Matteo Bruni: Guten Morgen, Eure Heiligkeit! Guten Morgen und vielen Dank, dass Sie uns durch diese intensiven Tage geführt haben, auch um mit eigenen Händen das zu berühren, was Sie »Wunden« nannten. Und ich danke Ihnen auch für diese Gelegenheit, bei der wir gemeinsam darüber sprechen können. Danke.
Papst Franziskus: Guten Morgen und vielen Dank! Ich hatte befürchtet, dass dies wegen der Verzögerung nicht funktionieren würde, aber wie Sie sehen können, funktioniert es. Vielen Dank, jetzt höre ich Ihre Fragen.
Matteo Bruni: Danke, Eure Heiligkeit. Die erste Frage stammt von Constandinos Tzindas vom zypriotischen Fernsehen.
Constandinos Tzindas vom zypriotischen Fernsehen (auf Englisch): Eure Heiligkeit, ich danke Ihnen für diese Gelegenheit und für Ihren Besuch in Zypern und Griechenland. Eure Heiligkeit, Eure deutlichen Worte zum interreligiösen [ökumenischen] Dialog sowohl in Zypern als auch in Griechenland haben international große Erwartungen geweckt. Man sagt, dass es am schwierigsten ist, sich zu entschuldigen. Sie haben das auf spektakuläre Weise getan. Aber was plant der Vatikan konkret, um das katholische und das orthodoxe Christentum zusammenzuführen? Ist eine Synode geplant? Synodal zu sein ist die Substanz des Chris-tentums, das aus der Dreifaltigkeit hervorgeht und zur gemeinsamen Stimme der Kirche in der Welt führt. Wie sich inzwischen gezeigt hat, kann nur eine geeinte Kirche in einem globalisierten und entmenschlichten Umfeld wirklich effektiv sein. Der heilige Johannes Chrysostomus ist, wie Sie sagten, ein Beispiel für die Osmose zwischen dem griechischen Denken und dem Christentum; er sagte, dass »die Kirche in menschlicher Hinsicht aus Klerus und Laien besteht, während wir für Gott alle seine Herde sind«. Gemeinsam mit dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios haben Sie alle Christen dazu aufgerufen, im Jahr 2025 die 17 Jahrhunderte seit der ersten Ökumenischen Synode von Nizäa zu feiern. Was sind die nächsten Schritte in diesem Prozess? Und schließlich – entschuldigen Sie diese lange Frage, aber sie ist im Sinne Ihrer Reise – wurde in der EU kürzlich eine Vision geäußert: Wir haben die Wünsche »Frohe Weihnachten« durch »Frohe Feiertage« ersetzt. Warum begreifen die Menschen nicht, dass das Christentum keine Ideologie ist, sondern eine Lebenserfahrung, die darauf abzielt, die Menschen von der irdischen Zeit in die Ewigkeit zu führen? Ich existiere also, weil mein Mitmensch auch existieren kann. Es ist das Wir und nicht das Ich. Vielen Dank, Eure Heiligkeit.
