Dritte Meditation – Geboren von einer Frau

Die Geburt Jesu in der Gegenwart

 Die Geburt Jesu in der Gegenwart  TED-002
14. Januar 2022

»Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau.« Über die wichtige Bedeutung der letzten Worte – »geboren von einer Frau« – wollen wir in dieser letzten Meditation nachdenken. In der Bibel verweist der Ausdruck »geboren von einer Frau« auf das von Schwachheit und Sterblichkeit gekennzeichnete Sein des Menschen (vgl. Ijob 14,1; 15,14; 25,4). Es reicht aus, diese drei Worte zu streichen, um zu erkennen, wie wichtig sie sind. Was wäre Christus ohne sie? Eine himmlische, geisterhafte Erscheinung. Auch der Engel Gabriel wurde von Gott »gesandt«, aber um dann so in den Himmel zurückzukehren, wie er gekommen war. Maria, die Frau, ist diejenige, die den Sohn Gottes für immer in der Menschheit und der Geschichte »verankert« hat.

So haben die Kirchenväter, die gegen die Häresien der Gnostik und des Doketismus zu kämpfen hatten, die Worte des heiligen Paulus verstanden. Zu Recht unterstrichen zum Beispiel Ignatius von Antiochien (Briefe an Tral-leis 9,1; Smyrna 1) und Irenäus von Lyon (Adv. Haer. III, 16,3) die Parallele zwischen dem »geboren von einer Frau« und dem, was Paulus im Römerbrief (1,3) sagt: »dem Fleisch nach geboren als Nachkomme Davids«. Bei Ignatius von Antiochien finden sich außerdem folgende schwindelerregende Worte: Er sagt, dass Jesus »von Maria und von Gott« geboren wurde, so wie wir sagen, jemand ist Sohn dieses Mannes und jener Frau. Tatsächlich ist Maria im ganzen Universum die einzige, die sich mit denselben Worten wie der himmlische Vater an Jesus wenden kann: »Mein Sohn bist du…«

Tertullian merkt an, dass der Apostel nicht sage »factum per mulierem«, sondern »factum ex mulierem«, das heißt geboren aus einer Frau, nicht durch eine Frau. Damit widerspricht er der doketistischen Häresie, die sich zwar weiterentwickelt hatte und etwas weniger radikal geworden war. Doch sie besagte, dass Jesus zwar Fleisch angenommen habe, dieses aber himmlischen, nicht irdischen Ursprungs sei und durch Maria hindurchgegangen sei wie durch einen Kanal, womit sie der Weg wäre, aber nicht die Mutter (vgl. De carne Christi, 20).

Leo der Große stellt den paulinischen Ausdruck »geboren von einer Frau« in den Mittelpunkt des christologischen Dogmas, wenn er im Tomo a Flaviano (Brief 28) schreibt, dass Christus »Mensch ist aufgrund der Tatsache, dass er ›von einer Frau geboren und dem Gesetz unterstellt ist‹… Die Geburt im Fleisch ist ein klarer Beweis seiner menschlichen Natur.« Ebenso sehen wir, dass sich in Bezug auf den paulinischen Ausdruck »geboren von einer Frau« das große exegetische Grundprinzip verwirklicht, das Gregor der Große formuliert hat, das heißt: »Die Heilige Schrift wächst mit den Lesern« (Hiobkommentar XX,1). Schon der heilige Irenäus (Adv. Haer. IV, 40,3) liest Galater 4,4 im Licht von Genesis 3,15: »Feindschaft setze ich zwischen dir und der Frau.« Maria ist somit als Frau die Rekapitulation
von Eva, der Mutter aller Lebendigen – keine Rand-erscheinung, die die Bühne betritt, um dann wieder im Nichts zu verschwinden, sondern die Erfüllung einer biblischen Tradition, die die gesamte Bibel von Anfang bis Ende durchzieht. Das beginnt bei der Frau, der »Tochter Zion«, als Personifizierung des ganzen Volkes Israel und endet mit der Frau aus der Apokalypse, »mit der Sonne bekleidet und dem Mond unter ihren Füßen« (12,1), die die Kirche darstellt.

