Der aufmerksame Blick
Letzten Sonntag verweilte Papst Franziskus bei seiner Auslegung des Evangelientextes beim »aufmerksamen Blick« Jesu, der Hauptquelle seiner durch Gleichnisse erfolgten Verkündigung. In der Tat sind diese Erzählungen »gerade vom gewöhnlichen Leben angeregt und offenbaren den aufmerksamen Blick Jesu, der die Wirklichkeit beobachtet und mithilfe kleiner Alltagsbilder Fenster zum Geheimnis Gottes und zum menschlichen Dasein öffnet«. Der russische Romanschriftsteller Boris Pasternak schreibt in seinem Meisterwerk: »Für mich ist das Wichtigste, dass Christus mit Gleichnissen aus dem Alltag spricht.« Er hat recht: das ist das Wichtigste. Der Papst betont, dass »Jesus auf leicht verständliche Art und Weise [sprach], er sprach mit Bildern aus der Wirklichkeit, aus dem Alltagsleben«, und dieser Stil verbirgt in seinem Inneren einen Schatz, eine große Lehre: »So lehrt er uns, dass selbst den Dingen des Alltags, die uns mitunter alle gleich zu sein scheinen und die wir zerstreut oder mühsam voranbringen, die verborgene Gegenwart Gottes innewohnt, das heißt, sie haben eine Bedeutung. Auch wir brauchen also aufmerksame Augen, damit wir ›Gott in allen Dingen suchen und finden‹‹ können.« Das vom heiligen Ignatius stammende Schlusszitat offenbart ein wesentliches Detail dieses »Wichtigsten«: der Katholizismus ist die Religion der Menschwerdung, alles andere leitet sich daraus ab, also das Vertrauen in die Wirklichkeit, auch in die so zerbrechliche und zweideutige menschliche Wirklichkeit, denn der Wirklichkeit, den Dingen, »wohnt die verborgene Gegenwart Gottes inne, das heißt, sie haben eine Bedeutung«. Der Charakter des »Weiß«, des Nihilisten in Cormac McCarthys Theaterstück Sunset Limited, leugnet das alles ab, als er von Anfang an erklärt: »Nichts von dem, was geschieht, hat irgend eine andere Bedeutung.« Das Gegengift gegen den Nihilismus ist also der aufmerksame Blick. Jener Blick, den der Papst zu haben empfiehlt, um die verborgenen Bedeutungen in der Wirklichkeit zu entdecken, um die Zeichen zu entziffern, die über die Welt verteilt sind. Kurz, Franziskus fordert uns auf, mehr Einbildungskraft zu haben, irgendwie mehr Künstler zu sein.
»Der Hass ist schlichtweg ein Mangel an Einbildungskraft«, erkennt Graham Green in Die Kraft und die Herrlichkeit intuitiv. Es geht also darum, zu lieben und, im Falle des Christen, auf die künstlerische Geste des Meisters zu antworten, darum, auch unsererseits Künstler wie Jesus zu sein, der Erzählungen verfasst und uns dadurch zu jenem Staunen auffordert, das sich aus dem aufmerksamen Blick ergibt. Die 2019 verstorbene amerikanische Dichterin Mary Oliver gab in einem knappen, kurzen Gedicht die »Anweisungen, das Leben zu leben«: »Gib Acht / staune / berichte davon.« Drei wesentliche Verben für das Leben jedes Menschen, umso mehr, wenn es sich um ein christliches Leben handelt.
Papst Franziskus gibt keine Gebrauchsanweisungen für das Leben, aber er führt sein Leben in einer unablässigen vereinigenden Spannung zwischen dem, was er predigt und dem, was bzw. wie er lebt. Er verweist uns auf das Vorbild Jesu, der mit seiner einfachen Sprache »Fenster zum Geheimnis Gottes und zum menschlichen Dasein öffnet«, und das tut auch er: er spricht ganz direkt und eröffnet Einblicke, die unser Leben erleuchten und uns dem »Staub« der Routine und damit der Zerstreuung und unserer Komfortzone entreißen. Wer Papst Franziskus in Aktion hört und sieht, wird in seinem Alltagsleben nichts mehr für selbstverständlich oder ihm geschuldet halten und wird neue Energie finden, vor allem aber wird seine Seele dankbar und erkenntlich werden. Solange man sich – auch dem Papst – nicht mit vorgefassten Vorstellungen nähert, an denen man so sehr hängt, dass man sie nicht aufgeben will: dieser ideologische Ansatz ist der Tod des Staunens. Und das wahre Staunen ist immer den Dingen des Alltags vorbehalten, denn ein Staunen über Außergewöhnliches wäre wertlos, es wäre ein bloß automatischer, instinktiver Reflex. Der Mensch hingegen, der ein geistiges Geschöpf ist, ist mehr als nur eine von den Instinkten regulierte Maschine. Und hier hat wiederum Pasternak recht, der an der bereits zitierten Stelle des Doktor Schiwago sich folgendermaßen weiter über die revolutionäre Kraft Jesu als eines Erzählers von Gleichnissen auslässt: »Die alte Welt endete in Rom; in jene Orgie schlechten Geschmacks, in Gold und Marmor, kam er, der Galiläer, leicht und in Licht gekleidet, in erster Linie Mensch, absichtlich ein Provinzler, und von jenem Augenblick an hörten die Völker und die Götter auf zu existieren und nun begann der Mensch, der Zimmermann, der Bauer, der Hirte inmitten einer Herde bei Sonnenuntergang, der Mensch, dessen Name keinen feierlichen und wilden Klang hatte, der Mensch, der großmütig allen mütterlichen Wiegenliedern der Welt dargeboten wurde.« Jesus ent-sakralisiert die Welt dadurch, dass er die Mensch auffordert, ihren Blick nicht auf die feierliche und wilde Macht der Götter zu konzentrieren, sondern vielmehr auf die in der Schwäche der einfachen, gewöhnlichen Menschen verborgene göttliche Kraft. Vielleicht dachte selbst der Prophet Elija, er würde Gott im Feuer oder im Erdbeben finden, stattdessen entdeckt er ihn aber in einem »sanften, leichten Säuseln« (1 Kön 19,12). Und im selben Kielwasser bewegt sich in seinen Predigten auch der Statthalter Christi, indem er die Religion aller Feierlichkeit entkleidet, um die Reinheit des Glaubens der einfachen Menschen, des »heiligen Volkes Gottes«, wiedererwachen zu lassen.
Das Problem heute ist, dass im Geist des Menschen nach wie vor die Versuchung der Ideologie präsent ist, die dann eine Folge des Hochmuts ist: es Leute, die wissen, dass sie wissen und deshalb im vollen Bewusstsein ihrer Weisheit nur Anweisungen geben und andere belehren können, und zwar selbst den Papst. Heute sind es viele, die klug daherreden angesichts der Tatsache, dass der Papst sich für einen anderen, demütigeren Weg entschieden hat, der schwer versteh- und erklärbar scheinen mag, als handle es sich dabei um eine Torheit. Genau ist das Zeichen dafür, dass wir auf dem rechten Weg sind, der Weg, von dem der heilige Paulus im Ersten Brief an die Korinther spricht: »Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer Weisheit Gott nicht erkannte, beschloss Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Verkündigung zu retten. Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen« (1 Kor 1,21-25).
Von Andrea Monda