Papst Franziskus: Ja, ich danke Ihnen. Ich habe mich entschuldigt, ich habe mich vor Hieronymos, meinem Bruder Hieronymos, entschuldigt. Ich habe mich für alle Spaltungen entschuldigt, die es unter den Christen gibt, besonders aber für die, die wir Katholiken verursacht haben. Ich wollte mich auch entschuldigen, im Rückblick auf den Unabhängigkeitskrieg. Hieronymos hatte mir etwas erzählt: dass ein Teil der Katholiken sich auf die Seite der europäischen Regierungen stellte, damit die griechische Unabhängigkeit nicht zustande käme; während die Katholiken auf den Inseln die Unabhängigkeit unterstützten, sie zogen in den Krieg, einige gaben ihr Leben für ihr Heimatland. Aber das Zentrum – nennen wir es mal so – stand in diesem Moment auf der Seite Europas... Und man muss sich auch entschuldigen für den Skandal der Spaltung, zumindest für das, wo wir uns schuldig gemacht haben. Für den Geist der Selbstgenügsamkeit. Uns verschließt sich der Mund, wenn wir hören, dass wir uns entschuldigen müssen, aber mir tut es immer gut, daran zu denken, dass Gott nie müde wird zu vergeben, niemals. Wir sind es, die müde werden, um Vergebung zu bitten, und wenn wir Gott nicht um Vergebung bitten, werden wir kaum unsere Brüder und Schwestern darum bitten. Es ist schwieriger, einen Bruder um Vergebung zu bitten als Gott, denn wir wissen, dass er sagt: »Ja, geh nur, geh, dir ist vergeben«. Stattdessen gibt es bei den Mitmenschen Scham und Erniedrigung... Aber in der heutigen Welt brauchen wir die Haltung der Erniedrigung und der Bitte um Entschuldigung. Es geschehen so viele Dinge in der Welt, so viele vergeudete Menschenleben, so viele Kriege... Wie können wir da nicht um Vergebung bitten?
Um auf dieses Thema zurückzukommen, wollte ich mich für die Spaltungen entschuldigen, zumindest für die, die wir verursacht haben. Für die anderen ist es Sache der Verantwortlichen, dies zu tun, aber für unsere entschuldige ich mich. Und auch für diese Episode des Krieges, in der sich ein Teil der Katholiken auf die Seite der europäischen Regierung stellte und die Inselbewohner in den Krieg zogen, um zu verteidigen... Ich weiß nicht, ob das genug ist...
Und auch eine letzte Entschuldigung – diese kam mir vom Herzen – für den Skandal des Migrationsdramas, für den Skandal so vieler im Meer ertrunkener Menschen.
Matteo Bruni: Die zweite Frage bezog sich auf den synodalen Aspekt. Er [Joh. Chrysostomus] schreibt: »Die Kirche ist eine Synthese, in menschlicher Hinsicht besteht die Kirche aus Klerus und Laien, während wir für Gott eine einzige Herde sind«.
Papst Franziskus: Ja, wir sind eine Herde, das ist wahr. Und diese Trennung – Klerus und Laien – ist eine funktionale Trennung, ja, eine qualifikative, aber es gibt eine Einheit, eine einzige Herde. Und die Dynamik zwischen den Unterschieden innerhalb der Kirche ist die Synodalität: das heißt, einander zuhören und zusammen vorangehen. Syn odòs: gemeinsam einen Weg beschreiten. Dies ist die Bedeutung der Synodalität. Ihre orthodoxen Kirchen, auch die katholischen Ostkirchen, haben dies bewahrt. Dagegen hatte die lateinische Kirche die Synode vergessen, und es war der heilige Paul VI., der vor 54, 56 Jahren den synodalen Weg wiedereinführte. Und wir machen uns auf den Weg, um die Synodalität zur Gewohnheit zu machen, das gemeinsame Gehen.
