Ein alter, weiser Freund von mir wiederholt gerne eine heute viel gebrauchte Redewendung: »Ein Mensch wird langsam alt, wenn er beginnt zurückzublicken, anstatt nach vorne zu schauen.« Heute ist der »Osservatore Romano« 160 Jahre alt geworden. Eine schöne Zahl: klein, wenn man sie mit der Geschichte der Kirche vergleicht, aber mindestens doppelt so groß wie das Durchschnittsalter eines Menschen und damit ein Zeugnis großer Beharrlichkeit und Langlebigkeit, verglichen mit den vielen italienischen und ausländischen Zeitungen, die vor oder gleichzeitig mit dem Publikationsorgan des Heiligen Stuhls entstanden sind. Die Versuchung ist groß, zurückzublicken und sich zu erinnern, dieses journalistische Ereignis zu feiern, das, und zwar nicht in einer Nebenrolle, die letzten drei Jahrhunderte der Weltgeschichte der Menschheit berührt hat, vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Stattdessen die Entscheidung der »Jugend«: nach vorne schauen. Natürlich gestützt auf die hinter uns liegende Geschichte, die immer noch weiterwirkt. Es ist eine »traditionelle« Entscheidung in dem Sinne, den der große österreichische Komponist Gustav Mahler der Tradition zuschrieb: nicht die Verehrung der Asche, sondern das Bewahren des Feuers. Diese Zeitung hat ein Feuer zu tragen, dasselbe Feuer, von dem Jesus im Evangelium spricht, jenes Feuer, das in den letzten 20 Jahrhunderten die ganze Welt in Brand gesetzt hat und immer noch in Brand setzt, wo immer es hinkommen kann. Und hier steht die Sendung der Kirche auf dem Spiel, die – wie uns der Papst kürzlich in Erinnerung gerufen hat – nur dann glaubwürdig ist, wenn sie frei ist. Das ist die große Herausforderung, der sich auch der »Osservatore Romano« jeden Tag stellt.
Aus wissenschaftlicher Sicht kann das, was wir »Feuer« nennen, als »Verbrennung« definiert werden, als Umwandlungsprozess von Materie, die sich verändert, ihre Konsistenz verliert, aber Wärme und Energie abgibt und sich reinigt. Das passiert jeden Tag, wenn aus dem Nichts eine Zeitung entsteht und dann am Ende des Arbeitstages veröffentlicht, das heißt in der ganzen Welt verbreitet wird. Heute könnte man auch »verstreut« sagen, wenn man bedenkt, dass die Zeitung in der digitalen Dimension in der Lage ist, in Echtzeit »die Enden der Erde« zu erreichen. Und das können wir erhobenen Hauptes sagen, denn unsere Zeitung ist in der Tat eine internationale Zeitung, die in acht Sprachen erscheint und durch die wöchentlichen Sprachausgaben alle fünf Kontinente erreicht. Der »Osservatore« ist in der Tat nicht italienisch, sondern römisch, also katholisch, und damit universal.
Heute hat diese Zeitung einen 160 Jahre langen »Tag«, und sie ist solange am Leben geblieben, gerade weil sie sich verändert hat, indem sie sich kontinuierlich verwandelt hat und dabei gleichzeitig sie selbst geblieben ist. Treue und Kreativität, diese Worte richtete Papst Franziskus am vergangenen Hochfest der Heiligen Petrus und Paulus an die Redaktion. Sie bilden nicht nur keinen Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig: Die Treue existiert dank der Kreativität und die Kreativität lebt in der Treue, die die einzig wahre Art ist, kreativ zu sein.
Der »Osservatore Romano« hat gelebt, das heißt, sich verändert, während er durch die Hände von zehn verschiedenen Direktoren gegangen ist, denen ich danken möchte, angefangen von den beiden gemeinsam agierenden Direktoren Nicola Zanchini und Giuseppe Bastia am Anfang bis hin zu meinem direkten Vorgänger Giovanni Maria Vian: Sie alle waren Fackelträger, die dieses Feuer trugen, den Staffelstab weiterreichten und ihn nun vor zweieinhalb Jahren an mich weitergaben. Wenn die Zeitschrift existiert und lebendig ist, wenn ich heute arbeiten kann – mit Treue und Kreativität, wie ich hoffe –, dann ist das ihr Verdienst und ihnen gilt meine Dankbarkeit.