»Frau« ist der Ausdruck, mit dem sich Jesus in Kana und am Kreuz an seine Mutter wendet. Es ist schwierig, um nicht zu sagen un-möglich, im Denken des Evangelisten Johannes keinen Zusammenhang zwischen diesen beiden Frauen zu sehen: zwischen der Frau als Symbol der Kirche und zwischen der realen Frau Maria. Diese Verbindung wird vom zweiten Vatikanum im Text von Lumen gentium aufgegriffen, wo gerade deswegen Maria im Rahmen der Konstitution über die Kirche behandelt wird.

Christus muss von der Kirche geboren werden

Seit einiger Zeit ist viel von der Würde der Frau die Rede. Der heilige Johannes Paul II. hat ein Apostolisches Schreiben zu diesem Thema verfasst: Mulieris dignitatem. Aber so viel Würde wir Menschen auch immer der Frau zusprechen können, wir werden immer unendlich hinter dem zurückbleiben, was Gott getan hat, als er eine von ihnen erwählte, die Mutter seines menschgewordenen Sohnes zu sein, auch wenn wir so viele Sprachen hätten, wie es Gräser auf der Erde gibt, so hat jemand geschrieben (Luther, Kommentar zum Magnifikat, WA 7, S. 572f).

Viel wurde in letzter Zeit getan, um die Präsenz von Frauen auf der Entscheidungsebene der Kirche zu vergrößern und anderes bleibt vielleicht noch zu tun. Aber nicht damit wollen wir uns hier befassen. Wir haben uns vielmehr mit einem anderen Bereich zu befassen, in dem die Unterscheidung Mann/Frau keine Rolle spielt, weil die Frau, von der die Rede ist, für die ganze Kirche steht, das heißt für Männer und Frauen gleicherweise.

Kurz gesagt geht es um Folgendes: Jesus wurde einmal von Maria physisch im Leib geboren und muss jetzt geistlich von der Kirche und jedem einzelnen Gläubigen geboren werden. Eine im Kern auf Origenes zurückgehende exegetische Tradition hat sich in der Formel kristallisiert: »Maria, vel Ecclesia, vel anima.« Maria, das heißt die Kirche, das heißt die Seele. Hören wir, wie ein mittelalterlicher Autor, Isaak von Stella, diese Lehre formuliert: »Was daher in den von Gott inspirierten Schriften von der jungfräulichen Mutter Kirche in umfassendem Sinn gesagt wird, das gilt von der Jungfrau Maria im Einzelnen. Was von der jungfräulichen Mutter Maria im Besonderen gesagt wird, das ist von der jungfräulichen Mutter Kirche im Allgemeinen zu verstehen. […] Leicht erkennt der Verstand in beiden auch die glaubende Seele, die Braut des Wortes Gottes, die Mutter Christi, Tochter und Schwes-ter, Jungfrau und fruchtbare Mutter. In umfassendem Sinn sagt es also die Wahrheit Gottes, das Wort des Vaters, von der Kirche, im Besonderen von Maria, im Einzelnen von jeder glaubenden Seele« (Sermo 51).

Beginnen wir bei der Anwendung auf die Kirche. Wenn im »volleren Sinn« (dem sogenannten »sensus plenior«) die Frau in der Heiligen Schrift für die Kirche steht, dann beinhaltet die Aussage, dass Jesus von einer Frau geboren wurde, dass er heute von der Kirche geboren werden muss!

Es gibt eine bei den Orthodoxen sehr verbreitete Ikone, die »Panhagia« genannt wird, das heißt die Allheilige. Sie zeigt die stehende Gottesmutter in Ganzfigur, vor ihrem Oberkörper, wie aus ihrem Inneren hervorbrechend, zeichnet sich das Jesuskind ab, das die Majestät eines Erwachsenen hat. Der Blick der Gläubigen wird zunächst vom Kind angezogen, bevor er auf die Mutter fällt. Sie ist mit erhobenen Armen dargestellt, als wolle sie dazu einladen, auf das Kind zu blicken und ihm Raum zu geben. So sollte die Kirche sein. Wer auf sie blickt, sollte nicht bei ihr stehen bleiben, sondern Jesus sehen. Das ist der Kampf gegen die Autoreferentialität der Kirche, den die beiden letzten Päpste, Benedikt XVI. und Franziskus, oft angesprochen haben.

