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Mary’s Meals: Tägliche Mahlzeit für hungrige Schulkinder

Eine zündende Idee und ein funktionierendes Konzept

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15. Oktober 2021

Mitte September warnte die Kinderhilfsorganisation UNICEF vor einer anhaltenden Ernährungskrise für Kleinkinder. Wachsende Armut, soziale Ungleichheit, Konflikte, klimabedingte Katastrophen und Gesundheitskrisen sowie die Covid-19-Pandemie seien Ursachen dafür, dass sich die Lage in den vergangenen zehn Jahren kaum verbessert habe, hieß es in einem Bericht, der im Vorfeld des UN-Gipfels zu Ernährungssystemen veröffentlicht wurde. »Gerade in den ersten beiden Lebensjahren könne eine schlechte Ernährung die physische und geistige Entwicklung der Kinder nachhaltig beeinträchtigen und sich auf ihre Bildung, Berufsaussichten und Zukunftschancen auswirken«, so die UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fore. Eine Auswertung aktueller Daten aus 91 Ländern zeige, dass nur die Hälfte der Kinder zwischen sechs und 23 Monaten die empfohlene Mindestanzahl an Mahlzeiten pro Tag erhält.

Aber es gibt auch gute Nachrichten: »Ich bin eine von zwei Millionen«, sagt die kleine, etwas stämmig gebaute Matamando Masho aus Sambia mit fester Stimme, während sie geradeaus in die Kamera schaut und die Arme locker hängen lässt, die Schutzmaske gegen das Coronavirus unter dem Kinn. In ihrer Schuluniform – hellblaue Bluse und dunkelblaue Schürze – sagt sie stolz, dass sie in Maguya in die vierte Grundschulklasse geht. Ein leises Lächeln am Schluss. Etwas Nervosität zeigt sich in den Bewegungen des Oberkörpers: Man sieht ihre Beine nicht, aber man kann erahnen, dass sie von einem Bein aufs andere tritt…

Eine von zwei Millionen: Mitte September erklärte die weltweite Bewegung Mary’s Meals, dass sie dieses Zwischenziel erreicht hat. Die gemeinnützige Organisation hatte 2002 in Malawi mit 200 Kindern begonnen. Der Schotte Magnus MacFarlane-Barrow, ehemaliger Lachszüchter mit einer sozialen Ader, befand sich damals in Malawi, wo eine schwere Hungersnot herrschte und die Menschen sich von Blättern und Wurzeln ernährten. Beim Besuch einer Familie – eine an Aids erkrankte und im Sterben liegende Mutter mit sechs Kindern – fragt er den damals

14-jährigen Edward: »Worauf hoffst du? Was möchtest du?« Die Antwort: »Ich möchte genug zu essen haben und in die Schule gehen können.« Das war der Impuls für eine ganz einfache Grundidee: Kinder erhalten täglich in der Schule eine gesunde, nahrhafte Mahlzeit.

Unter den ersten Kindern, denen diese Schulspeisung zugute kommt, ist Veronica. Als sie elf Monate alt ist, stirbt ihr Vater. Als sie neun Jahre alt ist, stirbt auch ihre Mutter. Sie vermisst sie sehr. Niemand tröstet sie, wenn sie traurig ist. Sie erzählt: »Es war hart. Es war ein hartes Leben. Wenn du Hunger hast, kannst du nicht denken. Ich ging in die Schule, ohne etwas zu essen. Seit ich Mary’s Meals bekam, hat sich meine schulische Leistung verbessert. Ich war satt. So war ich aktiv dabei und in der Lage, auf das zu hören, was der Lehrer sagte. Jetzt studiere ich Erziehungs- und Wirtschaftswissenschaften. Ausbildung ist wichtig. Ich arbeite hart.« Vielleicht kann sie eines Tages selbst dazu beitragen, die Situation in ihrem Land zu verbessern, indem sie sich in Politik oder Wirtschaft engagiert und gegen die weit verbreitete Korruption kämpft…

