Liebe Brüder und Schwestern!
Dem heiligen Augustinus zufolge ist die ganze Vollkommenheit unseres Lebens in der »Bergpredigt« (vgl. Mt 5) enthalten; und er beweist es durch die Tatsache, dass Jesus Christus in sie das Ziel einschließt, zu dem sie uns führt: die Verheißung der Glückseligkeit.1 Glückselig zu sein ist das, wonach der Mensch sich am meisten sehnt. Daher verheißt der Herr die Glückseligkeit allen, die nach seinem Stil leben und als »Selige« erkannt werden wollen.
Die ganze Glückseligkeit ist in diesen seligen Worten Christi enthalten. Obgleich aber alle Menschen die Glückseligkeit wünschen, ist ihr konkretes Urteil darüber verschieden: Einige wünschen dies, andere das. Heute begegnen wir einem herrschenden Paradigma, das durch das »Einheitsdenken« sehr verbreitet ist und Nutzen mit Glückseligkeit verwechselt, Vergnügen mit gutem Leben. Es erhebt den Anspruch, zum einzigen gültigen Entscheidungskriterium zu werden: eine subtile Form des ideologischen Kolonialismus. Es handelt sich darum, die Ideologie aufzuzwingen, derzufolge die Glückseligkeit nur im Nutzen, in den Dingen und in den Gü-tern, im Überfluss an Dingen, Ansehen und Geld besteht. Bereits der Psalmist beklagt dieses Zaudern: »Selig das Volk, dem es so ergeht« (Ps 144,15). Diese Ideologie nutzt die Angst der Menschen aus, die Angst, selbst das Nötigste zu verlieren, denn sie wissen, dass es schrecklich ist, in Zukunft Mangel zu leiden. Jede Form des Mangels ruft Habsucht hervor. Daraus entsteht der übermäßige Wunsch, Reichtümer zu besitzen. Er ist nichts anderes als das, was der heilige Paulus als »Habsucht« bezeichnet. Diese Habsucht kann sowohl von Personen als auch von Familien und Nationen Besitz ergreifen, insbesondere von den reichsten unter ihnen, wenngleich auch die Bedürftigeren nicht davon ausgenommen sind. Sie kann bei einigen auch einen erstickenden Materialismus erwecken sowie einen allgemeinen Konfliktzustand, der nur dazu führt, die Armut der Mehrheit zu vervielfachen. Diese Situation ist die Ursache enormer Leiden und untergräbt gleichzeitig die Würde der Menschen und die des Planeten – unseres gemeinsamen Hauses. All das im Bestreben, die Tyrannei des Geldes zu unterstützen, die nur wenigen Menschen Privilegien garantiert. Wir können sehr am Geld hängen, viele Dinge besitzen, aber am Ende werden wir sie nicht mitnehmen. Ich erinnere mich stets an das, was meine Großmutter mich gelehrt hat: »Das Totenhemd hat keine Taschen«.
Wir sehen, dass die Welt nie so reich war wie heute, und dennoch – trotz dieses Überflusses – gibt es auch weiterhin Armut und Ungleichheit. Und was noch schlimmer ist: Sie sind im Wachsen begriffen. In dieser Zeit des Überflusses, in der es möglich sein sollte, der Armut ein Ende zu setzen, sagen die Mächte des Einheitsdenkens nichts über die Armen und auch nicht über die alten Menschen, die Einwanderer, die Ungeborenen, die Schwerkranken. Für die meisten Menschen unsichtbar, werden sie als etwas behandelt, das man »wegwerfen« kann. Und wenn man sie sichtbar macht, dann stellt man sie gewöhnlich als unwürdige Belastung für die Staatskasse dar. Die Tatsache, dass unsere jungen Menschen aufgrund dieses vorherrschenden habsüchtigen und egoistischen Paradigmas von der neuen wachsenden Sklaverei des Menschenhandels ausgebeutet werden – besonders in der Zwangsarbeit, in der Prostitution und im Organhandel –, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Angesichts der enormen verfügbaren Ressourcen an Geld, Reichtum und Technologie, auf die wir zählen, besteht unser größtes Bedürfnis weder darin, weiterhin Dinge anzuhäufen, noch in größerem Reichtum und mehr Technologie, sondern darin, das immer neue und revolutionäre Paradigma der Seligpreisungen Jesu umzusetzen, begonnen bei der ersten, die ihr sehr aufmerksam in Betracht zieht: »Selig [μακάριοι], die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich« (Mt 5,3). Paradoxerweise ist der Geist der Armut jener Wendepunkt, der uns den Weg zur Glückseligkeit öffnet, durch die völlige Umkehrung des Paradigmas. Während er uns vom weltlichen Geist befreit, bringt er uns dazu, unsere Reichtümer und Technologien, Güter und Talente für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen, das Gemeinwohl, die soziale Gerechtigkeit sowie für die Sorge und den Schutz unseres gemeinsamen Hauses einzusetzen. Das Paradoxon der Armut vor Gott, zu der wir berufen sind, besteht darin: Auch wenn sie – sowohl auf individueller als auch auf sozialer Ebene – für alle der Schlüssel zur Glückseligkeit ist, wollen nicht alle von ihr hören: »Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen!« (Lk 18,24).