Matteo Bruni: Die letzte Frage bezog sich auf Weihnachten, wo er sagte: »Ist es möglich, dass die Menschen nicht verstehen, dass das Christentum keine Ideologie ist, sondern eine Lebenserfahrung?« Sie wollen das streichen …
Papst Franziskus: Ah, Sie meinen das Dokument der Europäischen Union über Weihnachten... Das ist ein Anachronismus. In der Geschichte haben viele, viele Diktaturen versucht, dies zu tun. Denken Sie an Napoleon. Denken Sie an die Nazi-Diktatur, die kommunistische Diktatur... Es ist eine Art Mode von einem verwässerten Säkularismus, destilliertes Wasser... Aber das ist etwas, das in der Geschichte nicht funktioniert hat. Wenn ich über die Europäische Union spreche, fällt mir etwas ein, das ich für notwendig halte: Die Europäische Union muss die Ideale der Gründerväter, die Ideale der Einheit, der Größe, aufgreifen und sich davor hüten, einer ideologischen Kolonisierung Raum zu geben. Dies könnte zur Spaltung zwischen den Ländern und zum Scheitern der Europäischen Union führen. Die Europäische Union muss jedes Land so respektieren, wie es strukturiert ist. Die Vielfalt der Länder achten; nicht standardisieren wollen. Ich glaube nicht, dass sie das tun wird, das war nicht ihre Absicht; aber seien wir vorsichtig, denn manchmal kommen sie und schlagen Projekte wie dieses vor und wissen nicht, was sie tun sollen... Nein, jedes Land hat seine eigenen Besonderheiten, aber jedes Land ist offen für die anderen. Die Europäische Union: ihre Souveränität, die Souveränität der Geschwister in einer Einheit, die die Einzigartigkeit eines jeden Landes respektiert. Und passen wir auf, dass wir nicht zum Vehikel einer ideologischen Kolonisierung werden. Aus diesem Grund ist diese Intervention bezüglich Weihnachten ein Anachronismus.
Matteo Bruni: Ich danke Ihnen, Eure Heiligkeit. Die zweite – oder dritte – Frage kommt von Iliana Magra, von Kathīmerinī, einer griechischen Tageszeitung.
Iliana Magra, von Kathīmerinī (auf Englisch): Guten Morgen, Heiliger Vater, ich danke Ihnen für Ihren Besuch in Griechenland. In Ihrer Rede im Präsidentenpalast in Athen sprachen Sie von dem »Rückschritt« an Demokratie in der Welt und insbesondere in Europa...
Matteo Bruni: [übersetzt dem Heiligen Vater] Sie sprachen von einer Demokratie, die Rückschritte macht, einer Demokratie, die Raum aufgibt, die nachlässt...
Iliana Magra: Können Sie uns dazu etwas sagen, und können Sie uns sagen, auf welche Länder Sie sich bezogen? Und was würden Sie zu den rechtsextremen Führern und Wählern in Europa sagen, die sich als gläubige Christen bekennen, aber gleichzeitig undemokratische Werte und Politiken vertreten?
Papst Franziskus: Ja, die Demokratie ist ein Schatz, ein zivilisatorischer Schatz, und er muss bewahrt werden, er muss bewahrt werden, und zwar nicht nur von einer übergeordneten Instanz, sondern unter den Ländern selbst, indem man die Demokratie der anderen schützt. Ich sehe heute vielleicht zwei Gefahren für die Demokratie. Die eine ist die der Populismen, die hier, dort und über-all zu spüren sind und langsam ihre Krallen zeigen. Und ich denke dabei an einen großen Populismus des letzten Jahrhunderts: den Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus war ein Populismus, dem es gelang, durch die Verteidigung nationaler Werte – wie er behauptete – das demokratische Leben zu vernichten, ja, durch die Ermordung von Menschen zu einer blutigen Diktatur zu werden. Heute möchte ich sagen – weil Sie nach rechtsgerichteten Regierungen gefragt haben –, dass wir aufpassen müssen, dass die Regierungen – ich sage nicht links- oder rechtsgerichtete Regierungen, sondern etwas anderes – nicht auf diesen Weg der Populismen, der so genannten politischen »Populismen« abgleiten. Die nichts mit dem Popularismus [d.h. einer Art von Volkstümlichkeit] zu tun haben, die der Ausdruck des freien Volkes ist: das Volk, das sich mit seiner Identität, mit seiner Folklore, seinen Werten, seiner Kunst zeigt und sich selbst erhält.
