Liebe Brüder und Schwestern!
Zur Eröffnung des akademischen Jahres der Katholischen Universität »Sacro Cuore« möchte ich der ganzen universitären Gemeinschaft, vertreten durch den Rektor,
Prof. Franco Anelli, den kirchlichen Generalassistenten Bischof Claudio Giuliodori sowie den Generaldirektor Paolo Nusiner, meinen herzlichen Gruß zukommen lassen.
Mein Gruß richtet sich auch an den Erzbischof von Mailand und Präsidenten des »Istituto Toniolo«, Mario Delpini, sowie an die Präsidentin der Europäischen Kommission, Frau Ursula von der Leyen.
Ihr erlebt heute einen besonderen Tag, an dem ein wichtiges Jubiläum gefeiert wird: Vor 100 Jahren riefen P. Agostino Gemelli und seine Mitarbeiter jene große kulturelle Einrichtung ins Leben, die eure Hochschule ist. Herzliche Segenswünsche!
Ich möchte meine Reflexion mit drei zentralen Worten zusammenfassen: Feuer, Hoffnung und Dienst. Drei Worte, von denen ich glaube, dass sie gewissermaßen für eure Mys-tik [Spiritualität] stehen können.
Feuer
Das erste ist ein Bild: das »Feuer«, also die Fackel, die an eurer Universität von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Jahrestage eignen sich, um der Vergangenheit zu gedenken. Und wenn man auf die 100 Lebensjahre der Katholischen Universität »Sacro Cuore« zurückblickt, dann erkennt man eine wichtige Bildungstradition, zum Leben erweckt durch die Hingabe Hunderter Männer und Frauen und bezeugt von Tausenden Hochschulabsolventen. Bildung ist einer der wirksamsten Wege, um die Welt und die Geschichte menschlicher zu machen1, und ich glaube, dass eure Universität diese Lehre in ihrem Auftrag bewahrt. Das ist mög-lich dank der – über Generationen hinweg erneuerten – Wertschätzung des kulturellen und geistlichen Erbes, das ihre Identität darstellt. Eine klare und unveränderte Identität, die unterschiedliche Sensibilitäten jedoch nicht ablehnt, sondern sie im Gegenteil achtet und annimmt, im Bewusstsein, dass das menschliche Dasein von der offenen und res-pektvollen Auseinandersetzung mit dem anderen zum Gedeihen gebracht wird. Bereits die Menschen der Antike hatten es gut verstanden: Bilden bedeutet nicht, Gefäße zu füllen, sondern Feuer zu entzünden. Die Katholische Universität bewahrt dieses Feuer. Und daher kann sie es weitergeben, denn das kann nur »durch Kontakt« geschehen, also durch das persönliche und gemeinschaftliche Zeugnis. Noch bevor man das, was man weiß, weitergibt, entzündet man das Feuer, indem man das teilt, was man ist. Dieser Kontakt findet durch Begegnung statt: dadurch, dass man Seite an Seite steht und etwas gemeinsam tut. Und das ist der ursprüng-liche Sinn dessen, was wir als »Universität« bezeichnen: die »uni-versitas«. Als diese Wirklichkeiten im Mittelalter aufkamen, sind sie entstanden, um die verschiedenen Schulen zu einem einzigen Ort hin – »versus« – zusammenfließen zu lassen. Viele fließen zu einem hin (»versus«): zu einem Ort, einer Zeit, einem Geist. In eurem Fall eine vom Glauben erleuchtete Geschichte, die dem Universum des Wissens wieder Einheit verleiht und Einheit schafft unter den Menschen, die zu seinem Wachstum beitragen: Professoren, Mitarbeiter, Studenten. Das ist der tiefere Sinn des Wortes »Tradition«, wie Mahler gesagt hat: »Tradition ist nicht Hüten der Asche, sondern Bewahrung des Feuers.«
Hoffnung
Das zweite Wort ist »Hoffnung«. Heute wird dieser Bildungsgedanke herausgefordert von einer individualistischen Kultur, die das Ich im Gegensatz zum Wir verherrlicht, die Gleichgültigkeit fördert – die Kultur der Gleichgültigkeit ist schlimm! –, den Wert der Solidarität mindert und die Wegwerfkultur in Gang setzt. Denn wer bildet, schaut mit Vertrauen in die Zukunft und widmet sich einer Tätigkeit – der Bildungstätigkeit –, die verschiedene Handlungsträger der Gesellschaft einbezieht, um den Studenten eine ganzheitliche Bildung anzubieten, Frucht der Erfahrungen und Sensibilitäten vieler Menschen. Das ist insbesondere die Sendung der Dozenten, die die schöpferischen Hüter der Tradition sind, die ein Schatz ist. Denn sie ist, dem Bild von Gustav Mahler zufolge – wie ich gesagt habe –, nicht das Hüten der Asche, sondern das Hüten des Feuers. So lässt sich das Bild vom Baum weiterführen: Die Wurzeln geben dem Baum Leben, und – wie ein Dichter gesagt hat – alles, was der Baum an Blüten hat, kommt von dem, was unter der Erde ist. Die Harmonie zwischen Wurzel und Wachstum.