Franz Kafka hat eine Erzählung geschrieben, die in dieser Hinsicht ein starkes religiöses Symbol sein kann. Sie trägt den Titel Eine kaiserliche Botschaft und handelt von einem Kaiser, der auf dem Totenbett einen seiner Untergebenen zu sich ruft und ihm eine Botschaft ins Ohr flüstert. Diese Botschaft ist so wichtig, dass er sie sich seinerseits wiederholen lässt, ins Ohr geflüstert. Mit einem Nicken entlässt er den Boten, der sich auf den Weg macht. Aber hören wir die Fortsetzung im Originaltext, der sich durch einen albtraumhaften Ton auszeichnet, wie es für Kafka typisch ist: »Einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er sich Bahn durch die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwärts, wie kein anderer. Aber die Menge ist so groß; ihre Wohnstätten nehmen kein Ende. Öffnete sich freies Feld, wie würde er fliegen und bald wohl hörtest du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an deiner Tür. Aber statt dessen, wie nutzlos müht er sich ab; immer noch zwängt er sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müsste er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen –, liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. Du aber sitzt an deinem Fenster und erträumst sie dir, wenn der Abend kommt.«

Beim Lesen dieser Erzählung kann man nicht anders, als an Christus zu denken, der vor seiner Heimkehr zum Vater der Kirche die Botschaft anvertraut hat: »Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung!« (Mk 16,15). Und man kann nicht anders, als an die vielen Menschen zu denken, die am Fenster sitzen und, ohne es zu wissen, eine Botschaft erträumen wie die seine.

Wir müssen alles uns Mögliche tun, damit die Kirche niemals dieser komplizierte Palast voller Hindernisse wird, wie ihn Kafka beschreibt, und die Botschaft frei und freudig aus der Kirche hinausgehen kann, wie zu der Zeit, als sie ihren Lauf begann. Wir kennen die »Trennmauern«, die die Botschaft aufhalten können. Es sind vor allem die Mauern, die die verschiedenen christlichen Kirchen voneinander trennen, dann die übertriebene Bürokratie, die Reste eines mittlerweile sinnlos gewordenen Zeremoniells: Roben, Gesetze, Streitfragen vergangener Zeiten, die mittlerweile nur noch Trümmer sind.

Es geschieht wie bei gewissen alten Gebäuden. Um sich den momentanen Bedürfnissen anzupassen, haben sie sich im Lauf der Jahrhunderte mit Zwischenwänden, Treppen, Zimmern, Zimmerchen und Abstellräumen angefüllt. Dann kommt der Augenblick, wo man merkt, dass all diese Anpassungen nicht mehr den aktuellen Bedürfnissen entsprechen, ja vielmehr ein Hindernis darstellen. Und dann muss man den Mut haben, sie zu beseitigen und das Gebäude wieder zur ursprünglichen linearen Einfachheit zurückführen, im Hinblick auf eine neue Nutzung.

Ich habe die Erzählung Kafkas und seine Anwendung auf die Kirche in der Predigt erwähnt, die ich am Karfreitag 2013 im Petersdom gehalten habe, im ersten Pontifikatsjahr des aktuellen Papstes. Wenn ich mir erlaubt habe, dies hier zu wiederholen, dann, um Gott zu danken für die Fortschritte, die die Kirche in der Zwischenzeit gemacht hat, um aus sich selbst hinaus und auf die »existentiellen Randgebiete der Welt« zuzugehen und ihnen die Botschaft Christi zu bringen.

Christus muss von der Seele geboren werden

Jetzt müssen noch über etwas nachdenken, was alle ohne Unterschied ganz nah betrifft: die Geburt Christi in der Seele des Gläubigen. Der heilige Maximus Confessor schreibt in seinem Kommentar zum Vaterunser: »Immer wird Christus mystisch in der Seele geboren, indem er Fleisch wird durch die Erlösten und die gebärende Seele so zur jungfräulichen Mutter wird.«

Wie man Mutter Christi wird, erklärt uns Jesus im Evangelium: indem wir das Wort Gottes hören und es tun (vgl. Lk 8,21). Es ist wichtig festzustellen, dass wir zweierlei tun müssen. Auch Maria wurde Mutter Christi in zwei Momenten, zuerst, indem sie ihn empfing, und dann, indem sie ihn gebar.

