In der Apostelgeschichte wird die folgende Begebenheit berichtet: Als König Agrippa nach Cäsarea kommt, trägt Festus ihm den Fall des Paulus vor, der als Gefangener auf seinen Prozess wartet. Festus fasst den Fall des Paulus folgendermaßen zusammen: »Bei der Gegenüberstellung führten die Kläger nur einige Streitfragen gegen ihn ins Feld, die ihre Religion und einen gewissen Jesus betreffen, der gestorben ist, von dem Paulus aber behauptet, er lebe« (Apg 25,18-19). In diesem auf den ersten Blick nebensächlichen Detail ist die gesamte Geschichte der zwanzig auf diesen Augenblick folgenden Jahrhunderte zusammengefasst. Alles dreht sich immer noch um »einen gewissen Jesus«, den die Welt für tot hält und von dem die Kirche verkündet, dass er lebt.
Das ist das Thema, das wir in dieser letzten Meditation vertiefen möchten: Jesus von Nazaret lebt! Er ist keine vergangene Erinnerung. Er ist nicht nur eine historische Gestalt, sondern eine Person. Er ist »dem Geist nach« lebendig, sicher, aber das ist eine noch stärkere Lebensweise als die »dem Fleisch nach«, weil sie ihm ermöglicht, in uns zu leben, nicht außerhalb von uns oder neben uns.
Bei unserer Betrachtung des Dogmas haben wir den Punkt erreicht, der beide Teile verbindet: Jesus »wahrer Mensch« und Jesus »wahrer Gott«, so habe ich zu Beginn gesagt, sind wie die beiden Seiten eines Dreiecks, dessen Spitze Jesus »eine Person« ist. Erinnern wir uns kurz daran, wie sich das Dogma von der Einheit der Person Christi entwickelt hat. Die auf Christus angewandte Formel »eine Person« geht auf Tertullian (Adversus Praxean 27,11) zurück, aber weitere zwei Jahrhunderte des Nachdenkens waren notwendig, um zu verstehen, was sie tatsächlich bedeutete und wie man sie mit der Feststellung in Einklang bringen konnte, dass Gott wahrer Mensch und wahrer Gott ist, das heißt »zwei Naturen« besitzt.
Ein grundlegender Schritt war das Konzil von Ephesus 431, auf dem der Marientitel Theotokos, Gottesgebärerin, definiert wurde. Wenn Maria »Mutter Gottes« genannt werden kann, auch wenn sie nur die menschliche Natur Gottes zur Welt gebracht hat, dann heißt das, dass in Jesus Menschheit und Gottheit eine einzige Person bilden. Zum endgültigen Abschluss kam die Definition erst im Konzil von Chalkedon 451 mit der Formel, von der wir hier nochmals den sich auf die Einheit Christi beziehenden Teil wiedergeben: »In der Nachfolge der heiligen Väter also lehren wir alle übereinstimmend, unseren Herrn Jesus Christus als ein und denselben Sohn zu bekennen […]«, wobei »die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt und sich in einer Person und einer Hypostase vereinigt« (Denzinger – Hünermann, Enchiridion Symbolorum, 301-302).
Wie für die volle Rezeption der Definition von Nizäa ein Jahrhundert notwendig war, so waren für die volle Rezeption dieser Definition alle nachfolgenden Jahrhunderte bis in unsere Tage notwendig. Denn nur dank des jüngeren Klimas des ökumenischen Dialogs konnte die Einheit zwischen der orthodoxen Kirche und den sogenannten nestorianischen oder monophysitischen Kirchen des christlichen Ostens wiederhergestellt werden. Man hat anerkannt, dass es sich in der Mehrzahl der Fälle um Unterschiede in der Terminologie und nicht in der Lehre handelte. Alles hing ab von der unterschiedlichen Bedeutung, die man den beiden Begriffen »Natur« und »Person« (bzw. »Hypostase«) zuwies.
Nachdem wir die ontologische und objektive Bedeutung des Dogmas sichergestellt haben, müssen wir auch hier dessen subjektive und existentielle Dimension hervorheben, damit es neues Leben entfalten kann. Der heilige Gregor der Große sagte, dass die Schrift mit denen wächst, die sie lesen (»cum legentibus crescit«, Moralia in Job, XX,1). Dasselbe können wir vom Dogma sagen. Es ist »eine offene Struktur«: Es wächst und wird bereichert in dem Maße, in dem die Kirche, vom Heiligen Geist geführt, sich mit neuen Problematiken auseinanderzusetzen hat und in neuen Kulturen lebt.
