Eine römische Pfarrei gewährte einer Gruppe von jüdischen Mädchen Schutz vor den Nationalsozialisten

Geschwisterlichkeit in schweren Zeiten

 Geschwisterlichkeit in schweren Zeiten  TED-006
11. Februar 2022

In der Kirche Santa Maria ai Monti, nur einen Steinwurf vom Kolosseum entfernt, konnte eine Gruppe jüdischer Mädchen 1943 den Razzien der Nationalsozialisten entgehen. Ein ganzes Stadtviertel hat sie beschützt. Menschen aus allen Religionen und Gesellschaftsschichten, die eines vereinte: die Liebe zu ihrem Nächsten.

In der Zeit, in der sie gezwungen waren, sich in einem engen, dunklen Raum unter dem Glockenturm von Santa Maria ai Monti zu verstecken, haben sie viel gezeichnet. Nur so konnten sich die kleinen Mädchen ablenken, um in jenem schrecklichen Oktober 1943 die bedrohlichen Schritte der Soldaten, die draußen patrouillierten, nicht hören zu müssen. Sie haben vor allem Gesichter gezeichnet: die ihrer Mütter und Väter, die der Puppen, die sie auf ihrer über-eilten Flucht verloren hatten – und Königin Esther, die eine Challa, das Schabbat-Brot, in den Händen hält. Es war ihre Art und Weise, den Schrecken, der sie umgab, aus ihren Gedanken zu verbannen. Und unter jede Zeichnung haben sie fein säuberlich ihre Namen geschrieben: Matilde, Clelia, Carla, Anna, Aida.

Es waren fünfzehn Kinder, das jüngste erst vier Jahre alt. Sie haben den Holocaust überlebt, weil sie in einem sechs Meter langen und zwei Meter breiten Raum Zuflucht gefunden hatten; im Turm einer Kirche aus dem 16. Jahrhundert im Herzen Roms, nur einen Steinwurf vom Kolosseum entfernt. Es waren quälende Tage, in denen die Angst, doch noch von ihren Häschern entdeckt zu werden, ihr ständiger Begleiter war. Dank der Schwestern und des damaligen Pfarrers Don Guido Ciuffa konnten die Mädchen den Razzien entgehen – und damit auch dem sicheren Tod in den Lagern, in denen viele ihrer Angehörigen ihr Leben verloren. Mutige Menschen, die es noch geschafft hatten, das Leben ihrer Kinder den Töchtern der Nächs-tenliebe im damaligen Kloster der Neophytinnen anzuvertrauen. Dort mischten sie sich unter die Schülerinnen und Novizinnen und wurden beim ersten Anzeichen von Gefahr von den Nonnen durch eine Durchgangstür in Sicherheit gebracht.

Was damals passiert ist,
darf sich nie mehr wiederholen ...

Wo sich einst diese Tür befand, steht heute eine Betonwand. »Ich sage den Kindern immer, dass sich das, was damals passiert ist, nie mehr wiederholen darf«, sagt Pfarrer Francesco Pesce im Gespräch mit »Vatican News«. Der Italiener, der seit zwölf Jahren Pfarrer von Santa Maria ai Monti ist und im ganzen Viertel geschätzt wird, steht für ein Rom, das noch immer in der Lage ist, Ethnien und Religionen zu vereinen. »Diese Tür ist ein Symbol. Sie erinnert uns an den Übergang von der Verzweiflung zur Hoffnung, vom Bösen zum Guten«, erklärt er. Von dort aus liefen die Mädchen in die Sakristei, wo sich eine andere Tür befand. Und die führte den Turm hinauf zur Apsis, in 30 Meter Höhe. Weiter oben sind nur noch die Glocken. Oder der Himmel, der letzte Fluchtweg.

Fünfundneunzig Stufen über eine enge dunkle Wendeltreppe, dann war man in Sicherheit. Eine angsteinflößende Spirale, aber damals der einzige Weg zur Rettung. Der Atem wird kürzer, die Augen gewöhnen sich erst nach einigen Minuten an die Dunkelheit, die von den wenigen ziegelsteingroßen Fenstern nur spärlich mit Licht erhellt wird. Die Mädchen stiegen abwechselnd allein den Turm hinauf und hinunter, um Lebensmittel und Kleidung für ihre Leidensgenossinnen zu holen, die oben auf sie warteten.

Ein weiterer Korridor, den man erst auf den zweiten Blick erkennt, führt in den einzigen beleuchteten Raum: den »Speisesaal«, der eigentlich nicht recht viel mehr ist als ein Lagerraum mit Gerümpel, ausrangierten Tischen und Stühlen. Hier nahmen die Mädchen die Mahlzeiten ein, die ihnen die Nonnen, der Pfarrer, aber auch die Bewohner des Viertels zukommen ließen. Die Geschichte von Santa Maria ai Monti ist nämlich nicht nur die Geschichte einer Kirche, die sich dem Wüten der Nationalsozialisten widersetzt. Es ist auch eine Geschichte der Geschwisterlichkeit, die in einer Zeit geschrieben wurde, die Papst Franziskus als das »schwärzeste Kapitel der Geschichte« bezeichnet hat. »Hier haben wir den Gipfel des Schmerzes, aber auch den Gipfel der Liebe erreicht«, betont Pfarrer Pesce. »Ein ganzer Stadtteil hat sich für diese Kinder stark gemacht. Sie alle – nicht nur katholische Chris-ten, sondern auch Brüder und Schwestern anderer Religionen – haben dieses Werk der Nächstenliebe in aller Stille vorangetrieben. Wenn das nicht ein Vorgeschmack auf Fratelli tutti ist!«

Jeder in Monti wusste, dass sich fünfzehn jüdische Kinder in der Gemeinde versteckten, und sie alle haben sie beschützt. Und daran konnten weder Drohungen noch die Aussicht auf Blutgeld etwas ändern. Oft zögerten die Eingeweihten sogar, die Informationen weiterzugeben, die für die Organisation der Hilfen notwendig waren. Zu riskant wegen der Soldaten, die auf der nahe gelegenen Via Baccina patrouillierten; zu gefährlich wegen der vielen Spitzel und Spione, die nur darauf warteten, das Leben anderer an den Meistbietenden verkaufen zu können. Die Mädchen mussten unauffindbar bleiben.

Und sie haben alle überlebt. Als Erwachsene, die Mütter, Ehefrauen und Großmütter geworden sind, haben sie die Pfarrei immer wieder besucht. Eine von ihnen kam noch bis vor einigen Jahren und stieg zu ihrem damaligen Versteck hinauf, soweit es ihre Beine zuließen. Vor der Sakristei-Tür blieb die alte Frau dann stehen, kniete nieder und weinte. Wie vor 80 Jahren.

Von Salvatore Cernuzio und
Silvia Kritzenberger