Der arabische Buchstabe Nun war es, den die Milizen des sogenannten Islamischen Staates in Mossul benutzten, um die Häuser der »Nassarah«, der »Nazarener«, das heißt der Jünger Jesu zu kennzeichnen. Mit dieser Strategie des Terrors lösten sie 2014 bei den Christen in der Ebene von Ninive einen Massenexodus aus. In Ortschaften wie Karakosch (Baghdida), Tel Keppe, Telskuf, Bartella, Karamlesch, Baschika waren die Christen gezwungen, zum Islam überzutreten, eine Steuer zu zahlen oder zu fliehen. Und doch lebten sie hier seit den Anfängen des Christentums. Hier waren ihre Wurzeln. Und der Schmerz, weggehen zu müssen, nicht nur ihr Eigentum, sondern auch ihre »Geografie« zu verlassen, erfüllte ihr Herz genauso wie die Angst. Das Leben dieser Gemeinschaften – Chaldäer, Syrer, Armenier, Lateiner, Melkiten, Orthodoxe – war nicht leicht und im Lauf der Jahrhunderte von Diskriminierung und Verfolgung gekennzeichnet.
Bereits in der Apostelgeschichte (2,9) werden die »Bewohner von Mesopotamien« erwähnt. Die Geschichte der Kirche reicht hier bis in das erste Jahrhundert zurück. Der Apostel Thomas und seine Schüler Mari und Thaddäus – der im Orient unter dem Namen Addai bekannt ist – verkündeten hier das Evangelium. Auf sie geht auch eine besondere »Anaphora« (Hochgebet) zurück, eine Liturgie des ostsyrischen Ritus, auch Liturgie von Addai und Mari genannt.
Aber das heutige Gebiet des Irak ist bereits vor dem Christentum mit den Wurzeln des Volkes Israel verknüpft. Aus Ur wird Abraham nach Kanaan aufbrechen. Auch Ninive, heute in der Nähe von Mossul gelegen, taucht immer wieder in der Bibel auf. Die Hauptstadt des Assyrischen Reiches erreichte ihre höchste Blüte im 7. Jahrhundert vor Christus und wurde schon gegen Ende jenes Jahrhunderts (um 609 v. Chr.) zerstört, wie es der Prophet Nahum angekündigt hatte. Der Prophet Jona wurde von Gott hierher gesandt, um die Zerstörung der Stadt anzudrohen. Und auch Jesus nimmt darauf Bezug, wenn er sagt: »Die Männer von Ninive werden beim Gericht mit dieser Generation auftreten und sie verurteilen; denn sie sind auf die Botschaft des Jona hin umgekehrt. Und siehe, hier ist mehr als Jona« (Mt 12,41; vgl. Lk 11,30.32). Außerdem erlitt das Volk Israel in diesem Landstrich die Babylonische Gefangenschaft.
Kirchen, Klöster, Wallfahrtsorte bezeugen, dass das Christentum hier von seinen Anfängen an präsent war. Die ostsyrische Kirche erlebte eine große Blüte, unterstreicht der libanesische Priester Jean Azzam. Der Maronit ist Gemeindepfarrer und Professor für Heilige Schrift an der Päpstlichen Theologischen Fakultät der Universität vom Heiligen Geist in Jounieh im Libanon. Seit zwölf Jahren hält er im Irak, vor allem in der Gegend von Erbil, Vorträge über biblische und theologische Themen. »Im 7. Jahrhundert nach Christus, als die Araber kamen und die Sassaniden besiegten, waren mindestens 50 Prozent der Bewohner des heutigen Irak Christen syrischer Sprache und Kultur. Dann haben sie nach und nach die arabische Sprache übernommen, um sich zu integrieren, aber das Syrische blieb in der Liturgie und in der Literatur erhalten.« Er erklärt weiter: »Unter dem Abbasiden-Kalifat verlagerte sich das Machtzentrum nach Bagdad.« In diesem Kontext »haben die Christen eine besondere Rolle gespielt, indem sie die kulturelle Integration unterstützten, vor allem im Bereich der Übersetzungen. Es gab einen berühmten christlichen Gelehrten, Hunain ibn Ishaq al-‘Ibadi, der im 9. Jahrhundert über 40 Bücher aus dem Griechischen und über 95 Bücher aus dem Syrischen ins Arabische übersetzt hat.« Es habe sich um Texte griechischer Philosophie und Wissenschaft aus den Jahrhunderten vor Christi Geburt gehandelt, darunter Aristoteles und Platon. Ein Wissen, das die Araber dann weiterentwickelt hätten und das auf diese Weise auch in den Westen gelangt sei. Es habe sich um »einen großen Beitrag zur damaligen Kultur« gehandelt. Jean Azzam verweist auf eine weitere zentrale Gestalt, den ostsyrischen Patriarchen Timotheos (780-832), von dem mehrere Disputationen mit Kalif al-Mahdi über Fragen des christlichen und des muslimischen Glaubens überliefert sind.
