Bisher unveröffentlichtes Interview mit Papst Franziskus

Immer aktuell und bildend

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16. Juli 2021

»Eine ›Straßenzeitung‹«, das heißt »eine Zeitung, die hinauszugehen versteht, auf die Straße, um die Geschichte zu sehen, sie mit Händen zu greifen und darüber nachzudenken. Die Geschichte von heute, die von gestern.« So sieht Papst Franziskus den »Osservatore Romano«, seine Zeitung, die »Parteizeitung«, wie er sie gerne nennt. Das hat er in einem Interview mit dem Regisseur Francesco Zippel erzählt, der zur Zeit im Auftrag der »Dazzle Communication« einen Dokumentarfilm dreht, der der 160-jährigen Geschichte der Zeitung des Heiligen Stuhls gewidmet ist. Im Folgenden die Worte des Papstes:

Ich weiß, dass der Ausdruck etwas zweideutig ist, aber ich nenne den »Osservatore Romano« gerne die »Parteizeitung«. Ich lese ihn jeden Tag, und wenn er sonntags nicht erscheint, dann fehlt mir etwas. Nicht nur jetzt. Auch in Argentinien habe ich die spanische Wochenausgabe von vorne bis hinten gelesen, weil ich weiß, dass sie eine Verbindung zum Heiligen Stuhl, zum Lehramt und zum Leben der Kirche, zur Geschichte der Kirche herstellt.

Die Gefahr ist das Labor. Um aktuell zu sein, darf eine Zeitung nicht im Labor entstehen, nur aus Gedanken bestehen. Es muss eine »Straßenzeitung« sein, sagen wir es einmal so, aber in übertragener Bedeutung: eine Zeitung, die auf die Straße hinauszugehen versteht, um die Geschichte zu sehen, sie mit Händen zu greifen und darüber nachzudenken. Die Geschichte von heute, die von gestern. Zum Beispiel war die dem Holocaust-Gedenktag gewidmete Ausgabe eine Katechese, eine echte Katechese für die jungen Menschen: dass sie sehen, was in jener Zeit geschehen ist und was heute geschehen kann. Daher ist es eine lebendige Zeitung, die uns hilft: Deshalb darf sie nicht aus dem Labor kommen oder am Schreibtisch entstehen. Sie muss von der Straße kommen, um das Leben aufzunehmen. Und das Leben nimmt man, wie es kommt, nicht wie ich es gerne hätte.

Paul VI. hat gesagt, dass der »Osservatore Romano« nicht bloß eine Tageszeitung mit Information ist, sondern dass sie Bildung vermittelt, und das ist wahr. Noch einmal zur Ausgabe am Holocaust-Gedenktag: Die Menschen, die diesen Bericht über den Gedenktag lesen, werden gebildet, weil wir ihnen Elemente der Erinnerung, des Gedenkens, historische Aspekte an die Hand geben, um die Welt aus diesem Blickwinkel zu sehen. Daher ja, eine Bildung vermittelnde Zeitung. Auch mir hat es gut getan, jene Ausgabe zu lesen, denn da gab es Dinge, die ich nicht ganz verstand, die ich aber jetzt verstanden habe. Eine Zeitung, die bildet.

Eine Zeitung, die über die Funktion der Evangelisierung hinaus auch einen wichtigen diplomatischen Aspekt besitzt. Vor allem in Bezug auf die Verbreitung des päpstlichen Lehramts. Ich denke an Pius XII., der über alle möglichen Themen gesprochen hat, sein Lehramt war sehr umfassend. Durch den »Osservatore Romano« hat es Schule gemacht und sich als Lehre verbreitet. Ich denke an Pius XII., weil ich glaube, dass er darin revolutionär war: sein Lehramt wurde von der Kirche durch den »Osservatore Romano« verbreitet. Ein Papst, der alle traf, und alle kamen zu ihm und er sprach, Künstler, Intellektuelle, Hebammen… und das verbreitete sich mit dem »Osservatore und Radio Vatikan, aber es war einfacher, das Lehramt in der Zeitung zu finden, weil sie ein Mittel ist, das bleibt.

In Argentinien gab es eine spanische Wochenausgabe, die zusammenfasste. Ich las sie ganz, von Anfang bis Ende. Denn ich wollte verstehen. Jetzt erscheint sie leider nicht mehr auf Papier. Man muss sich einsetzen, damit der »Osservatore Romano« alle erreicht, in der Sprache aller. Daher möchte ich denjenigen, die uns finanziell unterstützen, für dieses Geschenk danken, den Wohltätern und Unternehmen, die uns helfen. Ich lese ihn von der ersten bis zur letzten Seite, der Reihe nach. Es sei denn, es gibt etwas, das mich besonders interessiert. Dann suche ich es zuerst, aber normalerweise lese ich ihn von der ersten bis zur letzten Seite, und wenn er zu Ende ist, dann sage ich: »Schade, er ist zu Ende.« Ich lese ihn spätabends.

Wie wird der »Osservatore Romano« in 200 Jahren aussehen? Darüber habe ich nicht nachgedacht, diese Frage habe ich mir nicht gestellt. Ich hoffe, er wird immer aktuell sein.