Ansprache von Papst Franziskus beim Angelusgebet am Sonntag, 31. Oktober

Vertrautheit mit dem Wort Gottes

 Vertrautheit mit dem Wort Gottes  TED-044
05. November 2021

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag!

In der heutigen Liturgie berichtet das Evangelium von einem Schriftgelehrten, der zu Jesus kommt und ihn fragt: »Welches Gebot ist das erste von allen?« (Mk 12,28). Jesus antwortet, indem er die Heilige Schrift zitiert und bekräftigt, dass das erste Gebot darin besteht, Gott zu lieben; daraus folgt dann als natürliche Folge das zweite: den Nächs-ten zu lieben wie sich selbst (vgl. V. 29-31). Als der Schriftgelehrte diese Antwort hört, erkennt er sie nicht nur als richtig an, sondern während er sie als richtig anerkennt, wiederholt er fast dieselben Worte, die Jesus gesagt hat: »Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr und es gibt keinen anderen außer ihm und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer« (V. 32-33).

Wir können uns fragen: Warum hat der Schriftgelehrte das Bedürfnis, die gleichen Worte wie Jesus zu wiederholen, als er seine Zustimmung gibt? Diese Wiederholung erscheint umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass wir uns im Markusevangelium befinden, das einen sehr prägnanten Stil hat. Was ist die Bedeutung dieser Wiederholung? Diese Wiederholung ist eine Lehre für uns alle, die wir zuhören. Denn das Wort des Herrn lässt sich nicht wie irgendeine andere Nachricht aufnehmen. Das Wort des Herrn muss wiederholt, sich zu eigen gemacht und bewahrt werden.

Die monastische Tradition, die der Mönche, verwendet einen kühnen, aber sehr konkreten Begriff. Es heißt: das Wort Gottes muss »wiedergekäut« werden. Das Wort Gottes »wiederkäuen«. Wir können sagen, dass es so nährend ist, dass es jeden Bereich des Lebens erreichen muss: es muss, wie Jesus heute sagt, das ganze Herz, die ganze Seele, den ganzen Verstand und die ganze Kraft umfassen (vgl. V. 30). Das Wort Gottes muss in uns widerhallen, nachhallen und nachklingen. Wenn dieses innere Echo wiederholt wird, bedeutet das, dass der Herr im Herzen wohnt. Und er sagt zu uns, wie zu jenem guten Schriftgelehrten im Evangelium: »Du bist nicht fern vom Reich Gottes« (V. 34).

Liebe Brüder und Schwestern, der Herr sucht nicht so sehr nach raffinierten Kommentatoren der Heiligen Schrift, sondern nach fügsamen Herzen, die sich durch die Annahme seines Wortes im Innern verändern lassen. Deshalb ist es also so wichtig, sich mit dem Evangelium vertraut zu machen, es immer zur Hand zu haben – auch ein kleines Evangelium in der Tasche, in der Handtasche, um es zu lesen und wieder zu lesen, um sich dafür zu begeistern. Wenn wir das tun, kommt Jesus, das Wort des Vaters, in unsere Herzen, er wird uns nahe und wir tragen in ihm Frucht. Nehmen wir das heutige Evangelium als Beispiel: Es reicht nicht, es zu lesen und zu verstehen, dass wir Gott und unseren Nächsten lieben müssen. Es ist notwendig, dass dieses Gebot, das »große Gebot«, in uns widerhallt, dass wir es verinnerlichen, dass es die Stimme unseres Gewissens wird. Dann bleibt es nicht ein toter Buchstabe in der Schublade des Herzens, denn der Heilige Geist lässt den Samen dieses Wortes in uns keimen. Und das Wort Gottes wirkt, es ist immer in Bewegung, es ist lebendig und wirksam (vgl. Hebr 4,12). So kann jeder von uns zu einer lebendigen »Übersetzung« werden, anders und originell. Keine Wiederholung, sondern eine lebendige »Übersetzung«, anders und ursprünglich, des einen Wortes der Liebe, das Gott uns schenkt. Wir sehen das zum Beispiel im Leben der Heiligen: keiner gleicht dem anderen, sie sind alle unterschiedlich, aber alle sind verbunden durch dasselbe Wort Gottes.

Nehmen wir uns also heute ein Beispiel an diesem Schriftgelehrten. Wiederholen wir die Worte Jesu, lassen wir sie in uns widerhallen: »Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft. Du sollst deinen Nächs-ten lieben wie dich selbst«. Und wir sollten uns fragen: Ist dieses Gebot wirklich die Richtschnur für mein Leben? Spiegelt sich dieses Gebot in meinem Alltag wider? Es wird uns gut tun, heute Abend, bevor wir schlafen gehen, unser Gewissen anhand dieses Wortes zu prüfen, um zu sehen, ob wir heute den Herrn geliebt und den Menschen, denen wir begegnet sind, ein wenig Gutes getan haben. Möge jede Begegnung dazu dienen, ein wenig Gutes zu geben, ein wenig Liebe, die aus diesem Wort kommt. Möge die Jungfrau Maria, in der das Wort Gottes Fleisch geworden ist, uns lehren, die lebendigen Worte des Evangeliums in unsere Herzen aufzunehmen.

Nach dem Angelusgebet sagte der Papst zu den auf dem Petersplatz versammelten Pilgern und Besuchern:

Liebe Brüder und Schwestern!

In verschiedenen Teilen Vietnams haben die anhaltenden schweren Regenfälle der letzten Wochen zu großflächigen Überschwemmungen geführt, so dass Tausende von Menschen evakuiert werden mussten. Meine Gebete und Gedanken gelten den vielen Familien, die leiden, und ich möchte all jene ermutigen – die Behörden des Landes und die Kirche vor Ort -–, die sich einsetzen, um auf die Notlage zu reagieren. Auch stehe ich den Menschen in Sizilien nahe, die von Unwettern betroffen sind.

Gestern wurden in Tortosa, Spanien, Francesco Sojo López, Millán Garde Serrano, Manuel Galcerá Videllet und Aquilino Pastor Cambero, Priester der Bruderschaft der Diözesan-Arbeiterpriester vom Herzen Jesu, seliggesprochen, die alle aus Glaubenshass getötet wurden. Als eifrige und großherzige Seelsorger blieben sie ihrem Amt treu, auch wenn sie während der religiösen Verfolgung in den 1930er-Jahren ihr Leben riskierten. Möge ihr Zeugnis besonders für Priester ein Vorbild sein. Einen Applaus für diese neuen Seligen!

Heute beginnt in Glasgow, Schottland, der Klimagipfel der Vereinten Nationen, COP26. Beten wir, dass der Schrei der Erde und der Schrei der Armen gehört wird und dass dieses Treffen wirksame Antworten gibt, die den künftigen Generationen konkrete Hoffnung geben. In diesem Zusammenhang wird heute auf dem Petersplatz die Fotoausstellung »Laudato si’« eines jungen Fotografen aus Bangladesch eröffnet.

Ich grüße euch alle, die Gläubigen aus Rom und die Pilger aus verschiedenen Ländern, insbesondere diejenigen, die aus Costa Rica angereist sind. Ich grüße die Gruppen aus Reggio Emilia und Cosenza, die Jugendlichen eines Glaubenskurses aus Bareggio, Canegrate und San Giorgio su Legnano sowie die Vereinigung »Serra International Italia«, der ich für ihr Engagement zur Förderung von geistlichen Berufungen danke.

Ich wünsche allen einen schönen Sonntag. Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten. Gesegnete Mahlzeit und auf Wiedersehen!