Papst Franziskus hat im italienischen Wallfahrtsort Assisi zu mehr Engagement für Arme und Bedürftige aufgerufen. Das Treffen in der Basilika Santa Maria degli Angeli hatte mit deutlicher Verspätung begonnen. Grund war der nicht offiziell angekündigte Besuch des Papstes bei den Klarissen der Basilika Santa Chiara. Kurz vor 10 Uhr wurde er auf dem Vorplatz in der Ebene unterhalb von Assisi von Hunderten Gläubigen empfangen. Nach einem stillen Gebet in der Portiunkula-Kapelle berichteten einige der Anwesenden von ihren Erfahrungen. Zunächst trat ein junges französisches Ehepaar ans Mikrofon, das sein Leben als Familie in den Dienst der Frohen Botschaft gestellt hat und auf seiner Mission in einer Banlieue im Großraum Paris die Frohe Botschaft unter Ausgegrenzten verkündet. Mehrere von Armut betroffene Menschen aus verschiedenen Ländern erzählten sehr freimütig aus ihrem Leben. Ein Spanier brach bei seinem Vortrag in Tränen aus. Als ambitionierter Kampfsportler habe er in jungen Jahren das schnelle Geld machen wollen und sei in den Drogenhandel abgerutscht. Im Gefängnis sei ihm mithilfe des Rosenkranzgebets die Umkehr gelungen. Ein weiterer Mann aus Polen berichtete, wie ihm die Begegnung mit Christus half, aus Sucht und Gewalt herauszufinden, sowie eine Frau aus Rumänien, Arbeitsmigrantin in Italien, die trotz schwerer Krankheit die Hoffnung nicht verliert. Eine junge Frau sowie ein betagtes Paar aus Afghanistan erzählten teils unter Tränen von ihrer tiefen Sorge um ihr Land unter den Taliban und um Angehörige, die noch dort sind. Franziskus hörte sichtlich bewegt zu. Anschließend sagte er in seiner Ansprache:
Liebe Brüder und Schwestern,
guten Tag!
Ich danke euch, dass ihr meine Einladung angenommen habt – ich war der Eingeladene! –, hier in Assisi, der Stadt des heiligen Franziskus, den fünften Welttag der Armen zu begehen, der übermorgen stattfindet. Er ist eine Idee, die von euch kam, die gewachsen ist, und jetzt sind wir bereits beim fünften Mal. Assisi ist keine Stadt wie jede andere: Assisi ist geprägt vom Antlitz des heiligen Franziskus. Daran zu denken, dass er in diesen Straßen seine unruhige Jugend verlebt hat, dass er die Berufung empfangen hat, das Evangelium wortwörtlich zu leben, ist für uns eine wichtige Lehre. Sicherlich, in mancher Hinsicht lässt uns seine Heiligkeit erschauern, denn es scheint unmöglich, ihn nachahmen zu können. Aber dann, wenn wir an einige Momente seines Lebens denken, an jene »Fioretti«, die gesammelt worden sind, um die Schönheit seiner Berufung zu zeigen, fühlen wir uns angezogen von dieser Einfachheit des Herzens und der Einfachheit des Lebens: Es ist die Faszination Chris-ti, des Evangeliums. Es sind Tatsachen des Lebens, die mehr zählen als eine Predigt.
Ich möchte gerne an eine Geschichte erinnern, die sehr gut die Persönlichkeit des Poverello zum Ausdruck bringt (vgl. Fioretti Kap.13: Fonti Francescane, 1841-1842); dt. Johannes Schneider, Die Fioretti. Legenden über Franziskus und seine Gefährten, Kevelaer 2002, S. 53-56). Er und Bruder Masseo waren auf dem Weg nach Frankreich, hatten aber keine Verpflegung mitgenommen. So waren sie gezwungen, um Almosen zu bitten. Franziskus ging in eine Richtung, Bruder Masseo in eine andere. Aber wie die Fioretti erzählen, war Franziskus unansehnlich und von kleiner Gestalt, und wer ihn nicht kannte, hielt ihn für einen »Landstreicher«. Bruder Masseo dagegen war »ein großer Mann und von schöner Gestalt«. So gelang es Franziskus kaum, ein paar Brocken trockenen, harten Brotes zu sammeln, während Bruder Masseo große Stücke guten Brotes erhielt.
