Interview mit dem Apostolischen Nuntius in der Ukraine

Solidarität, die alle Erwartungen übertrifft

 Solidarität, die alle Erwartungen übertrifft  TED-010
11. März 2022

Erzbischof Visvaldas Kulbokas berichtet in einer Pause zwischen den Bombardierungen Kiews vom Wettstreit der Solidarität unter Christen, aber auch mit den Muslimen in der Stadt: Der Mufti hat uns Lebensmittel und Schutzraum in der Moschee angeboten, ich habe den Eindruck, dass die ungeheure Provokation, die der Krieg darstellt, uns die Vision von Menschen schenkt, die zu Brüdern und Schwes-tern werden.

Er läuft innerhalb der Nuntiatur mit einem Rucksack auf dem Rücken herum, »weil du nie weißt, wo du im nächsten Augenblick sein wirst…«: Wie die Mehrheit der Ukrainer kommuniziert auch Erzbischof Visvaldas Kulbokas dann, wenn Marschflugkörper und Bomben einmal eine Verschnaufpause gewähren. »Heute früh ist es relativ ruhig, man hat uns gesagt, dass man raus kann, um zu sehen, ob irgendein Laden offen ist.« Entscheidungen einer ganz normalen Unsicherheit für diejenigen, die ihre gewohnten Zeitabläufe und Gewohnheiten eingebüßt haben, um Flüchtlinge im eigenen Zuhause zu werden. Aber während rings um ihn ein Volk ums Überleben kämpft – und man hegt Hoffnungen im Hinblick auf die Verhandlungen, die an der Grenze zu Belarus in Gang gekommen
sind –, hat der Krieg im Herzen des Nuntius in der Ukraine den Funken einer »höheren« Vision zünden lassen. Eine tröstliche Vision, die Vision einer Menschheit – sei es die der Menschen in nächster Nähe oder jener, die am Allerweitesten entfernt sind – die zu einer Solidarität fähig ist, die alle Erwartungen übertrifft.

Exzellenz, die Ukraine lebt seit fünf Tagen im Kriegszustand. Wie reagiert die Bevölkerung?

Die Lage ist einerseits hochdramatisch: auch ich trage jetzt, wenn ich innerhalb der Nuntiatur von einem Raum in den anderen gehe, immer einen Rucksack, in dem ich alles Nötige habe, denn man weiß nie, wo man in den nächsten Augenblicken sein wird… Aber ich muss sagen, dass diese Situation auch Konsequenzen gehabt hat, die ich als wunderschön bezeichnen möchte. Hier in Kiew herrscht auf der Ebene der Gemeinden eine unglaubliche Solidarität – ich beziehe mich hier auf die katholische, auf die griechisch-katholische Gemeinschaft –, aber gestern haben wir auch den Sprecher der orthodoxen ukrainischen Kirche vom Patriarchat Moskau gehört, begleitet von Solidaritätsbekundungen gegenüber dem Land und den dort wohnenden Menschen. Außerdem haben wir mit dem Assistenten des Mufti der Ukraine telefoniert, und sie haben uns auch ihrerseits gesagt: Wenn Ihr irgend etwas benötigen solltet, dann haben wir hier in unserer Moschee Lebensmittel, einen Schutzraum organisiert… Auf konfessioneller, interreligiöser Ebene herrscht also eine enorme Solidarität, zu der sich auch noch eine enorme weltweite Solidarität hinzugesellt, zumindest seitens eines Großteils der Welt, und ich sehe sehr viel Aufmerksamkeit, ungeheuer viele Hilfsgüter, die gesammelt werden… Und vor allem Herzen: die Herzen, die uns nahe sind.

Also herrschen nicht nur Angst und Resignation…

Als gläubiger Mensch nehme ich eine für mich persönlich sehr wichtige Interpretation vor: Während wir hier sprechen, finden an der Grenze zwischen der Ukraine und Belarus Gespräche zwischen Ukrainern und Russen statt, aber der politische Dialog ist immer schwierig, weil verschiedene Interessen im Spiel sind. Ich hingegen lege das, was ich sehe, anders aus. Mir kommt in den Sinn, dass ich, wenn ich Gott wäre und ein hohes Maß an Solidarität zwischen den Menschen sähe – sie helfen sich gegenseitig, unterstützen sich, öffnen ihre Herzen, zeigen Liebe und Nähe –, mir sagen würde: Wie schön, dass die Menschen Brüder werden! Und die Schlussfolgerung wäre: Das war’s, die Prüfung ist bestanden, die Herausforderung des Dramas ist gemeistert, der Krieg ist nicht mehr nötig. Hier ist der Friede als Geschenk für euch. Selbst im großen Übel des Krieges gibt es Früchte der Bekehrung der Menschheit. Man hat den Eindruck, dass diese Geschwisterlichkeit innerhalb weniger Tage in enormem Ausmaß zugenommen hat. Ich habe mit den Ordensfrauen der Nuntiatur dar-über gesprochen und wir teilen diese sehr ermutigende Lesart dessen, was gerade geschieht.

Was ist in den letzten paar Stunden geschehen?

Heute ist ein besonderer Tag, weil sich die Armeen neu gruppieren. Wenigstens der ers-te Teil des Tages ist relativ ruhig. Es sind sogar Botschaften von der Regierung bei uns eingegangen, denen zufolge wer will, gehen kann, um zu sehen, ob das eine oder andere Geschäft offen ist, und jemand aus der Nuntiatur ist gegangen, um zu sehen, ob man sich mit diesem oder jenem eindecken kann. Wir haben eine kleine Verschnaufpause, aber dann wissen wir nicht, was in den nächsten Stunden geschehen wird... Sicher, auf dieser menschlichen Ebene handelt es sich um ein ungeheures Drama.

Von Alessandro De Carolis,
Vatican News