Generalaudienz in der »Aula Paolo VI« am 13. Oktober

Offen für alle Völker und Kulturen

 Offen für alle Völker und Kulturen  TED-043
29. Oktober 2021

Liebe Brüder und Schwestern,

guten Tag!

In unserer Katechesereihe über den Brief an die Galater konnten wir deutlich machen, was für den heiligen Paulus der innere Kern der Freiheit ist: die Tatsache, dass wir durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi von der Knechtschaft der Sünde und des Todes befreit worden sind. Mit anderen Worten: Wir sind frei, weil wir befreit wurden, befreit aus Gnade – nicht gegen Bezah-lung –, befreit durch die Liebe, die zum obers-ten und neuen Gesetz des christlichen Lebens wird. Die Liebe: Wir sind frei, weil wir unentgeltlich befreit worden sind. Genau das ist der Schlüsselpunkt.

Heute möchte ich hervorheben, dass diese Neuheit des Lebens uns offen macht, jedes Volk und jede Kultur anzunehmen, und gleichzeitig jedes Volk und jede Kultur für eine größere Freiheit offen macht. Denn der heilige Paulus sagt, dass es für den, der an Christus glaubt, nicht mehr zählt, Jude oder Heide zu sein. Es zählt nur »der Glaube, der durch die Liebe wirkt« (Gal 5,6). Zu glauben, dass wir befreit worden sind, und an Jesus Christus zu glauben, der uns befreit hat: Das ist der Glaube, der durch die Liebe wirkt. Die Verleumder des Paulus – diese Fundamentalisten, die dorthin gekommen waren – griffen ihn an wegen dieser Neuheit, indem sie behaupteten, dass er diese Haltung aus pastoralem Opportunismus, also um »allen zu gefallen«, eingenommen und daher die von seiner strengeren religiösen Tradition empfangenen Anforderungen heruntergespielt habe.

Neuheit und
Reinheit des Evangeliums

Es ist dasselbe wie mit den heutigen Fundamentalisten: Die Geschichte wiederholt sich immer. Wie man sieht, gibt es die Kritik an jeder Neuheit des Evangeliums nicht nur in unseren Tagen, sondern sie hat eine lange Geschichte hinter sich. Paulus schweigt jedenfalls nicht dazu. Er antwortet mit »Par-rhesia« – dies ist ein griechisches Wort, das »Mut, Kraft« bedeutet – und sagt: »Geht es mir denn um die Zustimmung der Menschen oder geht es mir um Gott? Suche ich etwa Menschen zu gefallen? Wollte ich noch den Menschen gefallen, dann wäre ich kein Knecht Christi« (Gal 1,10). Bereits im ersten Brief an die Thessalonicher hatte er sich ähnlich ausgedrückt und über seine Verkündigung gesagt: »Nie haben wir mit unseren Worten zu schmeicheln versucht […], und nie haben wir aus versteckter Habgier gehandelt […] Wir haben auch keine Ehre bei den Menschen gesucht« (1 Thess 2,5-6). Dies sind Wege, auf denen man »so tut als ob«; ein Glaube, der kein Glaube, sondern Weltlichkeit ist.

Es zeigt sich erneut, dass Paulus’ Denken von einer inspirierten Tiefe ist. Den Glauben annehmen bedeutet für ihn auch, nicht auf das Herzstück der Kulturen und Traditionen zu verzichten, sondern nur auf das, was die Neuheit und Reinheit des Evangeliums behindern kann. Denn die Freiheit, die uns der Tod und die Auferstehung des Herrn erlangt hat, gerät nicht in Konflikt mit den Kulturen, mit den Traditionen, die wir empfangen haben, sondern verleiht diesen im Gegenteil eine neue Freiheit, eine befreiende Neuheit, die des Evangeliums. Denn die durch die Taufe erlangte Befreiung gestattet es uns, die volle Würde der Kinder Gottes zu erlangen. So bleiben wir zwar gut eingebettet in unsere kulturellen Wurzeln, öffnen uns aber gleichzeitig für den Universalismus des Glaubens, der in jede Kultur eintritt, in ihr die Keimzellen der Wahrheit erkennt, sie weiterentwickelt und so das in ihnen enthaltene Gute zur Vollendung bringt. Anzunehmen, dass wir von Christus – durch sein Leiden, seinen Tod, seine Auferstehung – befreit worden sind, bedeutet, auch die verschiedenen Traditionen eines jeden Volkes anzunehmen und zur Vollendung zu bringen. Zur wahren Vollendung.