Bildung ist vor allem Beziehung: Beziehung zwischen Dozent und Student, und dann auch der Studenten untereinander. Eine Gemeinschaft von Menschen, die offen ist gegenüber der Wirklichkeit, gegenüber dem transzendenten Anderen und gegenüber den anderen: offen für das Kennenlernen, das Entdecken, Fragen zu stellen und gemeinsam nach Antworten zu suchen, nach heutigen Antworten. Man darf nicht davor zurückschrecken, Fragen zu stellen, um nach Antworten zu suchen. Eine Gemeinschaft, die offen ist gegenüber der Welt, ohne Ängste. Die Angst ist schlimm! Das ist Hoffnung: auf die Zukunft zu setzen und den natürlichen Drang zu überwinden, der aus den vielen Ängsten heraus kommt, die drohen, uns zu lähmen, uns festzuhalten und uns in eine ewige illusorische Gegenwart zu verschließen. Die Öffnung gegenüber dem anderen und seine Annahme ist also besonders wichtig, weil es eine solidarische Bindung zwischen den Generationen fördert und die individualistischen Irrwege, die in unserer Kultur vorhanden sind, bekämpft. Und vor allem baut es, gerade von den Hörsälen der Universitäten ausgehend, eine inklusive Staatsbürgerschaft auf, die der Wegwerfkultur entgegensteht.
In dieser Perspektive habe ich einen globalen Bildungspakt gefördert, um alle zu sensibilisieren, den großen Sinnfragen unserer Zeit Gehör zu schenken, begonnen bei denen der neuen Generationen angesichts von sozialer Ungerechtigkeit, Verletzung von Rechten, Zwangsmigration. Die Universität darf sich angesichts dieser angeprangerten Missstände nicht taub stellen. Ich freue mich, dass ihr diese Einladung zu einer erneuerten Zeit des Einsatzes für die Bildung angenommen habt. Eure Projekte zur internationalen Zusammenarbeit, die auf verschiedene Bevölkerungsgruppen der Welt ausgerichtet sind; die vielen wirtschaftlichen Hilfen, die ihr jedes Jahr bedürftigen Studenten zukommen lasst; eure Aufmerksamkeit gegen-über den Letzten und den Kranken sind Zeugnis für einen konkreten Einsatz. Ich ermutige euch, auf diesem Weg voranzugehen!
In der Welt hängt, vor allem heute, alles miteinander zusammen. Dieser Zustand verlangt eine nie dagewesene Anstrengung, denn durch diesen epochalen Wandel sind die Interpretationsrahmen der Vergangenheit veraltet: Sie nützen nichts mehr, um die Gegenwart zu verstehen. Es geht darum, neue Denkmodelle zu entwerfen, um Lösungen zu definieren für die dringenden Probleme, denen zu begegnen wir aufgerufen sind: von den Umwelt- zu den Wirtschaftsproblemen, von den sozialen zu den demografischen Problemen. Wir können nicht mit der Kategorie der Aufklärung vorangehen. Es bedarf eines neuen, schöpferischen Denkens. Die Katholische Universität »Sacro Cuore« kann einen privilegierten Ort für die fortgeschrittene Entwicklung einer solchen kulturellen Ausgestaltung darstellen. Und hier kehren wir zurück zur Beziehung zwischen Dozenten und Studenten – die wichtig ist! –, die eine dynamische Beziehung ist, im Spannungsfeld zwischen Gegenwart und Zukunft: Gemeinsam seid ihr aufgerufen zu denken, zu planen und zu handeln, im Horizont des gemeinsamen Hauses von morgen, ausgehend von der konkreten Wirklichkeit von heute.