Populismus ist eine Sache, Popularismus eine andere. Andernfalls wird die Demokratie geschwächt, sie tritt in einen langsamen Niedergang ein, wenn die nationalen Werte geopfert werden, wenn sie verwässert werden in Richtung – sagen wir ein hässliches Wort, ich will es nicht sagen, aber ich kann kein anderes finden – in Richtung eines »Imperiums«, einer Art supranationaler Regierung. Und das ist etwas, das uns zu denken geben sollte. Wir sollten nicht in Populismen verfallen, wo man an das Volk appelliert, aber es ist nicht das Volk, es ist die Diktatur von uns und dem Rest von uns – denken Sie an den Nationalsozialismus –, und wir sollten auch nicht in eine Verwässerung unserer Identitäten in einer internationalen Regierung verfallen.
Darüber gibt es einen Roman aus dem Jahr 1903. Sie werden sagen, dass dieser Papst in der Literatur altmodisch ist... Geschrieben von Benson, einem englischen Schriftsteller. Dieser Herr Benson schrieb einen Roman mit dem Titel »The Lord of the Earth« oder »The Lord of the World« – er hat beide Titel –, in dem er von der Zukunft einer internationalen Regierung träumt, in der mit wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen alle anderen Länder regiert werden.
Und wenn es diese Regierung, diese Art von Regierung, gibt, erklärt er, verliert man seine Freiheit und versucht, alle gleichzuschalten. Aber das passiert, wenn es eine Supermacht gibt, die anderen Ländern ihr kulturelles, wirtschaftliches und soziales Verhalten vorschreibt. Schwächung der Demokratie, ja, wegen der Gefahr des Populismus – der kein Popularismus ist, der ist schön – und der Gefahr dieser Bezüge zu internationalen Mächten: wirtschaftliche, kulturelle, was auch immer für Bezüge. Ich weiß nicht, das ist es, was mir in den Sinn kommt, ich bin kein Politikwissenschaftler, ich spreche von dem, wie es mir erscheint.
Matteo Bruni: Ich danke Ihnen, Eure Heiligkeit. Die dritte Frage stammt von Manuel Schwartz von der Deutschen Presse-Agentur (dpa), der deutschen Nachrichten-agentur:
Manuel Schwartz, Deutsche Presse-Agentur: Heiliger Vater, ich danke Ihnen vor allem dafür, dass Sie uns auf diese wichtige Reise mitgenommen haben. Migration ist nicht nur im Mittelmeerraum ein zentrales Thema, sondern auch in anderen Teilen Europas, insbesondere in Osteuropa, wo es so viele Stacheldrähte gibt, wie Sie es nannten, und auch die Krise in Belarus. Was erwarten Sie von den Ländern in dieser Region, z.B. Polen und auch Russland, und was erwarten Sie von anderen wichtigen Ländern in Europa, z.B. Deutschland, wo es nach der Ära von Angela Merkel nun eine neue Regierung geben wird?
Papst Franziskus: Was die Leute angeht, die die Migration verhindern oder die Grenzen schließen – jetzt ist es in Mode, Mauern zu bauen, Stacheldraht zu errichten, sogar Stacheldraht mit concertinas (Ziehharmonika-Stacheldraht), die Spanier wissen, was das bedeutet: es ist üblich, diese Dinge zu tun, um den Zutritt zu verhindern –, würde ich als Erstes sagen, wenn ich einen Regierenden vor mir hätte: »Denk doch an die Zeit, als du ein Migrant warst und man dich nicht rein ließ, als du aus deinem Land fliehen wolltest, und jetzt baust du die Mauern.« Das tut gut, denn wer Mauern baut, verliert das Gefühl für die Geschichte, für seine eigene Geschichte, für die Zeit, als er Sklave eines anderen Landes war. Nicht jeder hat diese Erfahrung gemacht, aber zumindest ein großer Teil derjenigen, die Mauern bauen, kennt diese Erfahrung, Sklaven gewesen zu sein. Sie werden mir vielleicht sagen: »Aber Regierungen haben die Pflicht zu regieren, und wenn eine solche Welle von Migranten kommt, können sie nicht regieren!« Ich möchte Folgendes sagen: Jede Regierung muss klar sagen: »Ich kann so viele aufnehmen«, denn die Regierenden wissen, wie viel sie aufnehmen können: Das ist ihr Recht, das ist wahr. Aber Migranten müssen aufgenommen, begleitet, gefördert und integriert werden. Wenn eine Regierung dazu nicht in der Lage ist, muss sie in einen Dialog mit den anderen treten, damit sich die anderen kümmern, jeder. Und deshalb ist die Europäische Union so wichtig, weil sie in der Lage ist, zwischen allen Regierungen eine Einigung über die Verteilung der Migranten zu erzielen. Aber denken Sie an Zypern, denken Sie an Griechenland, denken Sie an Lampedusa, denken Sie an Sizilien: Die Migranten kommen, und es gibt keine Harmonie zwischen allen Ländern der Europäischen Union, um diese hierhin, jene dorthin zu schicken... Es fehlt diese allgemeine Harmonie.
