Schwester Jocelyne berichtet von den täglichen Herausforderungen im Libanon

Es fehlt an allem…

 Es fehlt an allem…  TED-003
21. Januar 2022

Im stillen Dorf Fatqa, 30 Kilometer nördlich von Beirut in den libanesischen Bergen gelegen, kämpft eine Schwesterngemeinschaft ums Überleben und darum, den alten Frauen, kranken Kindern und armen Familien mit Lebensmitteln und medizinischer Versorgung zu helfen. Hunger, Kälte, Krankheit sind alltägliche Herausforderungen in einem von der Armut verheerten Land, geplündert von einer gierigen Politik, geschwächt von der Emigration, einem Land, wo die jungen Menschen von Flucht träumen und die Spekulanten sich auf dem Schwarzmarkt bereichern. Die Schwestern der maronitischen Kongregation von der Heiligen Familie stellen sich den Herausforderungen, allerdings begleitet von der Angst, es nicht zu schaffen. »Wir wissen nicht, ob wir den Winter überstehen werden«, sagt Schwester Jocelyne Chahwane, die furchtlos und voller Sorge zugleich ist.

Im Zentrum »Notre-Dame du Mont« [Unsere Liebe Frau vom Berg] leitet die Schwes-ter das Gästehaus. Ein großes, weiß gestrichenes Gebäude, das mit seinem Kreuz aus der Höhe auf das glitzernde Mittelmeer herabblickt. Das Gästehaus war einmal das finanzielle Fundament der Gemeinschaft und der gesamten Kongregation. Der wuchtige Bau mit seinen 100 Zimmern und einer Kapazität für 275 Personen, mit einem Restaurant und einem Theater mit Hunderten Plätzen, diente zur Abhaltung von Exerzitien oder Kongressen, Konferenzen und Seminaren. Mit den Einkünften wurde das Altenheim für die betagten Mitschwestern unterstützt.

Am Rand
des Abgrunds

Aber heute befindet sich das Land der Zedern am Rand des Abgrunds, jener Libanon, der den Worten von Amin Malouf zufolge – einem Intellektuellen mit libanesischen Wurzeln, der heute in Frankreich lebt – einmal »als die Schweiz des Nahen Ostens« galt. »Mit der Wirtschaftskrise und der Pandemie verschwanden die Touristen. Ausländer kommen keine mehr. Wir sind ziemlich isoliert«, erklärt Schwester Jocelyne. Und mittlerweile finden im Altenheim auch alte Frauen aus der Umgebung Aufnahme. Zusammen mit den Schwestern sind es 70 Frauen, die von 30 Angestellten versorgt werden, »auch sie Frauen: Mütter, Geschiedene mit Problemen. Allen müssen wir jeden Tag zu Essen geben. Das ist ein schwieriges Unterfangen.«

Schwester Jocelyne ist 49 Jahre alt. Die Libanesin aus Beirut ist vor 21 Jahren in die Kongregation eingetreten, mit 28. Vorher arbeitete sie als Managerin in einem großen pharmazeutischen Unternehmen, der SmithKline Beecham, als sie während geistlicher Exerzitien eine tiefe Krise erlebte. Es war im Jahr 2000 und ihr Unternehmen sollte Teil eines anderen Pharmaziekolosses, der Glaxo, werden. »Ich dachte an die Begegnung Jesu mit dem reichen Jüngling im Evangelium. Er wollte Jesus folgen, aber als dieser ihm sagt: Verkauf alles, was du hast, gib es den Armen und folge mir nach, da wird der Reiche traurig und gibt auf. Diese Traurigkeit hat mich berührt, denn ich spürte, dass ich zum Dienen berufen war. Acht Monate später habe ich mein großes Ja zu Christus gesagt.«

Im Mutterhaus der Kongregation der Heiligen Familie in Beirut ist Schwester Jocelyne für die Informationstechnik zuständig. Vor fünf Jahren kam dann die Leitung des Gäs-tehauses hinzu. Sie hatte einen Mitarbeiterstab, ist aber jetzt allein: »Die Fachkräfte verlassen das Land. Sie wollen ihren Kindern eine Zukunft bieten, sie brauchen Geld zum Leben. Und sie fliehen. Im Zentrum sind sieben weggegangen: Betriebsleiter, Social Media Manager, Küchenchef… Einige sind in Richtung Europa aufgebrochen und leben heute in Frankreich, andere sind in Ägypten, in Saudi-Arabien.« Das gesamte Zentrum stützt sich heute auf die Kraft von vier Schwestern: die Oberin, Schwester Jocelyne und zwei weitere Schwestern, die als Krankenschwestern arbeiten. Mit leiser Stimme zählt Schwester Jocelyne die tragischen Daten auf: der Aufstand vom 17. Oktober 2019, als sich der Volkszorn gegen die korrupte Politik entlud und die Straßen sich mit einer wütenden Menge füllten; die Katastrophe vom 4. August 2020, als im Hafen von Beirut die seit Jahren dort gelagerten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat explodierten, mit 217 Todesopfern, 7.000 Verletzten und 300.000 obdachlos gewordenen Familien; dann die Covid 19-Pandemie.

