»Die Kinder spielten im sommerlichen Garten von Onkel Willi. Da rief dieser seine Neffen und Nichten zu sich. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Schüssel voll von frisch gepflückten Kirschen. Der Onkel verteilte die Kirschen. Dem Martin gab er drei, der Heike gab er fünfzehn, dem kleinen Peter gab er nur eine und sagte dazu: ›Ungerechtigkeit ist die Würze des Lebens‹«. Ein Freund erzählte mir diese Geschichte aus seiner Kindheit mit der ungewöhnlichen Erziehungsmethode seines Onkels. Natürlich hätten die Kinder die Kirschen untereinander gerecht aufteilen können, aber auf diesen Gedanken kamen sie nicht. Es gab nur betretene Gesichter.
Auch Jesus wählt eine ungewöhnliche Erziehungsmethode, als er seine Jünger und die Volksmenge auf dem freien Feld lehrte. Lukas erwähnt, dass Jesus betont an die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer appelliert, wenn er seine Ermahnungen einleitet mit den Worten: »Euch, die ihr zuhört, sage ich…« (V. 27). In dem Abschnitt selbst wiederholt Jesus bestimmte Sätze; zum einen »Liebet eure Feinde!« (V. 27b), »Ihr sollt eure Feinde lieben« (V. 35); zum anderen »Richtet nicht!«, »Verurteilt nicht!« (V. 37). Die Doppelung ist eine Figur der hebräischen Sprache, um eine Aussage besonders hervorzuheben. Aber was will uns Jesus damit sagen? Wenn wir auf unsere menschlichen Erfahrungen blicken, müssen wir uns eingestehen, dass es uns oft fast unmöglich ist, unsere Feinde wirklich zu lieben. In der Regel gehen wir ihnen aus dem Weg; aber bringen wir es fertig, sie aufrichtig zu lieben? Schaffen wir es, uns auf die Zunge zu beißen und nicht über die Mitmenschen zu urteilen?
»Euch, die ihr zuhört« leitet Jesus seine Rede ein. Er bittet uns, eine »Umkehr« unseres Denkens und Verhaltens zu vollziehen, uns auf ihn, das lebendige Wort Gottes, auszurichten, mit ihm in einen Dialog zu treten. »Wendet euch zu mir, so werdet ihr selig, aller Welt Enden; denn ich bin Gott und keiner mehr«, so kündet schon der Prophet Jesaja von der Gegenwart des Herrn (45,22 LUT). In der Gewissheit der Gegenwart Christi brauchen wir uns nicht vor den Menschen zu fürchten. Wir brauchen uns nicht durch unser Urteil von anderen abzugrenzen. Vielmehr vermögen wir selbst die, welche uns feindlich gesonnen sind, anzunehmen und einzuladen, teilzunehmen an der Gemeinschaft mit Christus, dem Erlöser der Welt. Und hier beginnt wahre Gerechtigkeit; denn, so sagt Jesus, »ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10).
Prälat Winfried König,
Leiter der deutschsprachigen Abteilung im Päpstlichen Staatssekretariat