Und das letzte Wort, das ich gesagt habe, ist »integriert«, nicht wahr? Sie müssen aufgenommen, begleitet, gefördert und integriert werden. Integriert, warum? Wenn man den Migranten nicht integriert, wird dieser eine Gettobürgerschaft haben. Das Beispiel – ich weiß nicht, ob ich es schon einmal im Flugzeug gesagt habe – das Beispiel, das mich am meisten betroffen macht, ist die Tragödie von Zaventem: die Jugendlichen, die das Massaker am Flughafen verübten, waren Belgier, aber Kinder von gettoisierten, nicht integrierten Migranten. Wenn man einen Migranten nicht integriert – durch Bildung, Arbeit, mit der Sorge um Migranten – riskiert man, einen Guerillero zu haben, jemanden, der einem diese Dinge antut. Es ist nicht leicht, Migranten willkommen zu heißen, es ist nicht leicht, das Problem der Migranten zu lösen; aber wenn wir das Migrantenproblem nicht lösen, riskieren wir den Untergang der Zivilisation. Heute, in Europa, ist das der Stand der Dinge. Nicht nur die Migranten auf dem Mittelmeer haben Schiffbruch erlitten, sondern auch unsere Zivilisation. Deshalb müssen die Vertreter der europäischen Regierungen zu einer Einigung kommen. Für mich war Schweden – zu seiner Zeit – ein Modell der Integration, der Aufnahme und Integration, das alle latein-amerikanischen Migranten der Militärdiktaturen – Chilenen, Argentinier, Uruguayer, Brasilianer – aufnahm und integrierte. Und heute war ich in einer Schule in Athen und habe mich umgesehen und zum Übersetzer gesagt: »Aber sehen Sie, hier gibt es – ich habe ein bekanntes Wort benutzt – einen ›Obstsalat‹ von Kulturen, sie sind alle gemischt!« Und er antwortete: »Das ist die Zukunft Griechenlands«. Integration. In der Integration wachsen. Das ist sehr wichtig.
Und dann noch ein weiteres Drama, das ich hervorheben möchte: wenn die Migranten, bevor sie kommen, in die Hände der Menschenhändler fallen, die ihnen ihr gesamtes Geld abnehmen und sie auf das Boot bringen. Wenn sie zurückgeschickt [abgewiesen] werden, nehmen diese Menschenhändler sie mit. Im Dikasterium für Migranten [Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen – Sektion Migranten und Flüchtlinge] gibt es Filme darüber, was an den Orten geschieht, an die die zurückgeschickten Migranten gehen. So wie wir sie nicht aufnehmen und dann im Stich lassen können, weil wir sie begleiten, fördern und integrieren müssen, so muss ich, wenn ich einen Migranten zurückschicke, ihn begleiten, fördern und in seinem Land integrieren und darf ihn nicht an der libyschen Küste zurücklassen. Das ist Grausamkeit. Wenn Sie mehr darüber wissen möchten, wenden Sie sich an das Dikasterium für Migration, das diese Filme bereithält. Und es gibt auch einen Film – Sie kennen ihn sicher über »Open Arms«, der ein biss-chen romantisch ist, aber die Realität der Ertrinkenden zeigt. Das ist schmerzhaft. Aber wir riskieren die Zivilisation, wir riskieren die Zivilisation!
