Bestimmte Daten stehen mit Ereignissen in Verbindung, die nicht nur in den Geschichtsbüchern ihren Platz haben, sondern sich unauslöschlich auch in die Geschichte unseres eigenen Lebens eingeprägt haben. Der von diesen Ereignissen hinterlassene Eindruck ist so stark, dass wir uns selbst viele Jahre später noch bestens daran erinnern, wo wir waren und was wir in jenem Augenblick gerade taten, als uns die Nachricht des Geschehenen erreichte. Der 13. Mai 1981 ist zweifellos ein solches Datum. An jenem Tag bricht ein eigentlich für unmöglich, für unvorstellbar gehaltenes Ereignis in die Wirklichkeit ein: auf dem Petersplatz wird ein Attentat gegen einen Papst verübt.
Die Filmaufnahmen des Dramas, der Ton, die Geräusche jenes Frühlingsnachmittages verursachen auch 40 Jahre danach noch eine Gänsehaut. Es ist 17.19 Uhr. Johannes Paul II. dreht seine übliche Runde unter den Gläubigen, die zur jeden Mittwoch stattfindenden Generalaudienz herbeigeströmt sind. Er nimmt ein kleines Mädchen auf den Arm, um es dann seinen Eltern zurückzugeben. Nur wenige Augenblicke verstreichen, und man hört den dumpfen Knall eines Schusses, und gleich darauf noch einen zweiten. Der in den Unterleib getroffene Papst sackt in dem offenen Geländewagen zusammen. Es sind hektische Augenblicke. Die Menschen sind schockiert. Anfangs verstehen sie nicht, können nicht fassen, dass es tatsächlich geschehen ist.
Viele Pilger brechen in Tränen aus, viele knien nieder, versammeln sich im Gebet, den Rosenkranz in Händen, den sie mitgebracht hatten, um ihn vom Papst segnen zu lassen. Jemand erinnert daran, dass genau an diesem Tag, einem 13. Mai vor 64 Jahren, die Muttergottes den Hirtenkindern in Fatima erschienen war. So wird der Papst des »Totus tuus, Maria!« vom Gottesvolk der Jungfrau anvertraut. Gerade dem Eingreifen der Mutter schrieb Wojtyla sein Überleben zu, wie er später sagte. Wo sich eine Hand erhoben hatte, um ihn zu töten, da hatte eine mächtigere Hand die Kugel gelenkt und ihm das Leben gerettet. Schnell zieht an jenem Nachmittag des 13. Mai das Gebet konzentrische Kreise, die über den Vatikan hinaus die ganze Welt umfassen, denn gerade das – das Beten – ist die spontane Reaktion von Abermillionen Menschen, sobald sie erfahren, dass der Papst zwischen Leben und Tod schwebt. Einer, der in jenen Stunden auch betet, ist P. Jorge Mario Bergoglio, damals Rektor des Priesterseminars San José in San Miguel in der Provinz Buenos Aires, auch er ist erschüttert über das Geschehene. Und Papst Franziskus teilt seine Erinnerung an jenen 13. Mai mit uns: Es war vor dem Mittagessen, und er befand sich zusammen mit Nuntius Ubaldo Calabresi und dem venezolanischen Pater Ugalde in der Apostolischen Nuntiatur in Argentinien. In jenem Augenblick überbrachte ihnen der damalige Nuntiatursekretär, Msgr. Claudio Maria Celli, die schreckliche Nachricht.
Das beharrliche Gebet der Gläubigen endet erst, als Johannes Paul II. außer Gefahr ist. Man kann wohl sagen, dass es ihn irgendwie begleitet und vor allem in den Augenblicken von Leid und Krankheit behütet hat – bis ans Ende seines irdischen Lebens in den letzten Tagen eines anderen Frühlings, jenen des Jahres 2005. Es ist bedeutsam, was der Berichterstatter von Radio Vatikan trotz aller augenblicksbedingten Emotion klar und nüchtern zu sagen vermag. Eigentliche hatte Benedetto Nardacci den Auftrag gehabt, den traditionellen Mittwochstermin zu kommentieren. Aber nun sah er sich gezwungen, mit Umständen klarzukommen, von denen er niemals hätte berichten wollen. So erklärt er in der Liveschaltung: »Erstmals ist auch im Vatikan von Terrorismus die Rede. Es ist die Rede von Terrorismus in einer Stadt, von der immer Botschaften der Liebe, Botschaften der Eintracht, Botschaften der Versöhnung ausgegangen sind.«
In der Tat ist die Entfesselung des Hasses, den diese kriminelle Handlung gebracht hat, beeindruckend, ja unter gewissen Gesichtspunkten geradezu apokalyptisch. Noch stärker sollte allerdings die Macht der Liebe, der Barmherzigkeit sein, die auf eine leuchtende und zugleich »geheimnisvolle« Art und Weise den verbleibenden irdischen Lebensweg und das Pontifikat Johannes Pauls II. bestimmte. Das wird auf überraschende Art vier Tage später deutlich, als Karol Wojtyla beim Regina Caeli von seinem Zimmer in der Gemelli-Klinik aus versichert, dass er seinem Attentäter, »dem Bruder, der auf mich geschossen hat«, vergebe.
Genau so nannte er ihn: Bruder. Und diese Brüderlichkeit – die trotz allem, was auf Erden geschehen kann, unauslöschlich ist, da sie im Himmel eingetragen ist – wird auch an einem anderen unvergesslichen Datum die Protagonistin sein: am 27. Dezember 1983. An diesem Tag besucht Johannes Paul II. Ali Agca im Gefängnis von Rebibbia. Er tut das ganz öffentlich. Jemand bemerkt, dass der Papst dadurch dem Mann das Leben retten wollte, der ihm das seine hatte nehmen wollen. »Wir sind einander als Menschen und als Brüder begegnet«, so bekräftigt er nach der Begegnung, »denn wir sind alle Brüder, und alle Ereignisse unseres Lebens müssen diese Brüderlichkeit bestätigen, die auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass Gott unser Vater ist.« Das ist auch die Geschwisterlichkeit, die Papst Franziskus uns heute als den einzig möglichen Weg für die Zukunft der Menschheit aufzeigt.
Alessandro Gisotti