Papst zu Gast bei »Che tempo che fa« auf Rai3

Die ganze Kirche hilft mir

 Die ganze Kirche hilft mir  TED-007
18. Februar 2022

Im Rahmen einer Talkshow im dritten staatlichen Fernsehkanal Italiens hat Papst Franziskus über sein kirchliches Engagement und über das Leid in der Welt gesprochen. Auf die Frage, wie es ihm gelinge, die Last so vieler Bitten und Schmerzen der Menschheit zu tragen, antwortete Franziskus: »Die ganze Kirche hilft mir.«

Fabio Fazio hat in Italien etwa denselben Stellenwert, wie ihn Markus Lanz oder Günther Jauch in Deutschland haben. Fazio moderiert am Sonntagabend auf Rai3, dem dritten Nationalsender Italiens, eine Sendung namens »Che tempo che fa« – auf Deutsch: »Wie die Zeiten so sind« –, und lädt dazu Politiker, Künstler und Persönlichkeiten öffentlichen Interesses ein. Am Sonntag, 6. Februar, um circa 21 Uhr wurde Papst Franziskus aus seinem Domizil Santa Marta dazugeschaltet. Es war das erste Mal, dass Franziskus an einer Talkshow in Italien teilnahm. Er hatte schon in einigen Sendungen telefonisch kurz gegrüßt oder Glückwünsche geäußert. Diesmal sprach er fast eine Stunde lang und stand dem Moderator Rede und Antwort.

Papst Franziskus sprach auf »Rai Tre«, wie die Italiener den Sender nennen, mit dem Moderator, der ihn zu vielen Themen befragte, über Kriege, Migranten, die Bewahrung der Schöpfung, die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, das Böse und das Leid, das Gebet, die Zukunft der Kirche, die Notwendigkeit von Freunden. Und Franziskus erklärte, dass Vergebung ein »Menschenrecht« sei. Wörtlich sagte er: »Die Fähigkeit, vergeben zu können, ist ein Menschenrecht. Wir alle haben das Recht auf Vergebung, wenn wir um Vergebung bitten.«

Der Blick richtete sich vor allem auf das dem Papst so wichtige Thema der Migration. Leider sei dieses Thema nach den jüngsten Nachrichten über die zwölf Migranten, die an der Grenze zwischen Griechenland und der Türkei erfroren aufgefunden wurden, immer noch aktuell. Für den Papst stellt dies »ein weiteres Zeichen für die Kultur der Gleichgültigkeit« dar, die er immer wieder anprangert. Und es sei auch »ein Problem der Kategorisierung«:

»Kriege stehen an erster Stelle, Menschen an zweiter Stelle. Ein Beispiel dafür ist der Jemen: Wie lange leidet der Jemen schon unter dem Krieg und wie lange sprechen wir schon über die Kinder des Jemen?«, fragte der Papst. »Es gibt Kategorien, die wichtig sind, und andere, die ganz unten stehen: Kinder, Migranten, Arme, Menschen, die nichts zu essen haben. Diese zählen nicht, zumindest zählen sie nicht in erster Linie, weil es Menschen gibt, die diese Menschen lieben, die versuchen, ihnen zu helfen, aber in der allgemeinen Vorstellung zählt der Krieg, der Verkauf von Waffen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten ein Jahr lang keine Waffen herstellen und könnten damit der ganzen Welt kos-tenlos Nahrung und Bildung zukommen lassen. Aber das steht im Hintergrund«, sagte Franziskus.

Apropos Krieg: Auf die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland angesprochen, erinnerte der Papst an die Wurzeln dieser schrecklichen Realität, die er als »Unsinn der Schöpfung« bezeichnete und die bis zur biblischen Genesis mit dem Krieg zwischen den Brüdern Kain und Abel sowie dem Krieg um den Turm von Babel zurückreichen würden. »Kriege zwischen Brüdern« traten kurz nach der Erschaffung von Mann und Frau durch Gott auf: »Es gibt so etwas wie einen Anti-Sinn der Schöpfung, deshalb ist Krieg immer Zerstörung. Zum Beispiel das Land zu bewirtschaften, Kinder zu betreuen, eine Familie zu gründen, die Gesellschaft wachsen zu lassen: das bedeutet etwas aufbauen. Krieg führen heißt zerstören. Das ist eine Mechanik der Zerstörung.«

Ähnlich engagiert sprach sich der Papst für die Bewahrung der Schöpfung aus: »Es ist eine Erziehung, die wir lernen müssen.« Der Alarm komme vom Amazonas mit seinen Problemen der Abholzung, des Sauerstoffmangels und der Klimaveränderungen: »Wir riskieren den Tod der biologischen Vielfalt, wir riskieren, die Mutter Erde zu töten«, so Franziskus. Der Papst berief sich auf jene Haltung der »Fürsorge«, die auch aus sozialer Sicht zu versagen scheine. Was man heute erlebe, sei tatsächlich ein Problem der »sozialen Aggression«, wie das Phänomen des Mobbing zeige: »Diese unsere Aggressivität muss erzogen werden. Aggressivität ist an sich nichts Negatives, denn es braucht Aggressivität, um die Natur zu beherrschen, voranzukommen, aufzubauen, es gibt sozusagen eine positive Aggressivität. Aber es gibt eine destruktive Aggressivität, die mit einer sehr kleinen Sache beginnt, aber ich möchte sie hier erwähnen: Sie beginnt mit der Zunge, dem Geschwätz. Aber Geschwätz, in Familien, in Nachbarschaften, zerstört. Es zerstört ›Identität‹.«

Zum Thema Nähe erinnerte der Moderator an den bekannten Satz des Papstes: »Ein Mann kann nur dann auf einen anderen herabblicken, wenn er ihm beim Aufstehen hilft.« Franziskus vertiefte das Konzept: »Es ist wahr«, – sagte er – »in der Gesellschaft sehen wir, wie einige mitunter auf andere Menschen herabblicken, um sie zu beherrschen, zu unterwerfen und ihnen nicht beim Aufstehen zu helfen«.