Und an euch Studenten richte ich mich jetzt in besonderer Weise. In diesen verworrenen Zeiten, die durch die Pandemie noch komplexer gemacht werden, sage ich euch noch einmal: Lasst euch die Hoffnung nicht rauben! Und lasst euch nicht vom Virus des Individualismus anstecken. Es ist schlimm, und es macht krank. Die Universität ist der geeignete Ort, um Antikörper gegen dieses Virus zu entwickeln: Die Universität öffnet den Geist gegenüber der Wirklichkeit und der Vielfalt; dort könnt ihr eure Begabungen einbringen und sie allen zur Verfügung stellen. Als Studenten der Katholischen Universität »Sacro Cuore« gehört ihr zu einer Studiengemeinschaft mit soliden Wurzeln, aus denen ihr schöpfen könnt für eure Bildung und um jeden Tag mit neuer Begeisterung voranzugehen und eure Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen. Nicht um zu Traditionalisten der Wurzeln zu werden, nein: aus der Wurzel nehmen, um zu wachsen, um voranzugehen, um das Leben dort einzusetzen. Das ist der Horizont, den ich euch zum 100. Jahrestag vor Augen stelle.
Dienst
Und so kommen wir zum dritten und letzten Wort: »Dienst«. In Wirklichkeit könnte dieses Wort das erste sein, denn eine neue Einrichtung beginnt immer bei Gründern, die ihr Leben in den Dienst der anderen stellen. Und im Laufe ihrer 100 Jahre hat die Katholische Universität »Sacro Cuore« bei mehreren Gelegenheiten bewiesen, dass sie treu im Dienst der Kirche und der Gesellschaft steht. Zeugnis dafür ist der Einsatz ihrer Dozenten in der täglichen Forschungstätigkeit und bei nicht wenigen von ihnen auch ihre verantwortungsvolle Rolle innerhalb der italienischen und internationalen Institutionen. Zeugnis dafür ist auch die Tätigkeit der Mitarbeiter, die Hingabe und Verstand einsetzen, um das Funktionieren der Universität zu ermöglichen. Einen dankbaren Gruß richte ich an einen jeden von euch, die ihr zu diesem großen Team gehört. Auch hier gilt die Logik der »uni-versitas«: alle zusammen, alle auf etwas hin – »versus« –, alle zusammen, jeder in seiner besonderen Rolle, aber alle zusammen, auf einen gemeinsamen Horizont zugehend. Ohne die tägliche Arbeit eines jeden von euch wäre dieses gemeinsame Projekt ärmer, würde etwas fehlen, so als fehlten in einem Orchester die Klangfarbe und der Ton einiger Instrumente, die scheinbar weniger wichtig sind.
Liebe Brüder und Schwestern – und ich wende mich wieder an alle –, ihr seid, gestattet mir den Vergleich, ein großes Orchester, wo das Wesentliche das Zusammenspiel ist, das entsteht, wenn jeder sein Bestes gibt im Einklang mit den anderen. Der Geist des Dienstes möge stets das Merkmal eurer ganzen universitären Gemeinschaft sein, die nur so dem Evangelium treu ist, das sie inspiriert. Obwohl der Herr Jesus Christus der Logos, die göttliche Weisheit, ist, hat er die Torheit des Dienens bis zur völligen Selbstentäußerung gewählt: die Weisheit des Kreuzes. So hat er Zeugnis gegeben von der Wahrheit der Liebe Gottes. Und er, der König, hat uns gelehrt, dass Dienen Herrschen ist. Möge jeder, der an eurer Universität studiert und arbeitet, diesen Geist atmen, diesen Stil erlernen, um ihn in der komplexen Wirklichkeit der heutigen Welt zu leben. Geht voran, blickt in eurem Bildungsauftrag mutig zum Horizont. Zwei Worte können uns sehr helfen: Mut und Geduld. Widersprüche ertragen, Dinge, die nicht gehen: Geduld und der Elan des Mutes gehören zusammen. Sie gehören zusammen. Versteht diesen Mut und diese Geduld als leidenschaftlichen Dienst an der ganzen Gesellschaft; auch an der Kirche, aber ebenso an der ganzen Gesellschaft. Der Herr segne euch, und die Gottesmutter schütze euch. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten. Danke.
Fußnote
1 Vgl. Videobotschaft aus Anlass der Begegnung »Global compact on education. Together to look beyond«, gefördert und organisiert von der Kongregation für das katholische Bildungswesen (15. Oktober 2020).
(Orig. ital. in O.R. 20.12.2021)