»Die Abbasiden haben aber nach und nach versucht, die Christen zum Islam zu bekehren. Doch die ostsyrische Kirche hatte großen Einfluss. Sie hat in Damaskus, Jerusalem, Alexandria, Zypern evangelisiert und auch Missionare nach Indien – die Kirche in Malabar geht darauf zurück – und sogar nach China gesandt.« Nach 1516 wurde das Gebiet dann von den Osmanen erobert, die den Sieg über die Mamluken davontrugen. Letztere, so der libanesische Priester, »haben im gesamten Nahen Osten die Christen brutal verfolgt. Die Osmanen dagegen ließen die Christen leben. Gespräche zwischen der ostsyrischen Kirche mit Rom begannen zuerst in Zypern und dann im Irak, wurden immer wieder aufgenommen, bis es im 18./19. Jahrhundert einen ziemlich großen Zweig dieser Kirche gab, der chaldäisch wurde, das heißt katholisch und mit Rom uniert.« In dieser Zeit sei für jeden Akt innerhalb der Kirche die Erlaubnis des Sultans notwendig gewesen, so Don Azzam. Dann habe es im Ersten Weltkrieg eine sehr große Verfolgung gegeben, bei der über anderthalb Millionen Armenier getötet wurden. Bei diesen Massakern seien auch viele Gläubige der ostsyrischen Kirche und anderer Kirchen umgebracht worden, auch Bischöfe und Priester. In einem Zeitraum von 1.400 Jahren habe es Momente eines guten Zusammenlebens gegeben, aber »alle 20 bis 30 Jahre auch mehr oder weniger lokale Verfolgungen«.
1920 schließlich stellte der Völkerbund das Gebiet unter britische Verwaltung. Der Irak wurde 1932 eine unabhängige Monarchie und nach dem Staatsstreich von 1958 Republik. Unter der Diktatur von Saddam Hussein, seit 1979 Staatspräsident und Regierungschef, hatten die Christen einen Modus Vivendi gefunden, der es der Kirche erlaubte, im sozial-karitativen Bereich tätig zu sein. Saddam brauchte die Unterstützung der Christen, die in jenen Jahren, trotz der Verstaatlichung ihrer Schulen, für Bildung und Gesundheitswesen wichtig waren. »Auch als Minderheit waren sie von Bedeutung und wurden aufgrund ihrer Bildung, ihrer Kultur und Offenheit geschätzt«, erläutert der Priester im Interview. »Die Christen wollten immer mit den Muslimen zusammenleben und sie verstanden es, dies zu verwirklichen. Und viele Muslime haben die Präsenz der Christen geschätzt«, unterstreicht er. »Man muss anerkennen, dass das Zusammenleben möglich ist. Ja, das ist ein Bereich, in dem Arbeit notwendig ist, und ich freue mich, dass Papst Franziskus – auf den Spuren seiner Vorgänger – diese Öffnungen gegenüber der muslimischen Welt gelungen sind. Zum Beispiel das große Dokument [über die Brüderlichkeit aller Menschen] vor zwei Jahren. Und jetzt trifft er das religiöse Oberhaupt der Schiiten im Irak. Da gilt es, etwas aufzubauen, und es ist möglich, dies zu tun.«
Die Situation im Irak verschlechterte sich nach den beiden Golfkriegen dramatisch. Es gab eine Reihe von Anschlägen gegen Christen bis hin zur Verfolgung durch den sogenannten Islamischen Staat zwischen 2014 und 2017, insbesondere seit der Eroberung von Mossul mit dem anschließenden Exodus der Christen in andere Teile des Landes. Don Azzam war in den letzten 12 Jahren häufiger im Irak, vor allem in der Gegend von Erbil im irakischen Teil Kurdistans. »Bereits mit dem Krieg zwischen Irak und Iran begann die Abwanderung der Christen ins Ausland. Dann