Das hatte der heilige Irenäus bereits Ende des zweiten Jahrhunderts mit einzigartiger Weitsicht erkannt. Er schrieb, dass die geoffenbarte Wahrheit »gleichsam in ein ganz kostbares Gefäß jugendfrisch hineingetan« werde und dass sie durch den Heiligen Geist »das Gefäß, in dem sie sich befindet«, jugendfrisch erhalte (Adversus Haereses, III, 24,1). Die Kirche ist in der Lage, die Heilige Schrift und das Dogma immer wieder neu zu lesen, weil sie selbst vom Heiligen Geist beständig erneuert wird.
Das ist das große und ganz einfache Geheimnis, das die ewige Jugend der Tradition erklärt und damit auch der Dogmen, die deren höchster Ausdruck sind. Der große Historiker der christlichen Tradition, Jaroslav Pelikan, hat geschrieben, dass »die Tradition der lebendige Glaube der Toten ist« (das heißt der Glaube der Väter, der weiterlebt) und dass »der Traditionalismus der tote Glaube der Lebenden ist« (The Christian Tradition: A History of the Development of Doctrine, 5 Bde (1973–1990), University of Chicago Press).
Auch das Dogma der einen Person Christi ist eine »offene Struktur«, das heißt, es hat uns heute etwas zu sagen, es hat eine Antwort auf die neuen Bedürfnisse des Glaubens, die nicht dieselben sind wie im 5. Jahrhundert. Heute leugnet niemand, dass Christus »eine Person« ist. Manche – das haben wir bereits gesehen – leugnen, dass er eine »göttliche« Person ist und ziehen es vor, von einer »menschlichen« Person zu sprechen, in der Gott auf einzigartige Weise wohnt oder wirkt. Aber die Einheit der Person Christi, ich wiederhole es, wird von niemandem bestritten.
Das Wichtigste in Bezug auf das christologische Dogma der »einen Person« ist nicht so sehr das Adjektiv »eine« als vielmehr das Substantiv »Person«. Nicht so sehr die Tatsache, dass er »ein und derselbe« (»unus et idem«) ist, sondern dass er »Person« ist. Das bedeutet, zu entdecken und zu verkünden, dass Jesus Christus keine Idee ist, kein historisches Problem und auch nicht nur eine Persönlichkeit, sondern dass er eine Person ist, und zwar eine lebendige Person! Denn genau das ist es, was fehlt und was wir dringend brauchen, um nicht zuzulassen, dass das Christentum auf bloße Ideologie reduziert wird oder ganz einfach auf Theologie.
Wir haben uns vorgenommen, dem Dogma neues Leben einzuhauchen, indem wir von seiner biblischen Grundlage ausgehen. Daher wollen wir uns jetzt der Heiligen Schrift zuwenden und von der Stelle im Neuen Testament ausgehen, die von der berühmtesten »persönlichen Begegnung« mit dem Auferstandenen spricht, die es je auf der Erde gegeben hat: Es geht um den Apostel Paulus. »Saul, Saul, warum verfolgst du mich?« – »Wer bist du, Herr?« – »Ich bin Jesus, den du verfolgst« (vgl. Apg 9,4-5). Was für eine Erleuchtung! Auch zwei Jahrtausende später erleuchtet dieses Licht immer noch die Kirche und die Welt.
Aber hören wir, wie Paulus selbst diese Begegnung beschreibt: »Doch was mir ein Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust gehalten. Ja noch mehr: Ich halte dafür, dass alles Verlust ist, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles überragt. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm erfunden zu werden. Nicht meine Gerechtigkeit will ich haben, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott schenkt aufgrund des Glaubens. Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung…« (Phil 3,7-10).
Ich werde fast ein wenig rot, wenn ich nun meine klitzekleine Erfahrung neben das helle Licht von Paulus stelle. Aber gerade Paulus ist es, der mit seinem Bericht ermutigt, dies zu tun: Zeugnis zu geben von der Gnade Gottes. Ich habe Christologie studiert und gelehrt und dabei verschiedene Recherchen über den Ursprung des Personenbegriffs in der Theologie durchgeführt, über dessen Definitionen und Deutungen. Ich kannte die endlosen Diskussionen hinsichtlich der einen Person oder Hypostase Christi in byzantinischer Zeit, die modernen Entwicklungen in Bezug auf die psychologische Dimension der Person mit dem daraus folgenden Problem des »Selbstbewusstseins« Christi, das in meiner Studienzeit heiße Diskussionen hervorrief. In gewisser Weise wusste ich alles über die Person Jesus, aber ich kannte Jesus nicht persönlich!
