Das weltweite Netz der Ordensfrauen von Talitha Kum
Sie sprach nicht von »Menschenhandel«. Sie wusste nur, dass diese junge und schöne Albanerin ein Opfer unsäglicher Gewalt geworden war. Ein perverses System, das sie zwang, auf den Strich zu gehen, obwohl sie AIDS-krank war.
Es gab kein Entrinnen: wenn sie geflohen wäre oder versucht hätte, sich aufzulehnen, dann hätten »diese Leute« - wie sie sie nannte – an ihrem erst wenige Jahre alten Kind und am Rest der Familie Rache genommen. »Diese Geschichte raubte mir den Schlaf«, erzählt Gabriella Bottani, Comboni-Missionsschwester und internationale Koordinatorin von Talitha Kum, dem internationalen Netzwerk des geweihten Lebens gegen den Menschenhandel. Zu jener Zeit war Gabriella eine Postulantin, die die Dreißig seit Kurzem überschritten hatte und sich dafür engagierte, den Obdachlosen zu helfen, die wie wehrlose Körper in der Gegend des Bahnhofs Termini sich selbst überlassen waren. »Es war mir nie in den Sinn gekommen, mich mit Menschenhandel zu befassen, ich wusste nicht einmal genau, was das eigentlich wäre. Zu jener Zeit war das kein Gesprächsthema. Dieses Phänomen war damals noch kaum bekannt. Deshalb verstand ich nicht so ganz, in was für einem Käfig dieses Mädchen gefangen war. Ich wusste nur, dass soviel Grausamkeit mir unerträglich erschien«, so erzählt sie. Dasselbe Gefühl, das sie einige Jahre später in Deutschland empfinden sollte, wo sie Seite an Seite mit irregulären Einwanderern arbeitete und wo sie eine schwangere Nigerianerin traf, die in einem Hilfszentrum untergekommen war und einige Tage vor ihrer Niederkunft verschwand. »Man hat uns erzählt, dass ein paar Männer in einem Auto sie abgefangen und weggebracht haben.«
Erst später, in Fortaleza in Brasilien, hatte Gabriella Bottani Gelegenheit, das Thema zu vertiefen, als sie eine Abhandlung las, derzufolge diese Stadt und der Rest des Bundesstaates – Ceará – eines der wichtigsten Zentren des Menschenhandels war. Und nun endlich kann sie die Stücke des Puzzles richtig zusammensetzen. »Die Geschichten dieser Frauen sind in meinen Gedanken und in meinem Herzen wieder mit all ihrer dramatischen Macht an die Oberfläche gedriftet. Und ich habe beschlossen, mich im Kampf gegen den Menschenhandel zu engagieren, Seite an Seite mit den Menschen, die dieses Drama in ihrem Leben durchgemacht haben.«
Auch bei Sr. Carmen Ugarte García von der Kongregation der Oblatinnen des Heiligsten Erlösers (Hermanas Oblatas del Santísimo Redentor, Ordenskürzel O.S.R.), und Abby Avelino von den Maryknoll-Schwestern von St. Dominic war es die Begegnung mit einem anderen Menschen – vielmehr: einer anderen Frau in Fleisch und Blut -, die den Funken des Engagements gegen die Sklavereien unserer Zeit hat überspringen lassen. Erst die brutale Ausbeutung weiblicher Prostituierten in Mexiko, als Zweites dann jene philippinischer Migrantinnen, die mit falschen Versprechungen nach Japan gelockt wurden, um wie Handelsware zu Niedrigstpreisen ge- und verkauft wurden. »Ihre Erzählungen waren so etwas wie eine Sprungfeder, sie haben etwas in meinem Inneren ausgelöst. So habe ich angefangen, mich dem Kampf gegen den Menschenhandel zu widmen«, sagt Sr. Abby, die vor 56 Jahren auf den Philippinen zur Welt kam und in Japan lebt, wo sie die Arbeit von Talitha Kum in Asien koordiniert. Dieselbe Rolle, die Sr. Carmen, eine 57-jährige Mexikanerin, die in Porto Rico im Einsatz ist, für Lateinamerika spielt.