Unter den Kindern sind »kleine Helden«, die als 12-, 13-Jährige drei, vier jüngere Geschwister versorgen müssen, weil die Eltern nicht mehr leben. Jason ist zehn Jahre alt und nimmt seine einjährige Schwester überallhin mit, auch in die Schule, denn das hat die Mutter, die auf dem Feld arbeiten muss, zur Bedingung gemacht, wenn er in die Schule gehen will. Und das will er. Außerdem hat er seine Schwester gern, auch wenn sie ihn manchmal nervt, weil sie nicht auf ihn hört.

Damit die simple Idee der Mahlzeit in der Schule funktioniert, ist eine gut durchdachte Struktur notwendig, klare Ziele, Werte und Leitprinzipien sowie eine ständige Überprüfung der Strategie und ihrer Wirksamkeit. Ein ganzes Heer ehrenamtlicher Mitarbeiter ist beteiligt. Allein in Malawi gibt es über 85.000 Helfer aus den ärms­ten Teilen der Bevölkerung. Im südostafrikanischen Binnenstaat, wo alles angefangen hat, erhalten die Kinder in fast einem Drittel aller Grundschulen Mary’s Meals.

Gründer Magnus unterstreicht immer wieder, dass dies Tausende kleine Gesten der Liebe sind: »Ich spüre dabei so etwas wie Ehrfurcht. Es ist unendlich schön.« Der Name der Organisation bezieht sich auf Maria, die Mutter Jesu: »Marias Mahlzeiten« könnte man übersetzen. Viele der ersten Helfer hatten im Pilgerort Medjugorje wichtige Erfahrungen gemacht. Die Aktivität wird vom Gebet begleitet, die »globale Familie« Mary’s Meals trifft sich jeden Tag um 14 Uhr zu einem kurzen Moment des Gebets im Internet, so der Verantwortliche für Italien, Ruggero Poli. Mittlerweile sind über 40 Nationen beteiligt, davon 19 Empfängerländer, darunter neben Malawi Indien, Haiti, Sambia, Mosambik…

Aber zurück zu Vorgehensweise und Struktur: Kommunikation zwischen Spendern und Empfängern ist wichtig, die Informationen laufen in beide Richtungen. Auf einer jährlich in Glasgow abgehaltenen Konferenz ist ein vertiefter Austausch möglich. Auf der Geberseite ist die Organisation in verschiedenen Ländern als eingetragener Verein registriert, darunter Australien, Bosnien, Kanada, Italien, Portugal, die Vereinigten Arabischen Emirate und die Vereinigten Staaten von Amerika. Ehemalige Manager arbeiten mit, es gibt Verantwortliche für Fundraising, für Ressourcenmanagement, einen Direktor auf Länderebene. Unter den Spendern entsteht Gemeinschaft durch den gemeinsamen Einsatz, zum Beispiel bei der Veranstaltung eines Wohltätigkeitslaufs und anderen Arten von Aktivitäten; Kinder sind hier besonders erfindungsreich.

Auf der einen Seite lernen die Geber wirklich zu geben, auf der anderen Seite stehen aber keineswegs »passive Empfänger«: Zunächst findet immer ein Treffen mit den Menschen vor Ort statt. Es erfolgt eine Analyse der konkreten Situation mit der Frage, ob die Gemeinschaft vor Ort sich vorstellen kann, diese Idee umzusetzen. Denn die Verantwortung für das Projekt, das tägliche Kochen und Austeilen des Essens wird von freiwilligen Helfern übernommen. Oft sind es die Mütter, seltener Väter, der Kinder, die die Schule besuchen. Das bedeutet für sie Mehrarbeit, da sie den Rest des Tages auf dem Feld arbeiten oder Holz sammeln müssen. Aber die Eltern sind froh, dass sie so den Kindern eine Mahlzeit garantieren können. »Das wollen wir für unsere Kinder, es kommt von Herzen!«

