Den Humanismus zu erforschen, der aus der Verschmelzung von klassischen und biblischen Prinzipien entstanden ist und dann durch den Beitrag anderer kultureller Quellen genährt wurde. Dies war das Ziel der Vollversammlung 2021 des Päpstlichen Rates für die Kultur unter dem Thema »Auf dem Weg zu einem notwendigen Humanismus«. Dabei standen drei Aspekte im Mittelpunkt, die auf Cicero zurückgehen, der die Weisheit der Alten beschwor: Zeit (»parere tempori«), Identität (»se noscere«) und Transzendenz (»Deum sequi«). Ein erster Teil der Vollversammlung befasste sich mit den Wurzeln des Humanismus. »Athen und Jerusalem. Die Anthropologie der klassischen und biblischen Welt« war der Titel eines Gesprächs zwischen Professor Ivano Dionigi, emeritierter Rektor der Universität von Bologna und Präsident der Päpstlichen Akademie für die lateinische Sprache, und Kardinal Gianfranco Ravasi, Präsident des Dikasteriums. Die beiden Referenten verglichen die anthropologischen Modelle der griechisch-lateinischen und der jüdisch-christlichen Kultur, die in ihrer Verflechtung von Dialog und gegenseitiger Bereicherung den für die westliche Kultur typischen Humanismus hervorgebracht haben. Der zweite Teil befasste sich mit den Herausforderungen des heutigen Humanismus. Zu den Themen Zeit, Identität und Transzendenz stellten die Professoren Francesc Torralba (Universitat Ramon Llull, Barcelona), Alessandra Talamo (La Sapienza, Rom) und Jose Casanova (Georgetown, USA) Überlegungen im Hinblick auf zeitgenössische kulturelle Entwicklungen an. Die Videos der Beiträge sind auf der Website des Dikasteriums www.cultura.va einsehbar. Papst Franziskus wandte sich am 23. November mit der folgenden Videobotschaft an die Teilnehmer:
Liebe Brüder und Schwestern!
Ich freue mich, meinen herzlichen Gruß an euch zu richten anlässlich eurer Vollversammlung, die wegen der Pandemie aufgeschoben und nun einberufen wurde, wenn auch in virtueller Form. Das ist ebenso ein Zeichen der Zeit, in der wir leben: Im digitalen Universum ist eine unglaubliche Nähe möglich, aber ohne die Wärme einer echten Gegenwart.
Außerdem hat die Pandemie viele der Sicherheiten ins Wanken gebracht, auf die unser Sozial- und Wirtschaftsmodell gegründet ist, und so deren Brüchigkeit offenbart: persönliche Beziehungen, Arbeitsweisen, soziales Leben und sogar die religiöse Praxis und die Teilnahme an den Sakramenten. Aber sie hat auch und vor allem vehement die Grundfragen des Lebens neu gestellt: die Frage nach Gott und dem Wesen des Menschen.
Daher hat das Thema eurer Vollversammlung mein Interesse geweckt: Der notwendige Humanismus. Denn in diesem Augenblick der Geschichte brauchen wir nicht nur neue Wirtschaftsprogramme oder neue Rezepte gegen das Virus, sondern vor allem eine neue humanistische Perspektive, gegründet auf die biblische Offenbarung, bereichert vom Erbe der klassischen Tradition wie auch von den Reflexionen über die menschliche Person, die es in den verschiedenen Kulturen gibt.
Der Begriff »Humanismus« hat mich an die denkwürdige Ansprache erinnert, die der heilige Paul VI. am 7. Dezember 1965 zum Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils gehalten hat. Er spielte auf den laizistischen profanen Humanismus jener Zeit an, der die christliche Sichtweise herausforderte, und sagte: »Die Religion des Gottes, der Mensch wurde, ist der Religion (denn das ist sie) des Menschen begegnet, der sich zu Gott macht.« Und statt dies zu verurteilen und zu verwerfen, griff der Papst auf das Vorbild des Barmherzigen Samariters zurück, das das Denken des Konzils geleitet hatte, das heißt jene immense Sympathie für den Menschen und seine Errungenschaften, seine Freuden und Hoffnungen, seine Zweifel, seine Trauer und Ängste. Und so forderte Paul VI. jene für die Transzendenz verschlossene Menschheit auf, unseren neuen Humanismus anzuerkennen, denn, so sagte er: »Auch wir, und wir mehr als alle, sind Förderer des Menschen.«
Sechzig Jahre sind seitdem vergangen. Jener laizistische profane Humanismus – ein Ausdruck, der auch auf die damals in mehreren Regimen vorherrschende totalitäre Ideologie anspielte – ist heute Vergangenheit. In unserer vom Ende der Ideologien geprägten Zeit scheint er nunmehr vergessen zu sein, scheint begraben zu sein angesichts der neuen Veränderungen, die die IT-Revolution und die unglaublichen wissenschaftlichen Fortschritte mit sich gebracht haben. Diese zwingen uns, neu darüber nachzudenken, wer und was der Mensch eigentlich ist. Die Frage nach dem Humanismus entsteht aus dieser Frage: Was ist der Mensch, das menschliche Wesen?