Gabriella, Carmen und Abby sind verschieden, ihrer Herkunft, Kultur und der Ordensfamilie nach, der sie angehören. Aber sie sind vereint durch die ihnen alle gemeine Leidenschaft dafür, dem Menschenhandel entgegenzuwirken, in dem – zu niedrig angesetzten – Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge vierzig Millionen Menschen gefangen sind. Jede vierte dieser Personen ist jünger als 18 Jahre. Über siebzig Prozent von ihnen sind Frauen. Es kommt also nicht überraschend, dass das weibliche Ordensleben Pioniersarbeit in der Kirche geleistet hat, und zwar nicht nur im Kampf gegen diese Geißel. Frauen, die sich dafür entschieden haben und auch weiterhin dafür entscheiden, sich zu engagieren, um die Befreiungsprozesse anderer Frauen zu begleiten.
»Ich habe mich immer darum bemüht, eine Beziehung von Mensch zu Mensch zu ihnen aufzubauen, ohne zu urteilen und ohne eine Aufgabe zu bekleiden. Die Nähe zu den Opfern hat mich damit beschenkt, in der einen oder anderen Gott zu begegnen«, bekennt Sr. Gabriella. »Sie nennen uns Schwestern, sie respektieren uns und lieben uns, weil sie wissen, dass sie wichtig für uns sind. Mit ihnen zu arbeiten ist für mich eine unablässige Schule, sie sind voller Überraschungen, voller Kraft, voller Widerstandsfähigkeit angesichts eines Prostitutionssystems, das versucht, sie zu erniedrigen und sie zum Objekt zu reduzieren, ohne dass ihnen das je ganz gelänge«, fügt Sr. Carmen hinzu. Und sie spricht ganz deutlich aus: »In Mexiko ist Gewalt gegen Frauen ganz alltäglich und enorm. Man hat Mexiko als das ›Land des Frauenmordes‹ bezeichnet.« Es ist keine Seltenheit, dass man an Lichtmasten oder an Bushaltestellen die Fotos von Teenagern oder Mädchen entdeckt, die eine unheimliche Beschriftung aufweisen: desaparecida, vermisst. »Die Entführungen und der Verkauf von kleinen Mädchen oder solchen im Teenageralter nehmen dramatisch zu«, fährt die Koordinatorin von Talitha Kum in Lateinamerika fort. »Die meisten von ihnen werden – oft mit der Komplizenschaft ihrer Freunde oder Partner – auf dem boomenden Sexmarkt verkauft. Eben deshalb sind es, wenn die Frauen weltweit insgesamt zwei Drittel der Opfer des Menschenhandels stellen, in Mexiko über 85 Prozent. Ich habe das nie ertragen können. Deshalb habe ich seinerzeit beschlossen, bei den Oblatinnen des Heiligsten Erlösers einzutreten, die seit über 150 Jahren an der Seite der Frauen gehen, die sexuell ausgebeutet werden. Sie sind es, die uns den Weg zeigen. Auf dem Strich habe ich viele alleinstehende Frauen getroffen, die jedweder Art von Gefahren ausgesetzt waren und die von denen getäuscht worden waren, die sie liebten. Frauen, die eine Arbeit suchten und keine andere Form des Überlebens gefunden haben, als den eigenen Körper zu verkaufen, obwohl ihnen oft noch nicht einmal das Kleingeld für ein Busticket bleibt. Frauen, die die volle Verantwortung für ihre Kinder übernehmen, und die Angst haben, dass diese herausfinden könnten, was sie tun, um ihren Unterhalt aufzubringen. Frauen, die es immer noch fertigbringen, davon zu träumen, genügend Geld auf die Seite zu bringen, um ein neues Leben anzufangen. Frauen, die vor der Zeit gealtert sind, im Elend, weil sie keiner mehr will. Frauen, die nicht aufgeben. Gerade sie sind es, die uns die Kraft geben, daran zu glauben, dass das Böse nie das letzte Wort behält.«
