Besuch von Papst Franziskus beim Osservatore Romano und bei Radio Vatikan

Die Ohrfeige der Wirklichkeit

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27. Mai 2021

»Lasst euch von der Wirklichkeit ohrfeigen«.  Das sagte Papst Franziskus im Gespräch mit der Redaktion der Vatikanzeitung, die ihn heute früh bei seinem Besuch im Palazzo Pio, dem Sitz der Vatikanmedien, empfangen hat. Es war ein an Emotionen reicher Vormittag, Augenblicke, die wir nicht vergessen werden. Vor allem gab es einen hochintensiven Augenblick, und zwar als der Papst in den Konferenzraum der [italienischen] Tagesausgabe kam und miterlebte, wie diese Zeitung tagtäglich in der Redaktion entsteht. »Wir kommen gegen 9 Uhr vormittags zusammen, um zu entscheiden, welche Nachrichten auf die Seiten kommen«, erläuterte Chefredakteur Piero Di Domenicantonio, »in steter Bereitschaft, alles umzuwerfen, weil andere Nachrichten eintreffen. Die Wirklichkeit überrascht uns immer.« »Das ist eine schöne Tatsache«, so schaltete sich der Papst ein, »eines sind unsere Ideen, ein anderes  die Wirklichkeit, die stärker, die größer ist«, und fügte hinzu: »Lasst euch von der Wirklichkeit ohrfeigen«, wobei er die Geste einer Ohrfeige mimte, die direkt im Gesicht landet. Die katholische Schriftstellerin Flannery O’Connor sagte, dass ein Buch dann gut sei, wenn es dem Leser eine Ohrfeige verpasse, denn dadurch zwinge es ihn, sein Gesicht ein wenig zu drehen und die Welt dadurch aus einer anderen Perspektive zu sehen. Dasselbe gilt auch für eine gute Zeitung. Geohrfeigt von der Wirklichkeit, die unsere mentalen Vorhaben und Pläne durcheinanderbringt, müssen wir als gute Journalisten auch unsererseits die Leser ohrfeigen und ihnen dadurch einen neuen, frischen und ungewohnten Blick auf die Wirklichkeit zu ermöglichen – etwas, das uns immer überrascht. Das würde uns vor jener »selbstverständlichen Absehbarkeit« bewahren, die schließlich zu Zynismus wird. Der Besuch selbst, den Papst Franziskus den Räumlichkeiten und Korridoren der Redaktionen der vatikanischen Medien abgestattet hat, hatte den Beigeschmack dieses frischen Windes, der dem »starken« Brausen von Pfingsten nicht unähnlich ist, der auf der Haut beißt und uns aus der Trägheit des Gewohnten aufrüttelt, das für alle, die eine alltägliche Arbeitsroutine haben, immer die größte Gefahr darstellt (»der Funktionalismus ist tödlich«, wie er am Ende seines Besuches im Marconi-Saal sagte): eine Gefahr, welche die unserer Kommunikation eigene Kraft der Berufung löscht, die vor allem im Dienst des Sendungsauftrags der Kirche steht. Danke, Heiliger Vater, dass Sie hier gewesen sind, uns nah und mitten unter uns, dass Sie uns so wachgerüttelt und uns durch den frischen Wind Ihrer Gegenwart in die Krise gestürzt haben.

Von Andrea Monda