Die Armut vor Gott ist also dieser Weg, der überraschend und ungewöhnlich, »eng« und »schmal« (Mt 7,14) ist, auf dem wir aber sicher zu der Fülle gelangen, zu der wir als Menschen und als Gesellschaft berufen sind. Aber Achtung: Jesus sagt nicht, dass die »materielle« Armut im Sinne der Entbehrung dessen, was für ein menschenwürdiges Leben notwendig ist – Nahrung, Arbeit, Gesundheit, Kleidung, Bildung, Chancen etc. – ein Segen sei. Diese Armut wird meistens von Ungerechtigkeit und Habsucht verursacht und nicht so sehr von den Kräften der Natur (Erderwärmung, Katastrophen, Pandemien, Erdbeben, Überflutungen, Tsunamis etc.) Bei einigen von diesen Dingen nimmt man übrigens oft auch die menschliche Manipulierung wahr. Die Armut als Entbehrung des Notwendigen – also das Elend – ist gesellschaftlich, wie L. Bloy und Péguy deutlich erkannt haben, eine Art Hölle, weil sie die menschliche Freiheit schwächt und die Leidenden zu Opfern der neuen Formen der Sklaverei macht (Zwangsarbeit, Prostitution, Organhandel und noch weitere), um überleben zu können. Es sind kriminelle Zustände, die unter strenger Justiz angeklagt und un-ablässig bekämpft werden müssen. Alle, jeder nach seiner eigenen Verantwortung – insbesondere die Regierungen, die multinationalen und nationalen Unternehmen, die Zivilgesellschaft und die Religionsgemeinschaften – müssen es tun. Es sind die schlimmsten Erniedrigungen der Menschenwürde und für einen Christen die offenen Wunden des Leibes Christi, der am Kreuz schreit: Mich dürs-tet. »Selig, ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes«, wie der heilige Lukas sagt (6,20), ist ein Appell an die Freiheit, der der Notwendigkeit, dem Kranken und dem Armen durch Nahrung, Gesundheit, Obdach, Kleidung und in anderen Grundbedürfnissen zu Hilfe zu kommen, Priorität verleiht Au-ßerdem kündigt Jesus an, dass beim Jüngsten Gericht alle Menschen, Familien, Vereinigungen sowie alle Völker nach dem Protokoll der Hilfe für die notleidenden Geschwister beurteilt werden: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40).
Die Armen vor Gott sind reich an diesem »Gespür« des Heiligen Geistes. Sie sind reich an Geschwisterlichkeit und sehnen sich nach sozialer Freundschaft. So bezeugt es der junge Franz von Assisi, Sohn eines reichen Kaufmanns, der am Anbruch des Zeitalters der› Industrialisierung, des Kapitalismus und der Banken Reichtümer und Annehmlichkeiten aufgibt, um arm zu werden unter den Armen und Zeugnis zu geben von dieser Glückseligkeit durch die sogenannte »Vermählung mit Frau Armut«. Vom Geist der Armut bewegt, spürt er im Leiden des Aussätzigen, dass wahrer Reichtum und Freude nicht die Dinge, das Besitzen, das weltliche Paradigma sind, sondern die Liebe zu Christus und der solidarische Dienst an den anderen. Mit vol-lem Ernst und voller Begeisterung konnte der heilige Franziskus – wie Chesterton sagte – ausrufen: »Selig ist, wer nichts hat und nichts erhofft, denn er wird alles besitzen und alles genießen«.2 Ebenso war die Barmherzigkeit für Mutter Teresa von Kalkutta, die betroffen war vom Leiden der Menge der Armen unserer Zeit, die sie als die Ihren betrachtete, das lebendige Wasser und das lebendige Brot, die allen ihren Werken Schönheit gaben und die Kraft, die alle sattmachte und nährte, die nichts hatten als »Hunger und Durst nach Gerechtigkeit«. Ebenso haben viele Männer und Frauen mit lebendigem Glauben – und nicht nur sie – von den Armen Gnaden empfangen, denn in jedem notleidenden Bruder und in jeder notleidenden Schwester umarmen wir das Fleisch des leidenden Christus.