Wird das Projekt positiv aufgenommen, beginnt die Ausbildung der Helfer, der Bau der Küche, die Suche nach Lösungen der logistischen Probleme, wobei die Transportmittel je nach Situation ganz unterschiedlich sein können: Manche Schulen sind mit dem LKW zu erreichen, andere nur per Esel oder Kanu. In einem Fall tragen die afrikanischen Frauen die schweren Lasten auf dem Kopf einen steilen Berg hinauf, da es keine Straße zum Dorf gibt – wo die Landschaft aber atemberaubend schön ist.

Die Köchinnen kommen vor Sonnenaufgang in die Schule, machen unter der fachkundigen Leitung einer Chefköchin Feuer unter enormen Töpfen, in denen mit einer Art »Paddel« umgerührt wird. Die Zutaten werden vor Ort eingekauft, wo immer das möglich ist, um die lokale Wirtschaft zu unterstützen. Alle Kinder erhalten eine Mahlzeit, es wird kein Unterschied zwischen den Bedürftigen gemacht, sei es hinsichtlich des Glaubens oder der Ethnie. In Cape Mount, Liberia, gibt es eine gute Zusammenarbeit mit dem Imam, andernorts, wo es ratsam ist, eine Zusammenarbeit mit bereits vorhandenen lokalen Organisationen. Ein Controlling-Team überwacht den Fortgang des Projekts. Zu den Controllern gehört Dyson, der in Malawi für 17 Schulen zuständig ist und als Kind am eigenen Leib erfahren hat, was es bewirkt, nicht mehr mit knurrendem Magen auf der Schulbank sitzen zu müssen. Insgesamt steigen die Schülerzahlen, wenn eine Mahlzeit angeboten wird, da viele Kinder ansonsten arbeiten müssten, um etwas zu essen zu haben. Die schulischen Leistungen verbessern sich, da die Kinder mehr Energie haben und auch nicht einschlafen. »Freunde zu haben und spielen zu können, gehört auch dazu,  statt den ganzen Tag auf der Suche nach Essen zu sein«, sagt Ruggero.

Wenn die erste Mahlzeit in der Schule ausgeteilt wird, wird dies oft mit Gesang und Tanz gefeiert. Ein Kind in Haiti bemerkte dazu: »Ich glaube es erst, wenn ich den ersten Bissen im Mund habe.« Dann bietet sich täglich dasselbe Bild: Die Kinder stehen in langen Schlangen an und erhalten eine nahrhafte Mahlzeit, meist in buntem Plastikgeschirr. Anschließend sitzen sie meist auf dem Boden und essen in den meisten Ländern mit der Hand. 18,30 Euro ist der Betrag, der durchschnittlich notwendig ist, damit ein Schulkind ein Jahr lang eine Mahlzeit erhält. Im Jahr 2023 drei Millionen Kinder zu erreichen wäre ein Traum, aber wichtiger als Zahlen, die kein Maß für Erfolg oder Misserfolg sind, ist es, das nächste Dorf, das nächste Kind zu erreichen, Veronica, Dyson, Matamando, Jason, die vielleicht die Ärzte, Lehrer, Piloten von Morgen sein werden…, wobei Mary’s Meals immer wieder die beglückende Erfahrung machen darf, nicht »alles unter Kontrolle zu haben«, weil vieles Geschenk ist.

Johanna Weißenberger

Mary’s Meals ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz ein eingetragener Verein mit jeweils eigenen Internetseiten, wo weitere Informationen und auch Filme verfügbar sind. Der Gründer Magnus MacFarlane-Barrow hat zwei Bücher geschrieben: »Eine Schale Getreide verändert die Welt« (deutsch 2017) und »Give« über Wohltätigkeit und die Kunst, im eigenen Leben großzügig zu sein.