konzils leben und wirken, als Zeichen und Werkzeuge
für die innigste Vereinigung der Menschen mit Gott und untereinander (vgl. Lumen gentium, 1). Daher sollt ihr Gemeinschaft knüpfen, Ungleichheit beseitigen und Hirten sein, die aufmerksam sind für Zeichen des Leidens im Volk. Auch durch das Wissen, das ihr jetzt erwerbt, sollt ihr kompetent
und mutig sein, indem ihr prophetische Worte im Namen derer sprecht, die keine Stimme haben.
Große Aufgaben erwarten euch. Um sie zu verwirklichen, lade ich euch ein, Gott darum zu bitten, von der Schönheit der Kirche zu träumen. Die Kirche ist schön! Die italienische Kirche der Zukunft zu erträumen, die dem Geist des Evangeliums treuer ist, die freier, geschwisterlicher und froher ist, wenn sie Zeugnis für Jesus gibt, beseelt von der Sehnsucht, denjenigen zu erreichen, der den »Gott allen Trostes« (2 Kor 1,3) noch nicht kennt. Eine italienische Kirche, die eine Gemeinschaft pflegt, die stärker ist als alle Unterschiede und die noch mehr Leidenschaft für die Armen hat, in denen Christus gegenwärtig ist. Der heilige Ambrosius und der heilige Karl mögen euch begleiten und die Salus populi behüte euch. Ich segne euch, und bitte betet ihr für mich. Danke!
(Orig. ital. in O.R. 7.2.2022)