Als sie sich wiedertrafen, setzen sie sich auf die Erde und legten, was sie gesammelt hatten, auf einen Stein. Als Franziskus das Brot sah, das Bruder Masseo erhalten hatte, sagte er: »Oh, Bruder Masseo, wir sind eines so großen Schatzes gar nicht würdig.« Verwundert antwortete der Bruder: »Vater Franziskus, wie kann man da von Schatz reden, wo so viel Armut und Entbehrung an den notwendigen Dingen herrschen?« Franziskus antwortete: »«Und gerade das ist es, was ich als großen Schatz erachte, dass es hier nichts gibt, was durch die Mühe des Menschen bereitet ist. Was es aber hier gibt, wurde von der göttlichen Vorsehung vorbereitet, wie man so offenbar am erbettelten Brot […] sehen kann.« Das ist die Lehre, die uns der heilige Franziskus erteilt: uns zufrieden geben können mit dem wenigen, was wir haben, und es mit den anderen teilen.
Wir sind hier bei der Portiunkula, einer der Kapellen, die der heilige Franziskus wiederaufbauen wollte, nachdem Jesus ihn gebeten hatte, »sein Haus wiederherzustellen«. Damals hätte er sich nicht vorstellen können, dass der Herr ihn bitten würde, sein Leben hinzugeben, nicht um die aus Steinen erbaute Kirche wiederherzustellen, sondern die Kirche aus Menschen, aus Männern und Frauen, die die lebendigen Steine der Kirche sind. Und wenn wir heute hier sind, dann genau deswegen, um von dem zu lernen, was Franziskus getan hat. Er verweilte gerne lange im Gebet in dieser Kapelle. Er sammelte sich hier in der Stille und hörte auf den Herrn, auf das, was Gott von ihm wollte. Auch wir sind deswegen hier: Wir wollen den Herrn bitten, dass er unseren Schrei hören möge – dass er unseren Schrei hören möge! – und uns zu Hilfe komme. Vergessen wir nicht, dass die erste Ausgrenzung, unter der die Armen leiden, die geistliche Ausgrenzung ist. Zum Beispiel finden viele Menschen und viele junge Leute ein wenig Zeit, um den Armen zu helfen, und bringen ihnen etwas zu Essen und etwas Warmes zu trinken. Das ist sehr gut, und ich danke Gott für ihre Großherzigkeit. Aber vor allem freut es mich, wenn ich höre, dass diese freiwilligen Helfer ein wenig bleiben, um mit den Menschen zu sprechen, und manchmal beten sie gemeinsam mit ihnen… Ja, auch unser Hiersein, bei der Portiunkula-Kapelle, erinnert uns daran, dass der Herr bei uns ist, dass er uns niemals alleinlässt, dass er uns in jedem Augenblick unseres Lebens begleitet. Der Herr ist heute bei uns. Er ist an unserer Seite, im Hören, im Gebet und in den gegebenen Zeugnissen: Er ist es, bei uns.
Es gibt eine weitere wichtige Tatsache: Hier bei der Portiunkula hat der heilige Franziskus die heilige Klara, die ersten Brüder und viele Arme, die zu ihm kamen, aufgenommen. Mit großer Einfachheit empfing er sie als Brüder und Schwes-tern und teilte alles mit ihnen. Das ist der größte Ausdruck des Evangeliums, den wir uns zu eigen machen sollen: die Aufnahme. Aufnehmen bedeutet, die Tür zu öffnen, die Tür des Hauses und die Tür des Herzens, und dem Anklopfen-
den erlauben einzutreten. Und dass er sich wohlfühlen kann, nicht befangen, nein, er soll sich wohlfühlen, frei. Wo es ein echtes Bewusstsein für die Geschwisterlichkeit gibt, dort erlebt man auch die aufrichtige Erfahrung der Aufnahme. Wo es dagegen die Furcht vor dem anderen gibt, Verachtung für sein Leben, dort entsteht die Zurückweisung oder, schlimmer noch, die Gleichgültigkeit: jenes Wegsehen. Die Aufnahme schafft ein Bewusstsein von Gemeinschaft; die Zurückweisung dagegen verschließt im eigenen Egoismus. Mutter Teresa, die ihr Leben zu einem Dienst an der Aufnahme gemacht hatte, sagte gerne: »Was ist die beste Aufnahme? Das Lächeln.« Das Lächeln. Ein Lächeln mit dem Bedürftigen zu teilen, tut beiden gut, mir und dem anderen. Das Lächeln als Ausdruck der Sympathie, der Zärtlichkeit. Und dann bewirkt das Lächeln Teilnahme, und du kannst nicht fern bleiben von der Person, der du zugelächelt hast.