Die Folge ist eine Sozial- und Wirtschaftskrise, die von der Weltbank als die schlimmste in der 150-jährigen Geschichte des Landes eingestuft wird: Zwei Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, die Inflation beträgt 90 Prozent, eine Mittelschicht gibt es nicht mehr. Der Wechselkurs zwischen libanesischer Lira und dem Dollar stieg ins Unermessliche, während er 2019 ein Dollar zu 1.500 Lira betrug, sind es zwei Jahre später auf dem Schwarzmarkt ein Dollar zu 25.000 Lira. Auch die Kaufkraft ist abgestürzt, ein Gehalt von einer Million Lira entsprach 2019 etwa 600 Dollar, heute sind es nur noch 70, 80 Dollar.

»Im Zentrum von Beirut oder Tripolis sieht man zerlumpte Kinder auf den Straßen betteln«, erzählt der deutsch-libanesische Schriftsteller Pierre Jarawan. »Auf Facebook tauschen die Leute Fernseher gegen Windeln. Blackouts sind an der Tagesordnung. Korruption nimmt zu. Während der Normalbürger am Geldautomat nur begrenzte Summen abheben kann, hat die politische Elite ihr Millionenvermögen im Ausland in Sicherheit gebracht.«

In Fatqa herrscht große Not. Schwester Jocelyne: »Unsere tägliche Sorge besteht darin, das Lebensnotwendige zu gewährleisten, angefangen bei der Nahrung. Wenn ich zum Beispiel Milchpulver brauche, dann kann es auch drei Tage dauern, wo ich herumtelefoniere, um herauszufinden, wo es das gibt und für einen möglichst niedrigen Preis zu haben ist. Es fehlt an allem. Auch an Öl zum Kochen, Waschmittel und Toilettenpapier… Es ist ein Kampf, um auch nur das Notwendigste zu haben.« Auch der Strom fehlt. »Das ist ein großes Problem. Wir müssen in Dollar für Masut (Heizöl), Diesel bezahlen, damit wir warmes Wasser haben und die Heizung funktioniert.« Im strengen Winter ist das lebensnotwendig, gerade im Altenheim.

Hilfe für
pflegebedürftige Schwestern

Es fehlt auch an Medikamenten. Die maronitischen Schwestern richten ihre Bitte an ehrenamtliche Helfer, die zuweilen in das Zentrum kommen: »Vereinigungen und Hilfswerke in Paris, in Nizza, unsere Verwandten, unsere Freunde bitten wir, Medikamente für chronisch Kranke, Vitamine und andere Arzneimittel mitzubringen. Wir müssen nicht nur an die Schwestern der Kongregation denken, sondern wir helfen auch zahlreichen Familien.« Hilfe kam von den Freiwilligen der ULIS (»Unité Legère d’Intervention et de Secours«), von großen Organisationen wie Oeuvre d’Orient, Kirche in Not, aus Frankreich, das historisch eine enge Verbindung zum Libanon hat. »Aber das Problem ist, dass wir ein sicheres Budget brauchen, auf stabile Ressourcen zählen können müssen, um Nahrungsmittel zu finden und zu kaufen, um unsere Angestellten zu bezahlen«, sagt die maronitische Schwes-ter, und räumt ein, dass sie sich »isoliert« fühlt, »allein mit meiner Verantwortung für die Menschen, die meine Hilfe brauchen, für die pflegebedürftigen Schwes-tern. Es besteht großer Bedarf und es kommt keine Hilfe, es gibt keine wirkliche Koordination. Wir leiden mit den Kindern, wir leiden sehr.« An Weihnachten bat Schwes-ter Jocelyne ihre Freunde in Paris und Nizza um eine besondere Gabe für die kleinen Kranken: Schokolade, nur etwas Schokolade.

In dieser Tragödie gibt es noch einen besonderen Schmerz, eine zusätzliche Angst: »Es ist nicht nur eine Frage der Politik oder der Wirtschaft: Die Identität der Christen im Libanon ist in Gefahr.« Im Land, einem komplexen Mosaik verschiedener Religionen, leben (oder lebten, bevor die Emigration die Städte leerte) zwei Millionen Christen. »Es ist die von der Krise am härtesten getroffene Gemeinschaft«, so Schwester Jocelyne. »All unsere Nachbarländer sind mehrheitlich muslimisch, hier dagegen gibt es traditionell verschiedene Riten: Maroniten, Orthodoxe… Aber die Christen sind der Teil, der am meisten leidet. Schiitische Muslime erhalten Hilfe aus dem Iran, sunnitische aus Saudi-Arabien. Und die Christen? Und doch hat Papst Franziskus gesagt, dass wir die letzte Hochburg der Christen im Nahen Osten sind, als er für den Libanon gebetet hat. Heute ist die große Frage: Wird der Libanon christlich bleiben oder nicht?«

(Orig. ital. in der Beilage
»Frauen-Kirche-Welt«, Januar 2022)

Von Bianca Stancanelli