Es war genau dieses Wort des heiligen Paulus, das mir half, den Unterschied zu verstehen. Vor allem die Worte: »Christus, ihn will ich erkennen.« Mir schien, dass das einfache Pronomen »ihn« (»auton«) mehr Wahrheit über Jesus enthielt als ganze Traktate über Christologie. »Ihn«, das bedeutet Jesus Christus »in Fleisch und Blut«. Es war so, wie einer Person direkt zu begegnen, nachdem man jahrelang eine Fotografie von ihr gekannt hat. Mir wurde bewusst, dass ich Bücher über Jesus kannte, Lehren, Häresien über Jesus, Begriffe über ihn, aber ich kannte ihn nicht als lebendige, gegenwärtige Person. Zumindest kannte ich ihn nicht so, wenn ich mich ihm durch das Studium der Geschichte und der Theologie näherte. Bis dahin hatte ich eine unpersönliche Kenntnis von der Person Christi. Ein Widerspruch und ein Paradox, aber ach, wie häufig ist das leider!
Die Reflexion über den Personenbegriff in Bezug auf die Trinität führte den heiligen Augustinus (De Trinitate, V,5,6.) und nach ihm den heiligen Thomas von Aquin zu dem Schluss, dass »Person« in Gott »Beziehung« bedeutet. Der Vater ist Vater in Bezug auf seine Beziehung zum Sohn: sein ganzes Sein besteht aus dieser Beziehung, wie der Sohn Sohn ist aufgrund seiner Beziehung zum Vater. Das moderne Denken hat diese Intuition bestätigt. Der Philosoph Friedrich Hegel hat geschrieben: »Denn die wahre Persönlichkeit ist eben dies, sie durch das Versenken, Versenktsein in das Andere zu gewinnen« (Vorlesungen über die Philosophie der Religion). Die Person ist Person im Akt, mit dem sie sich einem »Du« öffnet und in dieser Auseinandersetzung wird sie sich ihrer selbst bewusst. Personsein bedeutet »in Beziehung sein«.
Das gilt in herausragender Weise für die göttlichen Personen der Dreifaltigkeit, die »reine Beziehung« sind, oder wie man in der Theologie sagt: »subsistierende Relationen«. Aber das gilt auch für jede Person im Bereich des Geschaffenen. Die Person kennt man in ihrer Wirklichkeit erst, wenn man zu ihr in »Beziehung« tritt. Daher kann man Jesus als Person nur dann kennenlernen, wenn man mit ihm in eine persönliche Beziehung eintritt, die Beziehung eines Ich zu einem Du. »Der Glaubensakt wird aber abgeschlossen durch die Sache, die geglaubt wird; nicht durch einen Satz. Denn wir bilden nur Sätze zu dem Zwecke, um vermittelst derselben Kenntnis zu haben von den betreffenden Sachen« (Thomas von Aquin, S.Th., II-IIae, q.1, a.2, ad 2). Wir dürfen uns nicht damit zufriedengeben, an die Formel »eine Person« zu glauben. Wir müssen die Person selbst erreichen und sie durch den Glauben und das Gebet »berühren«.
Wir müssen uns ernsthaft fragen: Ist Jesus für mich eine Person oder nur eine große Gestalt? Das ist ein entscheidender Unterschied. Eine historische Gestalt – wie Julius Caesar, Leonardo da Vinci, Napoleon – ist jemand, über den man so viel reden und schreiben kann, wie man will; aber es ist unmöglich, zu ihm oder mit ihm zu sprechen. Leider ist für die große Mehrheit der Christen Jesus eine historische Gestalt und keine Person. Er ist Gegenstand einer Reihe von Dogmen, Lehren oder Häresien. Er ist jemand, dessen Gedächtnis wir in der Liturgie begehen, jemand, von dem wir glauben, dass er in der Eucharistie wahrhaft gegenwärtig ist…
Aber wenn wir nur auf der Ebene des objektiven Glaubens bleiben, ohne eine existentielle Beziehung zu Jesus zu entwickeln, dann bleibt seine Gestalt etwas Äußerliches; er berührt unseren Verstand, aber er wärmt nicht unser Herz. Er verbleibt trotz allem in der Vergangenheit. Ihn und uns trennen, wenn auch unbewusst, zwei Jahrtausende. Vor diesem Hintergrund versteht man, wie enorm wichtig die Einladung ist, die Papst Franziskus an den Beginn des Apostolischen Schreibens Evangelii gaudium gestellt hat: »Ich lade jeden Christen ein, gleich an welchem Ort und in welcher Lage er sich befindet, noch heute seine persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu erneuern oder zumindest den Entschluss zu fassen, sich von ihm finden zu lassen, ihn jeden Tag ohne Unterlass zu suchen. Es gibt keinen Grund, weshalb jemand meinen könnte, diese Einladung gelte nicht ihm« (Nr. 3).
