Der Begriff »Ruhe« im Alten Testament

Begegnung mit Gott

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03. September 2021

Nicht Urlaub oder Entspannung, sondern Begegnung mit Gott bewahrt vor den Turbulenzen des Lebens: So definiert der Dominikaner Philippe Lefebvre, der an der Universität Freiburg in der Schweiz Altes Testament lehrt, den Begriff »Ruhe«. In einem Interview, das er Frater Baptiste de l’Assomption für die in Frankreich erscheinende Zeitschrift »Carmel« gegeben hat – und das wir im Folgenden auszugsweise in deutscher Übersetzung veröffentlichen –, weist der Bibelwissenschaftler darauf hin, dass das Wort »Ruhe« schon in den ersten Kapiteln der Genesis vorkommt und insbesondere von Noah verkörpert wird. Der bevorzugte Ort, an dem wir diesen Zustand erreichen können, so der Ordensmann weiter, ist die Kirche, die in der Heiligen Schrift in die Nachfolge des Tempels tritt. Die Ruhe, so Lefebvre, kann sich auch als ideale Waffe erweisen, um uns vor den vielen Schwierigkeiten zu schützen, mit denen wir uns im Leben auseinandersetzen müssen.

Was ist für Sie die grundlegende Bedeutung von Ruhe in der Bibel?

Ruhe ist ein theologischer Begriff, der von tiefer und grundlegender Bedeutung ist. Er ist nicht gleichbedeutend mit Urlaub. »Ruhe« bedeutet in der Bibel soviel wie »bei Gott sein«. Ausgehend davon ist alles Weitere zu verstehen. Die Bibel ist eine lange Betrachtung über die Ruhe: die wahre Ruhe, die falsche Ruhe, […] damit wir auch in Situationen Ruhe finden können, in denen wir körperlich oder seelisch weit von ihr entfernt zu sein scheinen. Das entscheidende Kriterium für das Verständnis dessen, was wahre Ruhe ist, besteht darin, zu erkennen, dass keine Schwierigkeit mir diese Ruhe nehmen kann. Wenn ich an dem Ort, an dem ich mich befinde, diese Vertrautheit mit Gott, diesen Dialog, dieses Zusammenwirken und diese Unterstützung durch Gott wahrnehme, dann finde ich die wahre Ruhe. Wir können also sehr müde sein, aber doch zugleich zur Ruhe kommen, weil Gott gegenwärtig ist. Im Gefängnis findet der heilige Johannes vom Kreuz beim Schreiben seiner Gedichte Ruhe.

Ähnelt die biblische Erfahrung von Ruhe also jener Erfahrung, von der die Heiligen berichten?

Ja, und wir sehen dies im Leben vieler von ihnen, wie zum Beispiel der heiligen Jeanne d’Arc. Dieses 19-jährige Mädchen, das in die Wirren der europäischen Geopolitik des 15. Jahrhunderts hineingerät, leidet viel, bewahrt aber trotz allem eine tief verankerte innere Festigkeit. Alles in ihr ist an seinem Platz. Souverän antwortet Jeanne ihren Anklägern und verblüfft dabei mitunter die gelehrten Professoren, von denen sie verhört wird. Sie ist innerlich gefestigt. Festigkeit ist übrigens ein biblischer Begriff, der zum Glaubens­vokabular gehört. »Aman, amen« bedeutet, auf festem Boden zu stehen.

Gibt es eine biblische Gestalt, die das Thema »Ruhe« besonders gut veranschaulicht?

Ja, Noah, dessen Name im Hebräischen (noach) tatsächlich »Ruhe« bedeutet. Am Ende des 5. Kapitels der Genesis gab sein Vater ihm »den Namen Noah – Ruhe«. Doch gleich zu Beginn von Kapitel 6 fasst Gott den Entschluss, die Sintflut zu schicken. Ein überraschender Plan, da doch das Thema, das einige Verse zuvor aufgenommen wurde, die »Ruhe« ist! Angesichts der drohenden Katastrophe muss Noah eine Arche bauen. Der Text berichtet, dass Gott ihn auf dem Gipfel des Berges Ararat ruhen ließ (Gen 8, 4). Noah wird also zusammen mit einer kleinen Schar von Menschen und Tieren vor der Flut gerettet, und die Arche setzt schließlich auf dem Gebirge Ararat auf. Er geht hinaus, baut einen Altar auf und bringt ein Brandopfer dar. Das lässt uns an den Tempel denken: ein Berg, ein Altar und ein Opfer. Im Deuteronomium (12,10) wird der Tempel als Ort der Ruhe bezeichnet […]. Man geht in den Tempel, um Ruhe zu finden, denn dort ist man bei Gott. Es gibt eine ganze »Theologie der Ruhe« im Zusammenhang mit dem Tempel.