Es gibt zwei Arten unvollständiger Mutterschaft oder zwei Arten des Abbruchs der Mutterschaft. Eine tritt dann ein, wenn ein Leben empfangen, aber nicht geboren wird, weil der Embryo aus natürlichen Ursachen oder aufgrund der Sünde der Menschen stirbt. Bis vor Kurzem war dies der einzige bekannte Fall einer unvollständigen Mutterschaft. Heute gibt es noch einen anderen Fall, der im Gegenteil darin besteht, ein Kind zu gebären, ohne empfangen zu haben, und zwar wenn im Reagenzglas gezeugte Kinder in die Gebärmutter einer Frau übertragen werden oder wenn Leihmütter womöglich gegen Bezahlung ein anderswo gezeugtes Kind austragen. In diesem Fall kommt das, was die Frau zur Welt bringt, nicht von ihr selbst, es wurde nicht »zuerst im Herzen und dann im Leib« empfangen, wie Augus-tinus über Maria sagt.

Leider gibt es auch auf geistlicher Ebene diese beiden traurigen Fälle. Wer das Wort Gottes annimmt, ohne es zu tun, wer eine spirituelle Abtreibung nach der anderen erlebt, indem er Vorsätze zur Umkehr fasst, die dann systematisch vergessen und auf halber Strecke liegengelassen werden, empfängt zwar Jesus, aber ohne ihn zu gebären. Der heilige Jakobus sagt, dass dies diejenigen sind, die ihr eigenes Gesicht schnell im Spiegel betrachten und dann weggehen und schon vergessen haben, wie sie aussahen (vgl. Jak 1,23-24).

Im Gegensatz dazu gebiert jemand Jesus, ohne ihn empfangen zu haben, wenn er viele, auch gute Werke tut, die aber nicht aus dem Herzen kommen, nicht aus Liebe zu Gott und in der rechten Absicht getan werden, sondern vielmehr aus Gewohnheit, Heuchelei, Ruhmsucht und Eigennutz oder bloß aus der Befriedigung, die das Tun an sich verleiht. Unsere Werke sind nur dann »gut«, wenn sie aus dem Herzen kommen, wenn sie aus der Liebe Got-tes und im Glauben entstehen. Mit anderen Worten, wenn die Absicht, die uns leitet, recht ist, oder man sich wenigstens bemüht, sie zu korrigieren.

Beim heiligen Franziskus gibt es im Brief an die Gläubigen ein Wort, das gut zusammen-fasst, was ich hier ins Licht rücken möchte. Es lautet: »Mütter sind wir, wenn wir Jesus durch die göttliche Liebe und ein reines und lauteres Gewissen in unserem Herzen und Leibe tragen; wir gebären ihn durch ein heiliges Wirken, das anderen als Vorbild leuchten soll.«

Das heißt, wir empfangen Christus, wenn wir ihn mit aufrichtigem Herzen und redlichem Gewissen lieben; und wir bringen ihn zur Welt, wenn wir heilige Werke tun, die ihn der Welt offenbaren und den Vater verherrlichen, der im Himmel ist (vgl. Mt 5,16). Der heilige Bonaventura hat diesen Gedanken weiterentwickelt in einem kleinen Werk mit dem Titel Die fünf Feste des Jesuskindes. Diese Feste sind für ihn: Empfängnis, Geburt, Beschneidung, Epiphanie und Darstellung im Tempel. Der Heilige erklärt, was man tun muss, um jedes dieser Feste geistlich im eigenen Leben zu feiern. Ich beschränke mich hier auf das, was er zu den ersten beiden Festen sagt: Empfängnis und Geburt.

Dem heiligen Bonaventura zufolge empfängt die Seele Jesus, wenn sie gleichsam geistlich befruchtet wird von der Gnade des Heiligen Geistes und den Vorsatz eines neuen Lebens fasst, denn unzufrieden mit dem Leben, das sie führte, wurde sie von heiliger Sehnsucht gedrängt und in heiligem Eifer entflammt und wandte sich energisch von ihren alten Gewohnheiten und Fehlern ab. So hat die Empfängnis Christi stattgefunden!

Nach der Empfängnis wächst der Sohn Got-tes im Herzen, wenn – nach einer gesunden Entscheidungsfindung, dem Einholen eines angemessenen Rates und der Anrufung der Hilfe Gottes – die Seele ihren heiligen Vorsatz unmittelbar umsetzt und all das zu verwirklichen beginnt, was seit längerem in ihr herangereift ist, das sie aber immer aufgeschoben hatte aus Angst, dazu nicht in der Lage zu sein.