Im Leben der meisten Menschen gibt es ein Ereignis, das das Leben in ein Vorher und Nachher teilt. Für die Verheirateten ist es die Eheschließung, sie teilen das Leben so ein: »vor der Hochzeit« und »nach der Hochzeit«. Für Bischöfe und Priester ist es die Bischofs- oder Priesterweihe, für die Gottgeweihten die Profess. Aus geistlicher Sicht gibt es nur ein einziges Ereignis, das wirklich ein Vorher und Nachher bewirkt. Das Leben jedes Menschen teilt sich genauso auf, wie man die Universalgeschichte einteilt: »vor Christus« und »nach Christus«, vor der persönlichen Begegnung mit Christus und nach ihr.
Diese Begegnung können wir erahnen, vom Hörensagen kennen, sie ersehnen. Um aber eine persönliche Erfahrung zu machen, gibt es nur ein einziges Mittel. Das ist nichts, was man erreichen kann, indem man Bücher liest oder Predigten hört. Das geschieht nur durch das Wirken des Heiligen Geistes! Also wissen wir, wen wir darum bitten müssen, und wir wissen, dass er auf nichts anderes wartet, als dass wir ihn darum bitten… »Per te sciamus da Patrem, noscamus atque Filium« – »Gib, dass durch dich den Vater wir und auch den Sohn erkennen hier«. Dass wir ihn kennen in dieser inneren und persönlichen Kenntnis, die das Leben verändert.
Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Denn würden wir hier stehenbleiben, entginge uns die tröstliche Offenbarung, die im Dogma von Christus als »Person«, und zwar als »göttliche Person« enthalten ist. Wir können der frühen Kirche nicht dankbar genug sein dafür, dass sie zuweilen bis aufs Blut im wörtlichen Sinne dafür gekämpft hat, die Wahrheit zu bewahren, dass Christus »eine Person« ist und dass diese Person niemand anderes ist als der ewige Sohn Gottes, eine der drei Personen der Dreifaltigkeit. Versuchen wir zu verstehen, warum.
Der fruchtbarste und dauerhafteste Beitrag des heiligen Augustinus im Bereich der Theologie ist, dass er das Trinitätsdogma auf das Wort des Johannes gegründet hat: »Gott ist Liebe« (1 Joh 4,8). Jede Liebe setzt einen Liebenden, einen Geliebten und eine Liebe voraus, die sie verbindet, und so definiert er die drei göttlichen Personen: Der Vater ist derjenige, der liebt. Der Sohn ist derjenige, der geliebt wird. Und der Heilige Geist ist die Liebe, die sie vereint (vgl. De trinitate, VI,5,7; IX,22).
Es gibt keine Liebe, die nicht Liebe zu jemandem oder zu etwas wäre, wie es kein Wissen gibt, das nicht Wissen von etwas wäre. Es gibt keine Liebe »ins Leere«, ohne Objekt. Wir fragen uns also: Wen liebt Gott, um als Liebe definiert zu werden? Den Menschen? Aber dann ist er Liebe erst seit einigen Hundert Millionen Jahren. Das Universum? Aber dann ist er erst seit einigen Dutzend Milliarden Jahren Liebe. Wen liebte Gott davor, um Liebe zu sein? Und das ist die Antwort der biblischen Offenbarung, die von der Kirche entfaltet wurde: Gott ist seit Ewigkeit, »ab aeterno«, Liebe, weil er – noch bevor etwas außerhalb von ihm existierte, das er lieben konnte – das göttliche Wort in sich trug, den Sohn, den er mit unendlicher Liebe liebte, das heißt »im Heiligen Geist«.