Was bedeutet das?

Wir sehen es zum Beispiel in Psalm 29. Er preist den Herrn, der »über der Flut« als König in Ewigkeit in seinem Tempel thronte. Der Tempel wird somit als Ort der Festigkeit und Stabilität dargestellt, während die Wüste bebt, das Feuer lodert, die Hirschkühe kreißen […]. Der Tempel ist der Ort, an dem wir uns erholen, wieder zu Kräften kommen und Orientierung finden, und ich glaube, dass all dies »Ruhe« bedeutet. Viele Kirchen sind so gebaut worden, damit wir genau das erleben können.

Um Ruhe zu finden, muss man also in den Tempel gehen?

Ja, zur Begegnung mit Gott im Tempel. Aber auch Gott kommt uns entgegen. In Psalm 132, Vers 8, heißt es: »Steh auf, Herr, zum Ort deiner Ruhe, du und deine machtvolle Lade.« In Vers 14 sagt Gott selbst über den Tempel: »Das ist für immer der Ort meiner Ruhe, hier will ich wohnen, ich hab ihn begehrt.« Ruhe ist also eine Begegnung mit Gott, der in sein Haus kommt.

Kann die Begegnung mit Gott somit erholsam sein?

Ja, sie ist eine Erfahrung, die wir mit einigen Menschen machen, die ein tiefes Leben führen und die Dinge im Licht der Wahrheit sehen. Neben ihnen befinden wir uns nicht mehr in dem üblichen Diskussionswirrwarr, und das ist entspannend. Die Begegnung mit ihnen erhebt uns.

Kann es auch passieren, dass wir diese »erholsame« Begegnung verpassen?

Genau davon spricht Psalm 95: »Sie sollen nicht eingehen in meine Ruhe« (Vers 11). Ich denke, es ist sinnvoll, diese Worte jeden Tag im Stundengebet am Ende des Invitatoriums zu hören. Aber seien wir beruhigt, auf dieses schroffe Wort folgt Psalm 96, der verkündet: »Singt dem Herrn ein neues Lied.« Aber dieser Vers aus Psalm 95 erinnert uns daran, dass Ruhe weder eine Selbstverständlichkeit noch eine Entspannungstechnik ist. Die Ruhe, von der die Bibel spricht, ist eine Begegnung. Wir ruhen mit jemandem aus […]. Und die Prüfung, die Versuchung, von der wir im Vaterunser um Befreiung bitten, ist genau das, was diese Begegnung, diesen Zustand der Ruhe verhindert. Dies sind Dinge, die man heutzutage nur schwer wahrnehmen kann, weil wir uns auf Techniken verlassen. Auch wir Christen. Willst du Exerzitien in Begleitung eines bestimmten Priesters machen? In Ordnung, aber er wird dir weder mit seinen Techniken noch mit seinen Worten groß weiterhelfen können. Die eigentliche Frage lautet vielmehr: »Willst du Gott begegnen?«

An welcher Stelle taucht der Begriff »Ruhe« zum ersten Mal in der Bibel auf?

In Genesis 2,15 heißt es: »Gott, der Herr, nahm den Menschen und gab ihm seinen Wohnsitz (Ruhe) im Garten von Eden.« Dieser Vers wird oft mit »er setzte ihn in« übersetzt, aber das ist falsch. Diese Geste des »ihm Ruhe Gebens« ist viel erhabener. Es handelt sich in der Tat um eine Inthronisierung. Es ist daher verständlich, dass das, was Noah erlebt, etwas mit dem zu tun hat, was sein Vorfahr Adam im Garten Eden erlebte.

Was können Sie abschließend zu den Zeiten sagen, die wir der Erholung widmen?

Der Schabbat, die Feste sind in der Bibel gewissermaßen Behelfsmittel, mit denen wir uns darin einüben, diese Ruhe in Gott zu leben. So wie das »Ende der Welt«, um recht verstanden zu werden, jeden Tag im Voraus erfahren werden muss, bereiten alle liturgischen Feste die Menschen darauf vor, diese Ruhe in Gott zu erleben. Die göttliche Ruhe ist die Zeit vollkommener Fruchtbarkeit. Psalm 104 erklärt dies sehr anschaulich.

Wenn die Welt Gott überantwortet wird, ist alles gut. Gott ruht, und der Schöpfung kommt dies zugute […]. In der Welt fehlt es jedoch nicht an Schwierigkeiten aller Art. Aber wir überwinden sie, sie können uns nicht aufhalten. Denn wir ruhen uns aus. Und die Ruhe wird zu einer wirksamen Waffe gegen eine Ordnung, die auf Anschuldigungen, auf Gewalt gründet. Die Ruhe ist mehr als eine Verteidigungswaffe, sie ist fast so etwas wie eine »Angriffswaffe«.