Eine Zeitung ist ein Feuer, oder sollte es zumindest sein. Das heißt, es sollte ein Prozess sein, der die Ideen verwandelt, die im Kontakt mit der Realität, mit Nachrichten Gestalt annehmen; Ideen, die zu Reflexionen, Geschichten werden und dann den Lesern angeboten werden. In unseren Zeitungsartikeln soll es jene Wärme und Energie geben, die wir brennend in die Umgebung ausstrahlen, in der wir uns verbreiten. Wenn unsere Redaktion mit einem guten, lebendigen Feuer brennt, dann sind Wärme und Energie gesund und helfen, unsere Leser aufzurichten. Seit jener Nacht, in der der Mensch das Feuer erfand, haben die Menschen den Brauch übernommen, sich um das flammende Feuer zu versammeln, das die dunkle Nacht erhellte, die kalte Umgebung wärmte und die rohen Speisen kochte. Und wenn sie sich versammelten, saßen sie um das Feuer und erzählten, erzählten von sich. Wenn wir die Zeitung nachmittags in den Druck geben, begleitet der folgende Wunsch die Verteilung dieser »einzigartigen Zeitung«, wie Giovanni Battista Montini sie am 100. Jahrestag, dem 1. Juli 1961, nannte: die ganze Welt mit einem Wort zu erreichen, das wirklich »Feuer« ist, manchmal glühend und brennend, aber immer voller Ermutigung und Vertrauen, begleitend und Hoffnung weckend.
Und das Wort, das wir heute, bei diesem Übergang in das 160. Jahr, durch unsere Zeitung verbreiten wollen, ist »Geschwisterlichkeit«. Wir haben es nicht selbst erfunden: Es ist das erste Wort, das Papst Franziskus am Abend des 13. März 2013 gesprochen hat, und es ist das Wort, das zusammen mit dem der »Barmherzigkeit« den Bogen dieser acht Jahre seines Pontifikats zusammenhält. Am vergangenen 4. Oktober, dem Tag, an dem die Zeitung mit neuem Format und Layout in den Druck ging, haben wir den Text der Enzyklika Fratelli tutti veröffentlicht. Es ist ein machtvoller Text, der das Gewissen einer Welt aufrüttelt, die noch immer betäubt, überrascht und sprachlos ist vom tragischen, heftigen Ausbruch der Pandemie. Der verblüfften Welt schlägt der Papst ein Wort vor: Geschwisterlichkeit. Wir können menschlich bleiben, wenn wir uns als Geschwister wiederentdecken. Es geht nicht so sehr darum, es zu wollen, sondern darum, es zu erkennen. Und dabei kann die Welt der Kommunikation eine wichtige, entscheidende Rolle spielen. Allerdings nur dann, wenn sie einen Journalismus der Geschwisterlichkeit einzuleiten weiß: wo Journalist zu sein nicht gleichbedeutend ist mit Machtausübung, sondern wenn es ein Dienst ist, ein Dienst, der dem Bruder und der Schwester angeboten wird, so wie sie sind, in ihrer Konkretheit: ihre Geschichte erzählen, um eine Brücke zu bauen; versuchen, die Bedingungen für eine mögliche Allianz zu schaffen, und nicht die Motive der Spaltung und Opposition zu verschärfen. Dazu müssen wir der Versuchung zur Ideologie widerstehen, die sich immer wieder einschleicht und dazu führt, dass wir uns die Wirklichkeit gemäß unserer Vorurteile und Eigeninteressen zurechtbiegen. Dazu müssen wir, wie der Papst sagt, »eine lebendige Zeitung sein, die hilft; deshalb darf sie nicht im Labor oder am Schreibtisch entstehen, sie muss auf der Straße entstehen, um das Leben aufzunehmen. Und das Leben nimmt man, wie es kommt, nicht wie ich es gerne hätte.« Wir sind bereit, 160 Jahre jung, wir sind lebendig und mit einem Geist voller Dankbarkeit schauen wir nach vorne, in der Gewissheit, dass die Zukunft besser ist als alle unsere Vergangenheiten.
Von Andrea Monda