Das erklärt nicht, »wie« die Einheit zugleich Dreifaltigkeit sein kann (das ist für uns ein unergründliches Geheimnis, weil es nur in Gott geschieht), aber es reicht zumindest, um zu erahnen, »warum« in Gott die Pluralität kein Widerspruch zur Einheit ist. Und warum Gott die Liebe ist! Ein Gott, der reines Wissen oder reines Gesetz oder reine Macht wäre, müsste nicht notwendigerweise dreifaltig sein (das würde die Dinge eher komplizierter machen). Aber ein Gott, der vor allem Liebe ist, schon, denn mindestens zwei sind notwendig, damit es Liebe geben kann.
Das größte und unergründlichste Geheimnis für den menschlichen Verstand ist meiner Meinung nach nicht, dass Gott einer und dreifaltig ist, sondern dass Gott Liebe ist. De Lubac schreibt, dass die Welt dies wissen müsse: Die Offenbarung Gottes als Liebe erschüttert alles, was sie bis dahin über das Göttliche ersonnen hatte (vgl. Geist aus der Geschichte). Das könnte nicht wahrer sein, allerdings sind wir leider noch weit davon entfernt, aus dieser Revolution alle Konsequenzen gezogen zu haben. Das beweist die Tatsache, dass das vorherrschende Bild Gottes im menschlichen Unterbewusstsein das Bild des absoluten Seins ist, nicht das der absoluten Liebe. Ein Gott, der von seinem Wesen her allwissend, allmächtig und vor allem gerecht ist. Liebe und Barmherzigkeit werden als Korrektiv gesehen, das die Gerechtigkeit mildert.
Als Menschen der Moderne verkünden wir, dass die Person der höchste Wert ist, der in allen Bereichen respektiert werden muss, das letzte Fundament der Menschenwürde. Woher dieser moderne Personenbegriff stammt, versteht man allerdings nur ausgehend von der Dreifaltigkeit. Das hat der orthodoxe Theologe Ioannis Zizioulas sehr gut herausgestellt, indem er die fruchtbare gegenseitige Bereicherung aufzeigt, die dem Dialog zwischen der lateinischen und der griechischen Trinitätstheologie entspringt. In verschiedenen seiner Schriften zeigt er, dass der moderne Personenbegriff direkt aus der Dreifaltigkeitslehre hergeleitet ist und erklärt, wie er dies versteht: »Liebe ist eine ontologische Kategorie, die darin besteht, der anderen Person Raum zu geben, als andere zu existieren, und die eigene Existenz zu gewinnen im und durch den anderen. Das ist eine kenotische Haltung, Selbsthingabe… […] Und dies geschieht in der Dreifaltigkeit, wo der Vater liebt, indem er sich ganz dem Sohn schenkt und ihn als Sohn existieren lässt. […] Das genau heißt, im Licht der Trinitätstheologie eine menschliche Person sein. Es ist eine Weise des Seins, in der wir unsere Identität nicht durch die Distanzierung von den anderen gewinnen, sondern in Gemeinschaft mit ihnen und durch eine Liebe, die ›nicht ihren Vorteil sucht‹ (1 Kor 13,5), sondern die bereit ist, ihr wahres Sein aufzuopfern, um dem anderen zu ermöglichen, zu sein und als anderer zu sein. Das ist exakt die Art und Weise des Seins, die wir im Kreuz Christi finden, wo die göttliche Liebe sich selbst vollständig offenbart in unserer historischen Existenz.«
Christus als göttliche Person der Dreifaltigkeit hat eine Beziehung der Liebe zu uns, in der unsere Freiheit gründet (vgl. Gal 5,1). Er hat »mich geliebt und sich für mich hingegeben« (Gal 2,20): Man könnte Stunden damit verbringen, dieses Wort zu wiederholen, und würde nicht aufhören zu staunen. Er, Gott, hat mich geliebt, mich, ein nichtiges, undankbares Geschöpf. Er hat sich selbst hingegeben, sein Leben, sein Blut – für mich! Für mich persönlich. Das ist eine unendliche Tiefe, in der man sich verlieren kann.