Die Frauen, vor allem die Migrantinnen aus Bangladesch, Thailand, Indonesien, Indien, Pakistan und den Philippinen, sind auch das hauptsächliche Ziel der Menschenhändler in Asien. »Dazu kommt noch die Tragödie der durch Schulden verursachten Versklavung von Menschen, Männern wie Frauen, hinzu, die zu Zwangsarbeitern jedweder Art gemacht werden, um für gewöhnlich kleine Summen zurückzubezahlen, die aufgenommen worden waren, um eine Notlage zu überbrücken. Oft handelt es sich hierbei um Kinder«, unterstreicht Sr. Abby. Dramen, die durch die Pandemie jetzt noch verstärkt wurden. »Covid hat die Anfälligkeit bestimmter sozialer Gruppen, wie z. B. Frauen, die unverhältnismäßig stark von den wirtschaftlichen Auswirkungen des Virus betroffen sind, exponentiell erhöht«, erklärt Sr. Gabriella Bottani. »Die sexuelle Ausbeutung im privaten Bereich, ›indoor‹, wie das genannt wird, und im Internet hat überall zugenommen. Praktiken, die noch schwerer zu erkennen sind.« Auf den Philippinen hat die virtuelle Pädophilie seit Beginn der Pandemie gar um 264 Prozent zugenommen. »Außerdem haben in Japan wie in vielen asiatischen Ländern die Lockdowns zur Schließung vieler Firmen geführt. Diejenigen, die offen geblieben sind, haben ihre Dienstleistungen für ausländische Studenten und Praktikanten reduziert, die damit über Nacht ihre Einkommensquelle verloren haben. In einem fremden Land gefangen und aufgrund von Reisebeschränkungen und fehlenden Mitteln nicht in der Lage, nach Hause zurückzukehren, sind sie in die Hände von Menschenhändlern geraten, um zu überleben.«
Es steht außer Zweifel, dass es eine Verbindung gibt zwischen irregulären [Migranten]strömen und Menschenhandel. Die durch Covid ausgelösten Krisen sind ein starker Expansionsfaktor, der durch die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels noch verstärkt wird. »Wir werden es deshalb nicht müde«, sagt Sr. Gabriella, »die Staaten aufzufordern, legale und sichere Migrationsrouten zu schaffen. Und für die Opfer des Menschenhandels Genehmigungen zu fordern, die es ihnen langfristig ermöglichen, vollständig in die Wohlfahrtsmechanismen eingegliedert zu werden.« In einer Welt, die von der Angst vor dem Anderen beherrscht wird und die in ihren eigenen Mauern gefangen ist, lässt die Antwort auf sich warten. In der Zwischenzeit wird der Schmerzensschrei der Opfer ohrenbetäubend laut. Und fordert die Kirche heraus. »Bereits in Gaudium et spes ist die Rede vom Menschenhandel«, so erklärt die internationale Koordinatorin von Talitha Kum. »Unter Papst Franziskus ist diese schwerwiegende Menschenrechtsverletzung zu einem zentralen Thema des Pontifikats geworden. In seinem Lehramt sind alle Elemente für ein starkes Engagement zur Anprangerung und Begleitung enthalten. Eine Aufgabe, die vor allem - aber nicht ausschließlich - vom weiblichen Ordensleben erfüllt wird. Eine weitere Herausforderung besteht nun darin, alle Menschen, vor allem aber die Männer, in den Kampf gegen den Menschenhandel einzubeziehen, der im Grunde eine anhaltende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern impliziert. An diesem Aspekt sollten wir stärker arbeiten und zu fairen, gewaltfreien Beziehungen erziehen, die die Unterschiede respektieren.«
Von Lucia Capuzzi
Journalistin der katholischen Tageszeitung »Avvenire«