Das Gespräch berührte auch den Begriff der Freiheit, die ein Geschenk Gottes sei, aber »ebenso imstande ist, so viel Schaden anzurichten«. »Da Gott uns frei gemacht hat, sind wir Meister unserer Entscheidungen und auch der falschen Entscheidungen«, sagte Franziskus. Und er ging auf den Begriff des Bösen ein: »Gibt es jemanden, der die Vergebung und Barmherzigkeit Gottes oder die Vergebung der Menschen nicht verdient?«, fragte der Moderator. Der Papst antwortet mit »etwas, was vielleicht jemanden empören wird«: »Die Fähigkeit, vergeben zu werden, ist ein Menschenrecht. Wir alle haben das Recht auf Vergebung, wenn wir um Vergebung bitten. Es ist ein Recht, das genau aus der Natur Gottes stammt und den Menschen als Erbe gegeben wurde. Wir haben vergessen, dass jemand, der um Vergebung bittet, das Recht hat, dass ihm vergeben wird. Du hast etwas getan, du bezahlst dafür. Nein, so ist es nicht! Du hast das Recht auf Vergebung. Selbstverständlich muss einer, der Fehler begangenen hat, mit der Gesellschaft ins Reine kommen und die entsprechende Strafe absitzen, aber jeder hat das Recht auf Vergebung.«

Mit Blick auf die Zukunft der Kirche erinnerte Franziskus an das Bild der Kirche, das Paul VI. im Apostolischen Schreiben Evangelii nuntiandi entworfen hat, das die Inspiration für sein Evangelii gaudium war: »Eine pilgernde Kirche. Heute ist das größte Übel der Kirche, das größte«, wiederholte Papst Franziskus, »die geistliche Weltlichkeit, die wiederum ein hässliches Ding wachsen lässt, den Klerikalismus, der eine Perversion der Kirche ist. Der Klerikalismus, der in Starrheit existiert, und unter jeder Art von Starrheit ist immer Fäulnis«, sagte Franziskus.

Dann erklärte er, wie wichtig das Beten sei: »Beten ist das, was ein Kind tut, wenn es sich eingeschränkt und hilflos fühlt, [es sagt] ›Papa, Mama‹. Beten bedeutet, auf unsere Grenzen, unsere Nöte, unsere Sünden zu blicken. Beten bedeutet, mit Kraft einzutreten, über die Grenzen hinaus, über den Horizont hinaus, und für uns Christen bedeutet Beten, dem ›Papa‹ zu begegnen. Und das Kind wartet nicht auf die Antwort des Vaters, wenn der Vater zu antworten beginnt, geht es über zu einer anderen Frage. Was das Kind will, ist, dass der Blick des Vaters auf ihm ruht. Die Erklärung spielt keine Rolle, es zählt nur, dass der Vater es ansieht, und das gibt ihm Zuversicht.«

Die Fragen berührten dann eher persönliche Bereiche: »Fühlen Sie sich jemals allein? Haben Sie echte Freunde?«, wird der Papst gefragt. »Ja« – antwortet er –, »ich habe Freunde, die mir helfen, sie kennen mein Leben als normaler Mann, nicht dass ich normal bin, nein. Ich habe meine Anomalien, klar, aber wie ein gewöhnlicher Mann habe ich Freunde; und manchmal bin ich gerne mit Freunden zusammen, um meine Sachen zu erzählen, ihnen zuzuhören, ich brauche Freunde. Das ist einer der Gründe, warum ich nicht in die päpstliche Wohnung im Apos-tolischen Palast gezogen bin, weil die Päpste, die vorher dort waren, Heilige waren und ich nicht zurechtkomme, ich bin nicht so heilig. Ich brauche menschliche Beziehungen, deshalb lebe ich in diesem Gästehaus in Santa Marta, wo es Leute gibt, die mit allen reden, man findet Freunde. Es ist ein einfacheres Leben für mich. In der Tat, ich brauche Freunde, nun denn, sie sind wenige, aber echte Freunde.«

Während des Interviews gab es Hinweise auf die Vergangenheit und Kindheit in
Buenos Aires, auf den Jubel für den Fußballverein San Lorenzo, auf seinen Berufswunsch »Metzger«, auf die piemontesischen Wurzeln, auf die Erfahrung im Chemielabor, ein Medizin-Studium, das ihn »verführt« habe: »Aber der Ruf Gottes überwog.«

Wie praktisch alle seiner Ansprachen beendete Papst Franziskus auch dieses Interview mit der Bitte um Gebete für ihn. »Ich brauche es, und wenn jemand von euch nicht betet, weil er nicht glaubt, nicht weiß, wie das geht oder nicht kann, so schicke sie oder er mir wenigstens gute Gedanken, gute Wellen. Ich brauche die Nähe der Menschen.«

Von Mario Galgano,
Vatican News