Kardinal Tagle, wir befinden uns im Josefsjahr, das Papst Franziskus ausgerufen hat. Was sind Ihrer Meinung nach die Früchte, die alle Getauften – jeder von uns – aus diesem besonderen Jahr empfangen kann?
Die Gestalt des heiligen Josef steht zu Recht in Zusammenhang mit den Vätern. Ich denke, dass Sie richtigerweise darauf hingewiesen haben, dass jeder Getaufte von diesem Jahr profitieren kann. Vor allem in folgenden Bereichen: Ich hoffe, dass jeder Getaufte auf die Stimme Gottes achten kann und sich von ihm führen lässt, wie es der heilige Josef getan hat. Besonders in den verwirrenden Momenten des Lebens. Ich hoffe auch, dass alle Getauften auf Gott vertrauen und seinen Plänen folgen, auch wenn die Dinge nicht immer klar sind. Und auch, dass wir gute Verwalter, Hüter, Bewahrer der Menschen sind, die Gott uns anvertraut.
Papst Franziskus unterstreicht in seinem Schreiben »Patris corde« die Bedeutung des heiligen Josef für die Väter von heute. Was schätzen Sie an diesem Dokument besonders?
Es gibt viele, viele Dinge, die dieses Dokument für uns und besonders für Väter bereithält. Aber etwas, das ich wirklich schätze, ist, dass der heilige Josef als Mann beschrieben wird, der die Realität akzeptiert. Die Realität zu akzeptieren bedeutet nicht, passiv zu sein oder etwas nur zu tolerieren. Er nimmt die Realität an, wie sie ist, er lebt nach dieser Realität. Dadurch dass er die Realität annimmt, sieht er, was er nach Got-tes Willen tun soll, um diese Realität zu ver-ändern. Manchmal besteht die Versuchung für uns darin, dass wir die Realität nicht akzeptieren. Wir leben in einer Vergangenheit, die wir idealisiert haben. Oder wir leben in einer Utopie, die es – noch – gar nicht gibt. Und so wissen wir nicht, wie wir die Gegenwart verändern können. Aber der heilige Josef, so heißt es in dem Dokument, akzeptierte die Realität und in dieser Haltung der Annahme der Realität hörte er das Wort Gottes und handelte mutig, um diese Realität zu verändern.
Was die Realität betrifft, so sind wir heute daran gewöhnt, dass wir nur dann Recht haben, wenn wir das Wort ergreifen, wenn wir das letzte Wort in einem Gespräch haben. Aber der heilige Josef zeigt seine Stärke, indem er schweigt, im Schatten steht. Was lehrt uns diese Haltung?
Das ist wahr. Als ich Seminarist war, trug unser Priesterseminar den Namen »San José Seminary«. Dies ist eine der Tugenden des heiligen Josef, die uns nahegelegt wurde: Die Evangelien berichten nichts von seinen Worten, aber er bewahrte das Wort Gottes in seinem Schweigen. Jesus kann in dieser Stille sprechen. Josef hat das Wort Gottes vor denen bewahrt, die ihn töten und das Wort Gottes zum Schweigen bringen wollten. Und dadurch lehrt er uns etwas. Erstens: Wir haben immer den Wunsch zu reden, zu reden und nochmals zu reden. »Aber tue ich das für mich selbst oder für das Wort Gottes?« Zweitens: Manchmal ist das Schweigen die mächtigste Rede. Jesus selbst hat, als er von Pilatus angeklagt wurde, an einem bestimmten Punkt geschwiegen. Aber wer wurde durch sein Schweigen verurteilt? Das korrupte System wurde durch das Schweigen Jesu entlarvt. Ich denke, dass Jesus das Schweigen vom heiligen Josef gelernt hat.
Der heilige Josef ist auch der Vater, der hinausgeht, der keine Mühe scheut, um seine Familie zu schützen. Was kann sein Glaube der Kirche sagen, die jetzt in den synodalen Prozess eingetreten ist?
Der synodale Prozess ist eine Einladung an uns, gemeinsam zu gehen, uns gemeinsam auf den Weg zu machen. Es gibt eine Art des Gehens, die uns der heilige Josef zeigt. Er ging mit Maria und Jesus auf gefährlichen Wegen, geleitet von der Führung des Engels Gottes. Es ist ein Gehen, das Schutz bedeutet, das Fürsorge bedeutet. Wir hoffen, dass wir während des synodalen Prozesses diese Fähigkeit entwickeln können, Jesus und die Kirche mehr zu lieben. Und selbst wenn wir einige Bemerkungen machen, die nicht immer positiv sind, müssen wir dies aus Fürsorge, aus Liebe tun, damit der Name Jesu verkündet und bewahrt wird.
Noch eine letzte Frage, die eher an Sie persönlich gerichtet ist. Sie verehren den heiligen Josef sehr, was Sie bei verschiedenen Gelegenheiten geäußert haben. Was beeindruckt Sie am meisten an diesem Heiligen?
Diese Verehrung erlaubt es mir, mich in verschiedenen Situationen an ihn zu wenden. Vor allem, wenn es schwierige Momente gibt, ich mich niedergeschlagen fühle und sage: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Dann bitte ich um den Schutz des heiligen Josef. Aber vor allem um den Mut, im Schatten zu stehen. Es erfordert Mut, vor allem, wenn man glaubt, die richtige Idee zu haben, und einen Vorschlag machen will. Du glaubst, die richtige Lösung zu haben, aber dann läuterst du deine Absichten und sagst: »Moment mal, werbe ich jetzt für mich selbst oder suche ich das Gute?« Wenn es nicht so sehr um das Wohl anderer geht, dann ist es gut, im Schatten zu bleiben und Gott und Gottes Engel seine Wunder wirken zu lassen.
Von Alessandro Gisotti