das Embargo, der sogenannte Islamische Staat… All das hat den Massenexodus in die kurdischen Gebiete verursacht und dort haben der Patriarch und die Bischöfe wirklich eine sehr schöne, geschwisterliche Aufnahme für alle Flüchtlinge organisiert. Als ich in Ankawa war, in der Stadt Erbil, habe ich die ganze Arbeit gesehen, die die Kirche geleistet hat, die Priester, viele Laien, verschiedene Gruppen. Der katholisch-chaldäische Erzbischof von Erbil, Bashar Warda, bemühte sich, den Flüchtlingen neben materieller Hilfe auch geistliche Nahrung zu verschaffen, und so hat er mich eingeladen, Vorträge zu halten, und er rief auch andere kirchliche Gruppen, Charismen, die nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil entstanden sind. Ich kenne den Neokatechumenalen Weg ganz gut. Auch viele andere Bischöfe haben dies getan, um nicht nur auf materielle Notlagen zu antworten, sondern auch auf geistliche Nöte, Nöte des Glaubens, um so eine Hilfestellung zu geben, auf den Tod mit der Auferstehung, mit der Hoffnung zu antworten.«
Der maronitische Priester verweist auf die bewegenden Zeugnisse von Menschen, die sehr viel erlitten haben, die alles verloren haben. Diese hätten gesagt, dass sie die Mitglieder des IS nicht verurteilen wollen, denn diese »wissen nicht, was sie tun«. Sie hätten wiederholt, was Christus am Kreuz gesprochen habe. Es seien Zeugnisse großen Leids, aber auch des Trosts und des Glaubens. »Der Christ ist in der Lage, in Augenblicken des Todes und der Ungerechtigkeit das Leben zu zeigen, das er in sich trägt, und Vergebung für die anderen.«
Im Gegensatz zu den 1,4 Millionen Christen, die vor dem Zweiten Golfkrieg im Irak lebten, sind es heute 300.000 bis 400.000. Allein in der Zeit zwischen 2003 und März 2015 wurden 1.200 Christen getötet: unter ihnen Paulos Rahho, der chaldäische Erzbischof von Mossul, im Jahr 2008; fünf Priester und 48 Opfer des Anschlags der Jihadisten auf die syrisch-katholische Kirche »Unsere Liebe Frau von der immerwährenden Hilfe« am 31. Oktober 2010. Insgesamt 62 Kirchen wurden beschädigt oder zerstört. Mit der Errichtung des sogenannten Islamischen Staates waren über 100.000 Christen und auch andere verfolgte Minderheiten wie die Jesiden gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Etwa 55.000 haben in den letzten Jahren das irakische Kurdistan verlassen. Nach dem Sieg über das Kalifat 2017 sind nach und nach einige Christen in die Ebene von Ninive zurückgekehrt. Aber sie haben Angst. Der Wiederaufbau hat begonnen und geht weiter, auch dank des Einsatzes von Kirche in Not. Aber die Menschen erleben eine Situation fehlender Sicherheit; sie sind Belästigungen, Einschüchterungen und Geldforderungen von Seiten der Milizen und feindlicher Gruppen ausgesetzt, die weiterhin eine Bedrohung für die christliche Gemeinschaft im Irak darstellen. Daher denken 57 Prozent der Christen an Emigration.
Jean Azzam äußert die Hoffnung, dass der Herr den Kirchen im Nahen Osten, die dieses Drama erleben, helfen möge, damit die Christen dort bleiben und Zeugnis geben können. Und der Professor für Heilige Schrift wiederholt zum Abschluss das Wort eines Muslim: »Die Christen sind ein großer Reichtum für die Muslime und ihre Abwesenheit ist ein unersetzlicher Verlust.«
Von Debora Donnini