Ich danke euch, denn ihr seid aus vielen verschiedenen Ländern hierhergekommen, um diese Erfahrung der Begegnung und des Glaubens zu erleben. Ich möchte Gott danken, der die Idee dieses Tages der Armen eingegeben hat. Eine Idee, die auf etwas seltsame Weise entstanden ist, in einer Sakristei. Ich schickte mich an, die heilige Messe zu feiern, und einer von euch, er heißt Étienne – Kennt ihr ihn? Er ist ein Enfant terrible –, Étienne hat mir den Vorschlag gemacht: »Veranstalten wir einen Tag der Armen.« Ich bin hinausgegangen und habe gespürt, dass der Heilige Geist mir in meinem Inneren sagte, dies zu tun. So hat es begonnen: Mit dem Mut von einem von euch, der den Mut hat, die Dinge voranzubringen. Ich danke ihm für seinen Einsatz und seine Arbeit in diesen Jahren und die Arbeit von vielen, die ihn begleiten. Und ich möchte auch, entschuldigen Sie Eminenz, dem Kardinal [Barbarin] für seine Anwesenheit danken: Er ist unter den Armen, auch er hat mit Würde die Erfahrung der Armut, des Verlassenseins, des Misstrauens erlitten. Und er hat sich mit dem Schweigen und mit Gebet verteidigt. Danke, Kardinal Barbarin, für Ihr Zeugnis, das die Kirche aufbaut.
Ich sagte, wir sind gekommen, um einander zu begegnen: Das ist das Erste, das heißt aufeinander zuzugehen mit einem offenen Herzen und ausgestreckter Hand. Wir wissen, dass jeder von uns den anderen braucht und dass auch die Schwachheit, wenn sie gemeinsam gelebt wird, eine Kraft werden kann, die die Welt besser macht. Häufig wird die Gegenwart der Armen als lästig empfunden und hingenommen. Zuweilen hört man, dass die Armen selbst für die Armut verantwortlich sind: Noch eine Beleidigung! Nur um sich selbst vor einer ernsthaften Gewissenserforschung über das eigene Tun und Handeln zu drücken, über die Ungerechtigkeit einiger Gesetze und wirtschaftlicher Maßnahmen, eine Gewissenserforschung über die Heuchelei derer, die sich maßlos bereichern wollen, gibt man den Schwächsten die Schuld.
Aber vielmehr ist jetzt die Zeit, den Armen das Wort zurückzugeben, denn zu lange sind ihre Bitten nicht gehört worden. Es ist Zeit, die Augen zu öffnen, um die Situation der Ungleichheit zu sehen, in der viele Familien leben. Es ist Zeit, die Ärmel hochzukrempeln, um durch die Schaffung von Arbeitsplätzen Würde zurückzugeben. Es ist Zeit, wieder entrüstet zu sein angesichts der Realität von hungernden, versklavten Kindern, in der Angst vor Schiffbruch von den Wellen hin und hergeworfen Kindern, unschuldigen Opfer aller Arten von Gewalt. Es ist Zeit, dass die Gewalt gegen Frauen aufhört und dass sie respektiert und nicht als Handelsware betrachtet werden. Es ist Zeit, dass der Kreislauf der Gleichgültigkeit durchbrochen wird, um die Schönheit der Begegnung und des Dialogs neu zu entdecken. Es ist Zeit, einander zu begegnen. Jetzt ist die Zeit für Begegnung. Wenn die Menschheit, wenn wir Männer und Frauen nicht lernen, einander zu begegnen, dann gehen wir einem sehr traurigen Ende entgegen.
