Für den Konzilspapst Paul VI. war es ein Wagnis. Neben dem gewaltigen, von den größten Kunstgenies entworfenen Petersdom sollte eine moderne Halle entstehen, in der der Papst die wachsende Zahl von Pilgern aus aller Welt in Audienz empfangen wollte. Sie sollte funktional sein, dem geistlichen Zweck angemessen, durfte weder protzig noch banal wirken und musste in die Umgebung passen. Die Besucher sollten den Papst in angemessenem Ambiente sehen, hören und erleben können. Nach siebenjähriger Planung und vier Jahren Bauzeit konnte Paul VI. den Bau am 30. Juni 1971, vor 50 Jahren, mit einer Generalaudienz einweihen.
Für seine künstlerische Gratwanderung gewann der kunstsinnige Paul VI. den italienischen Stararchitekten Pier Luigi Nervi (1891-1979). Der hatte sich mit kühnen Stahlbetonkonstruktionen für Hallen von New York über Mailand bis Kapstadt einen großen Namen gemacht. Im Vatikan entstand schließlich ein architektonisches Meisterwerk: eine pfeilerlose, harmonisch wirkende Halle mit einem trapezförmigen Grundriss für – je nach Bestuhlung – 6.300 bis 12.000 Besucher. Für die wellenförmige Dachkonstruktion mit 42 Gewölberippen mussten die Fundamente bis in 40 Meter Tiefe verankert werden. Hier seien »fortschrittlichste Technik in Ausdruck wahrer Kunst verwandelt« worden, hieß es später im Vatikan, ohne monumentalen Hochmut oder ornamentale Eitelkeit.
Zunächst musste der Papst jedoch Platz für den Neubau schaffen. Eine Häuserzeile mit Wohnungen und Geschäften verschwand, ebenso wie das »Oratorium« mit Ganztagsschule und Sportplätzen. Zudem wurde das (baufällige) »Museo Petrino« vor der Glaubenskongregation abgerissen, um einen gesicherten Zu- und Abfluss der Besucher zu ermöglichen.
Nervi hatte zunächst doppelt so groß geplant. Danach hätten auch die Glaubensbehörde und das Priesterkolleg am Campo Santo weichen müssen. Jedoch entschied sich der Papst für eine kleinere Lösung. Auch die war kostspielig, was Kritik auslöste. Paul VI. versprach eine karitative Kompensation. Er verkaufte eine Immobilie im Zentrum Roms und baute im sozialen Brennpunkt Acilia das »Villaggio Paolo VI.« mit 99 Wohnungen.
Neben Nervi waren weitere Künstler am Vatikan-Projekt beteiligt. Für die Gestaltung der beiden ovalen Fenster war zunächst Marc Chagall im Gespräch, der Entwürfe zum Thema Frieden und Ökumenismus vorlegte. Dann bekam aber der Ungar Janos Hajnal den Auftrag.
Ihren Abschluss fand die Gestaltung der »Nervi-Halle« erst 1977. An der Frontseite ersetzte eine 20 mal 8 Meter große Bronzeskulptur einen alten Wandteppich der Raffael-Schule. Der Bildhauer Pericle Fazzini zeigt die »Auferstehung« Christi – aus der Verwüstung des Gartens Getsemani, mit entwurzelten Bäumen und gespaltenen Felsen, »wie nach einer Atom-Explosion«.
Rund zwölf Millionen Menschen hat die Halle in den vergangenen 50 Jahren aufgenommen. Hier geben die Päpste ihre Generalaudienz; im Sommer nehmen sie dafür oft den Petersplatz. Sie halten dabei eine geistliche Ansprache, oft in größeren Katechesereihen, zunächst auf Italienisch, dann folgen Kurzfassungen in anderen Sprachen, bevor sie den Segen spenden.
Aber in der Halle wurden auch die Konsistorien zur Kreierung neuer Kardinäle abgehalten. Und hier fanden – trotz fragwürdiger Akustik – zahlreiche Konzerte zu Ehren der Päpste statt, mit namhaften Dirigenten von Riccardo Muti bis Krzystof Penderecki und prominenten Orchestern. Sogar der Chor der Roten Armee sang für den Papst, und es gastierte das China Philharmonic Orchestra. Papst Franziskus lehnt Konzerte zu seinen Ehren ab.
Zum Audienzgebäude gehört in einer oberen Etage ein Konferenzsaal, in dem auch die Bischofssynoden zusammentreten. In der großen Halle laden die Päpste zu besonderen Anlässen wie Weihnachten Arme und Obdachlose zum Essen ein. Im Juli wird der Raum zur Sommerfreizeit für die Kinder von Vatikanangestellten leergeräumt, für Hüpfburgen und Volleyball. Während der Corona-Pandemie schließlich wurde die Nervi-Halle zum Impfzentrum: Hier erhielten die Papstmitarbeiter, aber auch mehr als 1.000 Bedürftige und Obdachlose eine Schutzdosis.
Johannes Schidelko