Neben der massiven Zunahme der Armut ist die andere Folge des vorherrschenden materialistischen Paradigmas die wachsende Kluft der Ungleichheit, was gesellschaftliches Unwohlsein verursacht, den Konflikt verallgemeinert und damit nicht nur die Demokratie in Gefahr bringt, sondern auch das notwendige gesellschaftliche Wohl schwächt. Diese tragische und systemische Zunahme der Ungleichheiten zwischen gesellschaftlichen Gruppen innerhalb eines Landes sowie zwischen den Bevölkerungen der verschiedenen Länder hat auch auf wirtschaftlicher, politischer, kultureller und sogar auf geistlicher Ebene negative Auswirkungen. Und zwar aufgrund der fortschreitenden Zerrüttung der Beziehungen der Geschwisterlichkeit, der sozialen Freundschaft, der Eintracht, des Vertrauens, der Zuverlässigkeit und der Achtung, die die Seele jedes zivilen Zusammenlebens sind. Natürlich hat die Habsucht, die das System bewegt, schon lange die wichtigs-te wirtschaftliche, soziale und politische Konsequenz des »Geistes der Armut« beseitigt: die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und Mitverantwortung im Umgang mit den Gütern und den Früchten der menschlichen Arbeit. »Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4,9). Der Katechismus der Katholischen Kirche ruft in Erinnerung: »Das Recht auf das Privateigentum, das man sich selbst erarbeitet oder von andern geerbt oder geschenkt bekommen hat, hebt die Tatsache nicht auf, dass die Erde ursprünglich der ganzen Menschheit übergeben worden ist. Dass die Güter für alle bestimmt sind, bleibt vorrangig, selbst wenn das Gemeinwohl erfordert, das Recht auf und den Gebrauch von Privateigentum zu achten.«3 Und kurz darauf fügt er hinzu: »Materielle oder immaterielle Produktionsgüter – wie z. B. Ländereien oder Fabriken, Fachwissen oder Kunstfertigkeiten – sollen von ihren Besitzern gut verwaltet werden, damit der Gewinn, den sie abwerfen, möglichst vielen zugute kommt.«4 Daher müssen die Besitzer von Gütern diese im Geist der Armut gebrauchen und den besseren Teil dem Gast, dem Kranken, dem Armen, dem alten Menschen, dem Behinderten, dem Ausgegrenzten vorbehalten: Sie sind das oft vergessene Antlitz Jesu, den wir suchen, wenn wir das Gemeinwohl suchen. Die Entwicklung einer Gesellschaft bemisst sich auf der Grundlage ihrer Fähigkeit, den Leidenden fürsorglich zu Hilfe zu kommen.
Bereits 1967 schrieb der heilige Paul VI. in der Enzyklika Populorum progressio: »Es ist bekannt, mit welcher Entschiedenheit die Kirchenväter gelehrt haben, welche Haltung die Besitzenden gegenüber den Notleidenden einzunehmen haben: ›Es ist nicht dein Gut‹, sagt Ambrosius, ›mit dem du dich gegen den Armen großzügig weist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist. Die Erde ist für alle da, nicht nur für die Reichen.‹«5 Ein neuer wichtiger Schritt wird vom heiligen Johannes Paul II. unternommen, der zum ersten Mal den Begriff »Strukturen der Sünde« einführt, um auf eine der wichtigsten Ursachen der sozialen Ungleichheit des kapitalistischen Sys-tems zu verweisen, das Sklaven erzeugt.6
Die gute Nachricht ist, dass der Mensch, als Abbild Gottes erschaffen, dazu berufen ist, aus freiem Willen mit dem Schöpfer zusammenzuarbeiten und die Erde nachhaltig zu entwickeln und seinerseits die Gesellschaft zu prägen mit dem brüderlichen Geist, den er selbst im Programm der Seligpreisungen empfangen hat. Obwohl die Globalisierung der Gleichgültigkeit die vorherrschende Stimme zu sein scheint, haben wir in dieser ganzen Zeit der Pandemie gesehen, dass die Globalisierung der Solidarität sich – mit der für sie typischen Diskretion – in den verschiedenen Teilen unserer Städte durchsetzen konnte. Wir müssen uns also der Weltlichkeit entkleiden, damit der Geist der Seligpreisungen und in unserem Fall die Armut vor Gott unter uns und unter den Völkern Form annimmt. All unsere Diskurse sind jedoch – wie es sprichwörtlich heißt – nur Schall und Rauch, wenn sie nicht im Leben der jungen Menschen Wurzeln schlagen und Fleisch werden können. Das erfordert von uns, dass wir mit Nachdruck und Hoffnung an Bildungsmodellen arbeiten, die in der Lage sind, bei den jungen Generationen den Geist der Seligpreisungen zu fördern.