Zur Zeit des Konzils standen einander ein profaner, immanentistischer, materialistischer Humanismus und der christliche, für die Transzendenz offene Humanismus gegenüber. Jedoch konnten beide sich auf eine gemeinsame Grundlage stützen, eine fundamentale Konvergenz hinsichtlich einiger Grundfragen, die mit der menschlichen Natur in Zusammenhang stehen. Heute fehlt dies aufgrund der Fluidität der zeitgenössischen kulturellen Sichtweise. Es ist die Zeit des »Flüssigen« oder »Flüchtigen«. Dennoch bleibt die Konzilskonstitution Gaudium et spes diesbezüglich weiterhin aktuell. Denn sie erinnert uns daran, dass die Kirche der Welt noch viel zu geben hat, und sie veranlasst uns, mit Vertrauen und Mut die intellektuellen, geistigen und materiellen Errungenschaften anzuerkennen und wertzuschätzen, die seitdem in verschiedenen Bereichen des menschlichen Wissens zutage getreten sind.
Heute ist eine Revolution im Gange – ja, eine Revolution –, die die wesentlichen Punkte des menschlichen Lebens berührt und eine kreative Anstrengung des Denkens und Handelns erfordert. Beides. Die Art und Weise, Zeugung, Geburt und Tod zu verstehen, verändert sich strukturell. Die Besonderheit des Menschen in der Gesamtheit der Schöpfung, seine Einzigartigkeit gegenüber anderen Lebewesen und sogar seine Beziehung zu den Maschinen werden in Frage gestellt. Aber wir dürfen uns nicht immer nur auf Negierung und Kritik beschränken. Vielmehr sind wir aufgefordert, die Präsenz des Menschen in der Welt im Lichte der humanistischen Tradition neu zu überdenken: als Diener des Lebens und nicht als dessen Herr, als Baumeister des Gemeinwohls mit den Werten der Solidarität und des Mitgefühls.
Daher habt ihr einige grundlegende Fragen in den Mittelpunkt eurer Reflexion gestellt. Neben der Frage nach Gott – die weiterhin wesentlich bleibt für das Leben des Menschen, wie Benedikt XVI. oft gesagt hat – stellt sich heute ganz entschieden die Frage nach dem Menschen und seiner Identität. Was bedeutet es heute, Mann und Frau zu sein als komplementäre und zur Beziehung berufene Personen? Welche Bedeutung haben die Begriffe »Vaterschaft« und »Mutterschaft«? Und dann weiter: Was ist die spezifische Verfasstheit des Menschen, aufgrund derer er einzigartig und unwiederholbar ist im Vergleich zu den den anderen Lebewesen und auch den Maschinen? Was ist seine transzendente Berufung? Woher stammt seine Berufung zum Aufbau sozialer Beziehungen zu den anderen?
Die Heilige Schrift bietet uns die wesentlichen Koordinaten, um eine Anthropologie des Menschen zu skizzieren in seiner Beziehung zu Gott, in der Komplexität der Beziehungen zwischen Mann und Frau und im Zusammenhang mit der Zeit und dem Raum, in denen er lebt. Der biblische Humanismus hat in einem fruchtbaren Dialog mit den Werten des antiken griechischen und lateinischen Denkens eine hohe Sicht vom Menschen, von seinem Ursprung und seiner letzten Bestimmung sowie seiner Lebensweise auf dieser Erde hervorgebracht. Diese Verschmelzung von antiker und biblischer Weisheit bleibt ein fruchtbares Paradigma.
Dennoch muss sich der biblische und klassische Humanismus heute weise öffnen, um in einer neuen kreativen Synthese auch die Beiträge der zeitgenössischen humanistischen Tradition sowie die der anderen Kulturen aufzugreifen. Ich denke zum Beispiel an die ganzheitliche Sicht der asiatischen Kulturen im Hinblick auf eine Suche nach innerer Harmonie und dem Einklang mit der Schöpfung. Oder an die Solidarität, die den afrikanischen Kulturen zu eigen ist, um den für die westliche Kultur charakteristischen übersteigerten Individualismus zu überwinden. Wichtig ist auch die Anthropologie der la-teinamerikanischen Völker mit ihrem lebendigen Sinn für die Familie und das Fest. Wie auch die Kulturen der indigenen Völker auf der ganzen Welt. Es gibt in diesen verschiedenen Kulturen Formen eines Humanismus, der – integriert in den von der griechisch-römischen Zivilisation ererbten und von der christlichen Sicht verwandelten europäischen Humanismus – heute das beste Mittel sein wird, um sich den beunruhigenden Fragen nach der Zukunft der Menschheit zu stellen. Denn: »Wenn […] der Mensch seinen wahren Platz nicht wiederentdeckt, missversteht er sich selbst und widerspricht am Ende seiner eigenen Wirklichkeit« (Enzyklika Laudato si’, 115).
Liebe Mitglieder und Konsultoren, liebe Teilnehmer an der Vollversammlung des Päpstlichen Rats für die Kultur, ich möchte euch erneut meine Unterstützung zum Ausdruck bringen: Heute ist es für die Welt mehr denn je notwendig, dass sie den Sinn und den Wert des Menschlichen wiederfindet in Bezug auf die Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Heute ist es nötig, jene Verse eines Heiden zu wiederholen: »Sunt lacrimae rerum et mentem mortalia tangunt.«
Ich segne euch von Herzen und bitte euch, weiterhin für mich zu beten. Vielen Dank!
(Orig. ital. in O.R. 23.11.2021)