Aber eines muss unterstrichen werden: Dieser Vorsatz zu einem neuen Leben muss ohne Zögern in etwas Konkretes umgesetzt werden, eine Veränderung in unserem Leben und unseren Gewohnheiten, die möglichst auch äußerlich erkennbar sein soll. Wenn der Vorsatz nicht umgesetzt wird, dann ist Jesus empfangen, aber nicht geboren worden. Es ist eine der vielen geistlichen Abtreibungen. So wird man niemals »das zweite Fest« des Jesuskindes feiern, das Weihnachten ist. Es gehört zu den vielen aufgeschobenen Dingen, von denen unser Leben vielleicht durchzogen ist.

Eine kleine Veränderung, mit der wir beginnen könnten, könnte darin bestehen, ein wenig Stille um uns und in uns zu schaffen. Bei der Generalaudienz am 15. Dezember hat der Heilige Vater gesagt: »Wie schön wäre es, wenn ein jeder von uns nach dem Vorbild des heiligen Josef diese kontemplative Dimension des Lebens zurückerlangen könnte, die sich gerade in der Stille auftut.« Eine alte Antiphon der Weihnachtszeit besagt, dass das Wort Gottes vom Himmel herabkam »dum medium silentium tenerent omnia«, während tiefes Schweigen das All umfing.

Wir wollen vor allem versuchen, den Lärm zum Schweigen zu bringen, der in uns herrscht, ständige Denkprozesse unseres Verstandes über Menschen und Tatsachen, aus denen wir unweigerlich als Sieger hervorgehen. Wir wollen uns von Anklägern unserer Brüder und Schwestern in deren Verteidiger verwandeln und daran denken, wie viel sie uns vorzuhalten hätten. In den kirchenrechtlichen Gerichtsprozessen sprach der Richter – zumindest in der Vergangenheit – nach der Verlesung der Anklage die Formel: »Audiatur et altera pars.« Jetzt soll die gegnerische Seite gehört werden. Wenn wir uns beim Urteilen erwischen, dann wollen wir lernen, diese Formel mit Entschiedenheit an uns selbst zu richten: »Audiatur et altera pars!« Versuche, dich in deinen Nächsten hineinzuversetzen.

Schließen wir mit einem Gedanken an Maria. Tolstoi sagt etwas über die schwangere Frau, das uns helfen kann, die Jungfrau Maria zu verstehen und nachzuahmen. Der Blick einer Frau in Erwartung eines Kindes, so sagt er, hat eine seltsame Sanftheit und ist mehr nach innen gerichtet als nach außen, weil in ihr jene Realität ist, die für sie das Schönste auf der Welt ist. So war der Blick Marias, die den Schöpfer der Welt in sich trug. Wir wollen sie nachahmen, indem wir uns einige Momente echter Sammlung gönnen, um Jesus zu ermöglichen, in unserem Herzen geboren zu werden. Den Versuch der säkularisierten Kultur, Weihnachten aus der Gesellschaft zu streichen, beantwortet man am besten damit, dass man dieses Fest verinnerlicht und es zum Wesentlichen zurückführt.

In wenigen Tagen schließt das Dantejahr aus Anlass seines 700. Todestages. Zum Abschluss wollen wir uns das wundervolle Gebet zur Jungfrau Maria aus dem letzten Gesang des Paradieses zu eigen machen. Wie Paulus und wie Johannes nennt Dante Maria »Frau« (»hohe Herrin«):

O Jungfrau Mutter,
Tochter deines Sohnes,

demütigste und höchste der Erschaffnen,

vorherbestimmtes Ziel
vom ew’gen Ratschluss.

Du bist es, die die menschliche Natur

so hoch geadelt,
dass ihr eigner Schöpfer

es nicht verschmäht,
in ihr Geschöpf zu werden.

In deinem Schoß entflammte neu
die Liebe,

durch deren Wärme hier
im ew’gen Frieden

sich diese Blume also hat entfaltet.

Der Liebe mittagshelle Fackel bist du

hier oben uns;
den Sterblichen dort unten

bist du der Hoffnung lebensvolle Quelle.

Solch’ hohe Herrin bist,
soviel vermagst du,

dass wer nach Gnade sucht
und dich nicht anruft,

des Wünschen möchte fliegen
ohne Flügel.

Doch Hilfe leistet deine Huld nicht nur

dem, der dich bittet;
oftmals eilt freiwillig

der Bitte des Bedürft’gen sie voraus.

In dir ist Mitleid und in dir Erbarmen,

in dir ist Großmut, ja, in dir vereint sich

was immer im Geschöpfe ist an Güte.

Kardinal Raniero Cantalamessa OFMCap