Ich möchte schließen mit dem Nachhall, den der von Christus gelehrte Geist der Armut beim heiligen Paulus hat. Es gibt keinen Zweifel, dass es für den heilige Paulus rechtmäßig ist, das Notwendige zu wünschen; folglich sind wir verpflichtet zu arbeiten, um es zu erlangen: »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen« (2 Thess 3,10). Gleichzeitig warnt er jedoch seinen Schüler Timotheus vor der Habsucht als Ursprung vieler persönlicher und gesellschaftlicher Übel: »Die aber reich sein wollen, geraten in Versuchung und Verstrickung und in viele sinnlose und schädliche Begierden, welche die Menschen ins Verderben und in den Untergang stürzen. Denn die Wurzel aller Übel ist die Habsucht. Nicht wenige, die ihr verfielen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet« (1 Tim 6,9-10). Viele mögen meinen, dass dieser Text einen religiösen und asketischen, aber keinen wirtschaftlichen Wert hat. Er mag ihnen außerdem als zerstörerisch für die Wirtschaft erscheinen. Dennoch ist es ein äußerst sozioökonomischer und politischer Text, ebenso wie die Seligpreisungen Christi – insbesondere jene über den Geist der Armut, an der dieser inspiriert ist. Denn Paulus erkennt es mit äu-ßerster Klarheit: Sie »haben sich viele Qualen bereitet.« Mit anderen Worten: Die Habsucht hat ihnen nicht den wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand gebracht, den sie suchten, und auch nicht die Freiheit und die Glückseligkeit, nach denen sie sich sehnten. Im Gegenteil, die Habsucht versklavt die jeweils herrschende Macht ohne Erbarmen und ohne Gerechtigkeit, im unerbittlichen Kampf um das goldene Kalb und die Herrschaft, wie die moderne Wirtschaft zeigt. Daher erfordert das Wohlergehen eines jeden Menschen, der Wirtschaft sowie der örtlichen und globalen Gesellschaft den Geist der Armut; die Fähigkeit, den Wunsch nach Profit und die Habsucht zu zügeln; und sich vom Heiligen Geist leiten zu lassen, dessen Frucht »Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Enthaltsamkeit« sind (Gal 5,22-23).
Um diese Habsucht zu überwinden, sind wir aufgerufen, eine globale Bewegung gegen die Gleichgültigkeit zu schaffen, die soziale Einrichtungen herstellt oder wiederherstellt, die auf die Seligpreisungen ausgerichtet sind und die uns anspornen sollen, nach der Zivilisation der Liebe zu streben. Eine Bewegung, die all jenen Tätigkeiten und Einrichtungen Grenzen setzt, die aus eigener Neigung nur zum Profit tendieren, insbesondere jene, die der heilige Johannes Paul II. als »Strukturen der Sünde« bezeichnet hat. Dazu gehört das, was ich als »Globalisierung der Gleichgültigkeit« bezeichnet habe. Bitten wir den Herrn, dass er uns seinen »Geist der Armut« schenke. Suchen wir, und er wird uns helfen, ihn zu finden. Klopfen wir an, damit uns die Tür zum Weg der Seligpreisungen und der wahren Glückseligkeit geöffnet werden möge.
Rom, Sankt Johannes im Lateran,
am 2. Oktober 2021.
Fußnoten
1 »Wenn jemand die Predigt, die unser Herr Jesus Christus auf dem Berg gehalten hat, wie wir im Evangelium nach Matthäus lesen, mit Glauben und Ernst untersucht, dann – so meine ich – wird er dort den endgültigen Maßstab des christlichen Lebens finden« (Hl. Augustinus, Die Bergpredigt, I,1).
2 G.K. Chesterton, Der heilige Franz von Assisi, Kap. 5. Der Narr Gottes.
3 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2403.
4 Ebd., Nr. 2405.
5 Nr. 23.
6 Vgl. Enzyklika Sollicitudo rei socialis, Nr. 36-40.
(Orig. ital. in O.R. 4.10.2021)