Matteo Bruni: Danke, Heiligkeit. Und nun eine Frage der französischsprachigen Journalisten: Dr. Cécile Chambraud von Le Monde wird die nächste Frage stellen.
Cécile Chambraud von Le Monde (auf Spanisch): Heiliger Vater, ich stelle diese Frage auf Spanisch für meine Kollegen. Als wir am Donnerstag in Nikosia ankamen, erfuhren wir, dass Sie den Rücktritt des Erzbischofs Aupetit von Paris angenommen haben. Können Sie erklären, warum, und warum so eilig? Die zweite Frage: Durch die Arbeit einer unabhängigen Kommission zum sexuellen Missbrauch hat die französische Bischofskonferenz anerkannt, dass die Kirche eine institutionelle Verantwortung für das Leid tausender Opfer trägt. Es wird auch von einer systemischen Dimension dieser Gewalt gesprochen. Was halten Sie von dieser Erklärung der französischen Bischöfe? Welche Bedeutung kann sie für die Weltkirche haben? Und eine letzte Frage: Werden Sie die Mitglieder dieser unabhängigen Kommission empfangen?
Papst Franziskus: Ich beginne mit der zweiten und komme dann auf die erste zurück. Wenn diese Studien durchgeführt werden, müssen wir bei den Interpretationen darauf achten, dass sie nach Zeitabschnitten geschehen. Wenn man einen so langen Zeitraum nimmt, besteht die Gefahr, dass man die Problemeinschätzung einer Epoche mit der von vor 70 Jahren verwechselt. Ich möchte nur eines sagen, als Prinzip. Eine his-torische Situation muss mit der Hermeneutik der damaligen Zeit interpretiert werden, nicht mit unserer. Zum Beispiel die Sklaverei: Wir sagen, dass sie eine Brutalität ist. Bei den Übergriffen von vor 100 oder 70 Jahren sagen wir, »das ist Brutalität«. Aber die Art und Weise, wie man sie erlebte, ist nicht dieselbe wie heute: Es gab eine andere Hermeneutik. Wenn es zum Beispiel um Missbrauch in der Kirche geht, um Vertuschung, wie sie – leider – auch heute noch in Familien, in einer großen Anzahl von Familien, in den Stadtvierteln praktiziert wird, Vertuschungsversuche, dann sagen wir: »Nein, das ist nicht richtig, wir müssen das aufdecken.« Aber man muss eine Epoche immer mit der Hermeneutik der Epoche interpretieren und nicht mit der unseren. Das ist der erste Punkt. Ein Beispiel dafür ist die berühmte Indianapolis-Studie, die aufgrund eines Mangels an korrekter Interpretation scheiterte. Einige Dinge waren wahr, andere nicht; die Epochen wurden vermischt. An dieser Stelle ist eine Aufteilung in Zeitsektoren hilfreich.
Über den Bericht: Ich habe ihn nicht gelesen und ich habe auch nicht die Kommentare der französischen Bischöfe gehört. Nein, ich weiß wirklich nicht, was ich darauf antworten soll. Die französischen Bischöfe werden noch in diesem Monat kommen, und ich werde sie bitten, mir die Sache zu erklären.
Und die erste Frage zum Fall Aupetit. Ich frage mich: Was hat Aupetit getan, das so schwerwiegend war, dass er zurücktreten musste? Was hat er getan? Jemand möge mir antworten ...
Cécile Chambraud: Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.
Papst Franziskus: Wenn wir den Anklagepunkt nicht kennen, können wir nicht verurteilen. Welches war die Anklage? Wer weiß es? [Niemand antwortet.] Das ist schlimm!