Aufmerksam habe ich eure Zeugnisse angehört, und ich danke euch für all das, was ihr mit Mut und Aufrichtigkeit zum Ausdruck gebracht habt. Mut, denn ihr habt sie mit uns allen geteilt, obwohl sie Teil eures persönlichen Lebens sind. Aufrichtigkeit, denn ihr zeigt euch so, wie ihr seid, und öffnet euer Herz mit dem Wunsch, verstanden zu werden. Einiges hat mir besonders gefallen und ich möchte es in gewisser Weise aufgreifen, um es mir noch mehr anzueignen und es in meinem Herzen zu bewahren. Vor allem habe ich ein ausgeprägtes Gefühl der Hoffnung wahrgenommen. Das Leben war nicht immer wohlwollend euch gegenüber, ja häufig hat es euch sogar ein grausames Antlitz gezeigt. Ausgrenzung, Leiden unter Krankheit und Einsamkeit, Fehlen der notwendigen Mittel: Dies hat euch nicht daran gehindert, einen dankbaren Blick für die kleinen Dinge zu bewahren, die es euch erlaubt haben durchzuhalten.
Durchhalten. Das ist der zweite Eindruck, den ich empfangen habe und der genau aus dieser Hoffnung hervorgeht. Was bedeutet es, durchzuhalten? Die Kraft zu haben, trotz allem voranzugehen, gegen den Strom zu schwimmen. Durchhalten ist keine Passivität, im Gegenteil, es erfordert den Mut, einen neuen Weg einzuschlagen, wissend, dass er Frucht bringen wird. Durchhalten bedeutet, Motivation zu finden, um angesichts der Schwierigkeiten nicht aufzugeben, wissend, dass wir sie nicht alleine erleben, sondern gemeinsam, und dass wir sie nur gemeinsam überwinden können. Jeder Versuchung widerstehen, aufzugeben und in Einsamkeit und Traurigkeit zu verfallen. Durchhalten, festgeklammert an das kleine Bisschen Reichtum, das wir haben können.
Ich denke an das
Mädchen aus Afghanis-tan mit ihrem lapidaren Satz: Mein Körper ist hier, meine Seele ist dort. Durchhalten mit der Erinnerung, heute. Ich denke an die rumänische Mutter, die zuletzt gesprochen hat: Schmerz, Hoffnung und man sieht keinen Ausweg, aber große Hoffnung auf die Kinder, die an ihrer Seite sind und die ihr die Zärtlichkeit zurückgeben, die sie von ihr empfangen haben.
Bitten wir den Herrn, dass er uns stets helfen möge, Zuversicht und Freude zu finden. Hier in der Portiunkula-Kapelle lehrt uns der heilige Franziskus die Freude, die daraus entspringt, den, der uns nahe ist, als Weggefährten zu sehen, der uns versteht und uns trägt, so wie wir es für sie oder ihn sind. Diese Begegnung möge das Herz von uns allen öffnen, um einander Hilfe anzubieten. Sie möge unser Herz öffnen, um unsere Schwäche zur Stärke werden zu lassen, die hilft, den Lebensweg fortzusetzen, um unsere Armut in Reichtum zu verwandeln, den wir teilen sollen, und damit wir so die Welt besser machen.
Der Tag der Armen. Ein Dank den Armen, die das Herz öffnen, um uns ihren Reichtum zu geben und unser verletztes Herz zu heilen. Danke für diesen Mut. Danke, Étienne, dass du fügsam warst gegenüber der Inspiration des Heiligen Geistes. Danke für diese jahrelange Arbeit und auch für die »Halsstarrigkeit«, den Papst nach Assisi zu bringen! Danke! Danke, Eminenz, für Ihre Unterstützung, für Ihre Hilfe für diese kirchliche Bewegung – wir sagen »Bewegung«, weil sie sich bewegen – und für Ihr Zeugnis. Und ein Dank an euch alle. Ich trage euch in meinem Herzen. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten, denn ich habe auch meine Armseligkeiten, und wie viele! Danke.
(Orig. ital. in O.R. 12.11.2021)