Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag und herzlich willkommen!
Ich empfange euch anlässlich eurer 70. Nationalen Studientagung, in deren Mittelpunkt ein Thema steht, das mir sehr am Herzen liegt: »Die Letzten. Der Rechtsschutz der schwachen Subjekte«. Ich danke dem Vorsitzenden des Verbandes der katholischen Juris-ten in Italien (UGCI) für die Worte zur Begrüßung.
Ich habe die Erfahrungen, die ich auf meiner kürzlich beendeten Apostolischen Reise nach Zypern und Griechenland gemacht habe, immer noch vor Augen und im Herzen. Am vergangenen Sonntag habe ich beim Besuch der Flüchtlinge im Aufnahmezentrum in Mytilene auf der Insel Lesbos unter anderem daran erinnert, dass »die Achtung des Menschen und der Menschenrechte immer gewahrt werden [sollte], vor allem auf dem Kontinent, der sie weltweit propagiert, und die Würde jedes Menschen […] allem anderen vorangestellt werden« sollte (Ansprache in Mytilene, 5. Dezember 2021). Wie weit entfernt sind wir jedoch von dieser Achtung! Übergriffe, Gewalt, Vernachlässigung, Unterlassung tragen nur dazu bei, die Wergwerfkultur zu vermehren. Und wer keinen Schutz hat, wird immer an den Rand gedrängt werden. Von euch als katholischen Juristen wird verlangt, zu einem »Kurswechsel« beizutragen, indem ihr je nach Zuständigkeit die Bewusstwerdung und das Verantwortungsgefühl fördert. Denn auch die Letzten, die Wehrlosen, die schwachen Subjekte haben Rechte, die geachtet werden müssen und nicht mit Füßen getreten werden dürfen. Und das ist eine Forderung, die unserem Glauben innewohnt. Es ist keine vorübergehende »Moralpredigt«: Es ist eine Forderung, die unserem Glauben innewohnt.
Denken wir – besonders jetzt in der Adventszeit – an die Worte des Propheten Jesaja, die an den Gottesknecht gerichtet sind: »Ja, er bringt wirklich das Recht. Er verglimmt nicht und wird nicht geknickt, bis er auf der Erde das Recht begründet hat« (42,3-4). Dem von den Propheten verkündigten Messias liegen Recht und Gerechtigkeit am Herzen. Und Jesus Christus hat sich in seiner irdischen Sendung mit ganzer Hingabe den Letzten gewidmet, um sie zu heilen und ihnen die gute Nachricht vom Reich Gottes zu verkündigen.
Die katholischen Juristen sind in diesen Tagen mehr denn je aufgerufen, die Rechte der Schwächeren zu stärken und zu schützen, innerhalb eines Wirtschafts- und Sozialsystems, das zwar vorgibt, die Vielfalt zu schützen, aber tatsächlich systematisch jene ausgrenzt, die keine Stimme haben. Die Rechte der Arbeiter, der Migranten, der Kranken, der ungeborenen Kinder, der sterbenden und der ärmsten Menschen werden in dieser Wegwerfkultur immer öfter vernachlässigt und geleugnet. Wer keine Kauf- und Konsumkraft hat, scheint nichts wert zu sein. Aber die Grundrechte zu leugnen, das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, auf physische, psychologische und geistliche Behandlung, auf gerechten Lohn zu leugnen, bedeutet, die Menschenwürde zu leugnen. Das sehen wir: Wie viele Hilfsarbeiter werden für die Obst- oder Gemüseernte – bitte verzeiht mir das Wort – »benutzt« und dann elend bezahlt und weggejagt, ohne jeden sozialen Schutz.
Die Rechte prinzipiell anzuerkennen und konkret zu gewährleisten, indem man die Schwächeren schützt, ist das, was uns menschlich macht. Sonst lassen wir uns vom Recht des Stärkeren beherrschen und geben der Unterdrückung Raum.
Aus diesem Grund kommt die Anerkennung der Rechte der schwächeren Personen nicht aus einem Zugeständnis der Regierung. Nein. Und die katholischen Juristen bitten nicht um Gefälligkeiten im Namen der Armen, sondern verkündigen standhaft jene Rechte, die aus der Anerkennung der Menschenwürde kommen.
Die Rolle des katholischen Juristen, ganz gleich in welcher Rolle er tätig ist – als Berater, Anwalt oder Richter –, ist es also, zum Schutz der Menschenwürde der Schwachen beizutragen und ihre Rechte zu stärken. Auf diese Weise trägt er oder sie dazu bei, dass die Geschwisterlichkeit aller Menschen sich durchsetzt und das Abbild Gottes, das jedem Menschen eingeprägt ist, nicht entstellt wird.
Kardinal Dionigi Tettamanzi pflegte zu sagen: »Die Rechte der Schwachen sind keine schwachen Rechte«. Insbesondere euch kommt die Aufgabe zu, sie mit Standhaftigkeit zu stärken und mit Weisheit zu schützen und so dazu beizutragen, eine menschlichere und gerechtere Gesellschaft aufzubauen.
Die Gottesmutter, die wir heute als Jungfrau des Schweigens und des Hörens im Heiligen Haus von Loreto verehren, und der heilige Josef, der Gerechte, mögen euch in eurem Bemühen stützen. Ebenso möge euch das Zeugnis des seligen Rosario Livatino inspirieren. Auch ich begleite euch mit meinem Gebet und meinem Segen. Und bitte betet auch für mich. Danke.
(Orig. ital. in O.R. 10.12.2021)