Unsere »persönliche Beziehung« zu Christus ist also wesentlich eine Beziehung der Liebe. Sie besteht darin, von Christus geliebt zu werden und Christus zu lieben. Das gilt für alle, aber für die Hirten der Kirche hat es besondere Bedeutung. Man wiederholt oft (angefangen vom heiligen Augustinus), dass der Fels, auf den Jesus seine Kirche gründen will, der Glaube des Petrus ist, die Tatsache, dass er ihn als »Christus und Sohn des lebendigen Gottes« (Mt 16,16) bekannt hat. Mir scheint, man vernachlässigt dabei, was Jesus in dem Augenblick sagt, als er ihm den Primat überträgt: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? […] Weide meine Schafe!« (Joh 21,15-16). Das Hirtenamt empfängt seine verborgene Kraft aus der Liebe zu Christus. Die Liebe lässt ihn nicht weniger als der Glaube mit dem Felsen eins werden, der Christus ist.
Abschließend möchte ich hervorheben, welche Konsequenzen das alles für unser Leben hat, in einer Zeit großer Bedrängnis für die gesamte Menschheit wie der unsrigen. Auch dies kann uns der Apostel Paulus erklären, der im Römerbrief schreibt: »Was kann uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis oder Not oder Verfolgung, Hunger oder Kälte, Gefahr oder Schwert?« Dabei handelt es sich keineswegs um eine abstrakte, allgemeine Aufzählung. Die Bedrängnisse und Nöte, die er aufzählt, hat er tatsächlich in seinem Leben selbst erlebt. Er beschreibt sie detailliert im Zweiten Korintherbrief, wo er zu den hier aufgezählten Prüfungen noch das hinzufügt, was ihm das größte Leid bereitet hat, nämlich die hartnäckige Opposition falscher Brüder (vgl. 2 Kor 11,23ff). Mit anderen Worten: Der Apostel lässt im Geiste alle erlittenen Prüfungen Revue passieren, stellt fest, dass keine so groß ist, dass sie mit dem Gedanken an die Liebe Christi mithalten könne, und schließt daher mit den triumphierenden Worten: »Doch in alldem tragen wir einen glänzenden Sieg davon durch den, der uns geliebt hat« (Röm 8,37).
Implizit lädt der Apostel uns damit ein, dasselbe zu tun. Er schlägt uns eine Methode der inneren Heilung vor, die auf die Liebe gegründet ist. Er fordert uns auf, die Ängste, die sich in unser Herz eingenistet haben, ebenso an die Oberfläche zu bringen wie Traurigkeit, Komplexe, jenen körperlichen oder moralischen Defekt, der zur Folge hat, dass wir uns selbst nicht in Gelassenheit akzeptieren können, jene leidvolle, demütigende Erinnerung, jenes erlittene Unrecht, die latente Opposition von Seiten eines Menschen… All dies in das Licht des Gedankens zu stellen, dass Gott mich liebt, und jeden negativen Gedanken zu unterbinden, indem wir uns selbst sagen, wie der Apostel es tut: »Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?«
Von seinem persönlichen Leben ausgehend, blickt der Apostel sofort anschließend auf die ihn umgebende Welt und die menschliche Existenz ganz allgemein: »Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn« (Röm 8,38-39).
Auch hier handelt es sich nicht um eine abstrakte Aufzählung. Er blickt auf »seine« Welt, mit den Mächten, die Bedrohungen darstellen: der Tod mit seinem Geheimnis, das gegenwärtige Leben mit seiner Unsicherheit, die Mächte der Sterne oder der Unterwelt, die dem antiken Menschen so große Furcht einflößten. Nochmals sind wir eingeladen, dasselbe zu tun: mit dem Blick des Glaubens auf die uns umgebende Welt zu blicken, die uns jetzt noch mehr Angst macht, wo der Mensch die Macht besitzt, sie mit seinen Waffen und seinen Manipulationen zu erschüttern. Was Paulus »Höhe« und »Tiefe« nennt, das ist für uns – mit unserer präziseren Kenntnis der Dimensionen des Kosmos – das unendlich Große über uns und das unendlich Kleine unterhalb von uns. In diesem Augenblick ist dieses unendlich Kleine der Corona-Virus, der seit einem Jahr die gesamte Menschheit in die Knie zwingt.
In dieser Osterzeit ist die Auferstehung Jesu unser Horizont. Jesus ist nicht in das vorherige Leben zurückgekehrt wie Lazarus, sondern er ist in ein besseres Leben eingegangen, frei von aller Mühsal. Hoffen wir, dass es auch für uns so sein wird. Dass die Welt aus dem Grab, in das die Pandemie sie ein Jahr lang eingeschlossen hat, besser hervorgeht und nicht genauso wie vorher bleibt, worauf Papst Franziskus immer wieder hinweist.
Von Kardinal Raniero Cantalamessa