Cécile Chambraud: Ein Problem der Leitung [der Diözese] oder etwas anderes, wir wissen es nicht.
Papst Franziskus: Bevor ich antworte, werde ich sagen: Führt die Untersuchung durch. Führt die Untersuchung durch. Denn es besteht die Gefahr, dass man sagt: »Er ist verurteilt worden«. Aber wer hat ihn verurteilt? »Die öffentliche Meinung, das Gerede...« Aber was hat er getan? »Wir wissen es nicht. Etwas...« Wenn ihr wisst, warum, sagt es. Im Gegenteil, ich kann nicht antworten. Und ihr werdet den Grund nicht kennen, denn es war ein Fehler seinerseits, ein Verstoß gegen das sechste Gebot, aber nicht vollendet, sondern kleine Liebkosungen und Massagen, die er gab: so lautet die Anklage. Das ist eine Sünde, aber es ist nicht eine der schwersten Sünden, denn die Sünden des Fleisches sind nicht die schwersten. Die schwersten Sünden sind diejenigen, die mehr »Engelscharakter« haben: der Stolz, der Hass... diese sind schwerer. Aupetit ist also ein Sünder, genau wie ich.
Ich weiß nicht, ob Sie sich so wahrnehmen, aber vielleicht... so wie Petrus [Sünder war], der Bischof, auf den Christus die Kirche gegründet hat. Wie kommt es, dass die damalige Gemeinde einen sündigen Bischof akzeptiert hat? Und dies bei so »engelhaften« Sünden wie der Verleugnung Christi, nicht wahr? Aber es war eine normale Kirche, sie war es gewohnt, sich immer sündig zu fühlen, alle: es war eine demütige Kirche. Man sieht, dass unsere Kirche nicht daran gewöhnt ist, einen sündigen Bischof zu haben, und wir geben vor zu sagen: »Mein Bischof, der ist ein Heiliger«. Nein, das ist Rotkäppchen. Wir sind alle Sünder. Aber wenn das Gerede wächst und wächst und wächst und den guten Ruf eines Menschen wegnimmt, dann kann dieser Mensch nicht regieren, weil er seinen Ruf verloren hat, nicht wegen seiner Sünde – die Sünde ist, wie die des Petrus, wie die meine, wie die deine: sie ist Sünde! –, sondern wegen des Geschwätzes der Personen, die die Verantwortung dafür tragen, die Dinge erzählt zu haben. Ein Mann, dem auf diese Weise öffentlich der Ruf genommen wurde, kann nicht regieren. Und das ist eine Ungerechtigkeit. Deshalb habe ich den Rücktritt von Aupetit nicht auf dem Altar der Wahrheit, sondern auf dem Altar der Heuchelei angenommen. Das ist es, was ich sagen möchte. Danke.
Matteo Bruni: Danke, Heiligkeit. Vielleicht haben wir noch eine Minute für eine letzte Frage? Von Vera Shcherbakova von der TASS.
Papst Franziskus: Ah gut! Die »Nachfolgerin« von Alexei Bukalov … er war fähig …
Vera Shcherbakova: Ja, und ich vermisse ihn sehr; ich vermisse ihn sehr, das sage ich immer. Vielen Dank, Heiliger Vater, für Ihre Einstellung gegenüber unserem Bukalov, der ein Schatz für Russland und unsere Agentur war. Aber ich wollte Folgendes fragen: Sie haben auf dieser Reise die Oberhäupter der orthodoxen Kirchen getroffen, Sie haben wunderschöne Worte über die Gemeinschaft und die Wiedervereinigung gesagt. Wann wird Ihr nächstes Treffen mit Patriarch Kyrill sein? Was sind die gemeinsamen Projekte mit der russischen Kirche? Und auf welche Schwierigkeiten stoßen Sie womöglich auf diesem Weg der Annäherung? Danke.