In der Berufung zur Freiheit entdecken wir den wahren Sinn der Inkulturation des Evangeliums. Was ist dieser wahre Sinn? Fähig zu sein, die Gute Nachricht Christi, des Retters, zu verkündigen und dabei das Gute und das Wahre zu achten, das in den Kulturen vorhanden ist. Das ist nicht leicht! Es gibt viele Versuchungen, das eigene Lebensmodell aufzwingen zu wollen, so als sei es das am höchsten entwickelte und attraktivs-te. Wie viele Fehler wurden in der Geschichte der Evangelisierung gemacht, indem man nur ein einziges kulturelles Modell aufzwingen wollte! Die Einheitlichkeit als Lebensregel ist nicht christlich! Einheit ja, Einheitlichkeit nein! Manchmal hat man nicht einmal auf Gewalt verzichtet, um nur den eigenen Gesichtspunkt durchzusetzen. Denken wir an die Kriege. Auf diese Weise hat man die Kirche des Reichtums vieler örtlicher Ausdrucksformen beraubt, die die kulturelle Tradition ganzer Völker in sich tragen. Das ist jedoch das genaue Gegenteil der christlichen Freiheit! Ich denke zum Beispiel an die Weise, wie sich das Apostolat in China mit Pater Ricci oder in Indien mit Pater De Nobili durchgesetzt hat… [Einige sagten]: »Nein, das ist nicht christlich!« Doch, es ist christlich, es liegt in der Kultur des Volkes.

Dynamische
Sichtweise der Tradition

Paulus’ Auffassung von der Freiheit ist also ganz erleuchtet und fruchtbar gemacht vom Geheimnis Christi, der sich in seiner Menschwerdung – wie das Zweite Vatikanische Konzil in Erinnerung ruft – gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt hat (vgl. Pastorale Konstitution Gaudium et spes, 22). Und das bedeutet, dass es keine Einheitlichkeit gibt, sondern vielmehr Vielfalt, aber vereinte Vielfalt. Daher sind wir verpflichtet, die kulturelle Herkunft eines jeden Menschen zu achten und sie in einen Raum der Freiheit einzubetten, der nicht von irgendeiner Auflage beschränkt ist, die durch eine einzige vorherrschende Kultur diktiert wurde. In diesem Sinne dürfen wir uns katholisch nennen, von der katholischen Kirche sprechen: Es ist keine soziologische Bezeichnung, um uns von anderen Christen zu unterscheiden. »Katholisch« ist ein Adjektiv, das »universal« bedeutet: die Katholizität, die Universalität. »Universalkirche«, also »katholische Kirche« bedeutet, dass die Kirche in sich, in ihrem eigenen Wesen, die Öffnung gegenüber allen Völkern und Kulturen jeder Epoche trägt, weil Christus für alle geboren, gestorben und auferstanden ist.

Die Kultur ist im Übrigen von ihrem
eigenen Wesen her ständig im Wandel begriffen. Man denke daran, dass wir berufen sind, das Evangelium in diesem historischen Augenblick großer kultureller Veränderungen, in der eine immer fortschrittlichere Technologie die Oberherrschaft zu haben scheint, zu verkündigen. Würden wir den Anspruch erheben, vom Glauben zu sprechen wie in den vergangenen Jahrhunderten, dann würden wir Gefahr laufen, von den neuen Generationen nicht mehr verstanden zu werden.

Die Freiheit des christlichen Glaubens – die christliche Freiheit – verweist nicht auf eine statische Auffassung vom Leben und von der Kultur, sondern auf eine dynamische Sichtweise, eine dynamische Sichtweise auch der Tradition. Die Tradition wächst, aber immer mit demselben Wesen. Wir dürfen daher nicht den Anspruch erheben, im Besitz der Freiheit zu sein. Wir haben ein Geschenk erhalten, das wir bewahren müssen. Und vielmehr ist es die Freiheit, die von einem jeden verlangt, beständig unterwegs zu sein, auf ihre Vollendung ausgerichtet.

Es ist das Leben der Pilger; es ist der Zustand derer, die unterwegs sind, in einem beständigen Exodus: von der Knechtschaft befreit, um auf die Vollendung der Freiheit zuzugehen. Und das ist das große Geschenk, das Jesus Christus uns gemacht hat. Der Herr hat uns unentgeltlich aus der Knechtschaft befreit und hat uns auf den Weg gebracht, um in voller Freiheit unterwegs zu sein.

(Orig. ital. in O.R. 13.10.2021)