Papst Franziskus: Danke. Das ist eine gute Frage!
Ein Treffen mit Patriarch Kyrill steht in einem nicht allzu fernen Horizont. Ich denke, dass Hilarion nächste Woche zu mir kommen wird, um ein mögliches Treffen zu vereinbaren, weil der Patriarch verreisen muss – ich weiß nicht, wohin er geht... er geht nach Finnland, aber ich bin mir nicht sicher. Ich bin immer bereit, ich bin auch bereit, nach Moskau zu gehen: Es gibt kein Protokoll für den Dialog mit einem Bruder. Bruder ist Bruder, vor jedem Protokoll. Und ich und mein orthodoxer Bruder – ob er nun Kyrill heißt, ob er Chrysostomos heißt, ob er Hieronymos heißt, er ist ein Bruder – wir sind Brüder, und wir sagen uns die Dinge ins Gesicht. Wir tanzen nicht ein Menuett, nein, wir sagen uns die Dinge ins Gesicht. Aber als Brüder. Es ist schön zu sehen, wie sich Brüder streiten: Es ist wunderschön, denn sie gehören zur selben Mutter, der Mutter Kirche, aber sie sind ein wenig gespalten, die einen wegen ihres Erbes, die anderen wegen der Geschichte, die sie getrennt hat... Aber wir müssen zusammen losgehen und versuchen, in Einheit und für die Einheit zu arbeiten und voranzuschreiten. Ich bin Hieronymos, Chrysostomos und allen Patriarchen dankbar, die diesen Wunsch haben, gemeinsam zu gehen. Die Einheit... Der große orthodoxe Theologe Zizioulas studiert die Eschatologie, und ich habe einmal im Scherz gesagt, dass wir im Eschaton die Einheit finden werden, dort wird es die Einheit geben. Aber das ist eine Redensart. Es bedeutet nicht, dass wir stillsitzen und darauf warten sollten, dass die Theologen sich verständigen, nein. Dies ist ein Satz, eine Redewendung, die Athenagoras zu Paul VI. gesagt haben soll: »Setzen wir alle Theologen auf eine Insel und gehen wir gemeinsam woanders hin.« Das ist ein Scherz. Aber die Theologen sollen weiter studieren, denn das tut uns gut und führt uns dazu, die Einheit richtig zu verstehen und zu finden. Aber in der Zwischenzeit schreiten wir gemeinsam voran. »Aber wie?« Ja, indem wir gemeinsam beten, gemeinsam Werke der Nächstenliebe tun. Ich denke zum Beispiel an Schweden, wo es eine gemeinsame lutherisch-katholische Caritas gibt. Sie arbeiten zusammen, oder? Gemeinsam arbeiten und beten: Das können wir tun. Den Rest sollen die Theologen machen, denn wir verstehen nicht, wie man das macht. Aber dies tun: Die Einheit beginnt heute, auf diesem Weg.
Matteo Bruni: Danke, Heiligkeit. Danke auch, dass Sie sich die Zeit genommen haben, unsere Fragen zu beantworten. Ich glaube, dass nun mehr oder weniger die Zeit für das Mittagessen gekommen ist.
Papst Franziskus: Vielen Dank, guten Appetit!
Matteo Bruni: Einige Journalisten wollten Ihnen eine Kopie der Akropolis von Athen, des Parthenon, schenken, weil sie enttäuscht waren, dass es Ihnen nicht gelungen ist, sie zu berühren.
Papa Franziskus: Ja, es bestand die Gefahr, dass ich abreisen würde, ohne ihn [den Parthenon] gesehen zu haben, und gestern Abend sagte ich: »Nein, ich will ihn sehen«. Sie brachten mich dorthin, ich sah ihn von weitem, beleuchtet: Zumindest habe ich ihn gesehen. Ich habe ihn nicht berührt, aber ich habe gesagt: »Danke für dieses Entgegenkommen«.