· Vatikanstadt ·

In Nahaufnahme: Der Besuch des Papstes bei Edith Bruck

Ein Licht in der Finsternis

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22. Februar 2021

»Ich bin hierher zu Ihnen gekommen, um Ihnen für Ihr Zeugnis zu danken und um dem Volk die Ehre zu erweisen, das zum Märtyrer des völkischen Wahns der Nationalsozialisten wurde. Und ich wiederhole Ihnen aufrichtig die Worte, die mir in Yad Vashem aus dem Herzen kamen und die ich jedem wiederhole, der deshalb so viel Leid erfahren hat: Vergib, Herr, im Namen der Menschheit.«

Der Heilige Vater ist im Begriff, aufzustehen, um sich zu verabschieden, es ist bereits über eine Stunde, dass er sich mit Edith Bruck unterhält, aber bevor er geht, ist es ihm wichtig, die Gründe zu erläutern, die ihn dazu bewegt haben, etwas zu tun und den Gedanken zu wiederholen, der seiner jüngsten Enzyklika zugrunde liegt: »Wir sind alle Geschwister, auch wenn Kain das manchmal vergisst, wie im 20. Jahrhundert geschehen.« »Ja, das geschieht oft, auch heute noch«, seufzt Edith, schaut Franziskus an und fügt noch hinzu: »Bis wann wird das so weitergehen?« Der Papst erwidert ihren Blick und antwortet: »Gerade dafür kämpfen Sie… und das ist nicht wenig.« Das Bild, das einem während dieser langen Unterredung oft in den Sinn kommt, ist das jenes Tropfens im Meer: Etwas winzig Kleines, aber das unermesslich weite Meer besteht aus unendlich vielen kleinen Tropfen.

Aber spulen wir das Band zurück und gehen ein wenig zurück, denn vielleicht hat nicht jede Geschichte ein Ende (diese hier mit Sicherheit), aber sie hat immer einen Anfang. Und fängt am 26. Januar hier an, auf den Seiten des »Osservatore Romano«. Im Auftrag von Giulia Galeotti, der Leiterin des Kultur-Ressorts, erscheint auf der Titelseite der Wochenbeilage »QuattroPagine« das Interview, das Francesca Romana de’ Angelis mit Edith Bruck geführt hat. Der Papst liest dieses Interview, ist betroffen, lässt mich wissen, dass er dieser Frau gerne begegnen würde. Ich setze mich in Bewegung und organisiere Frau Brucks Besuch im Vatikan und teile dies dem Papst dann mit, der mich anruft und mir sagt: »Sie haben das falsch verstanden, Direktor, nicht sie soll herkommen, sondern ich werde Frau Bruck bei sich zuhause besuchen, sofern das möglich ist.« Nun, was soll ich sagen: Wenn man die Reihenfolge der Faktoren umkehrt, dann ändert sich natürlich das Ergebnis! Ich annulliere alles, was ich veranlasst hatte und reorganisiere den Besuch des Papstes im Hause Bruck.

Und da sind wir nun also: der Heilige Vater und ich fahren an einem bereits frühlingshaften Samstagnachmittag, in einer überfüllten Straße der römischen Innenstadt, in den zweiten Stock hoch, um Edith Bruck zu besuchen. Da steht sie, auf der Türschwelle, und bringt praktisch kein Wort heraus. Sie versucht zu sagen: »Ich bin gerührt und es ist mir eine Ehre«, aber das noch am besten verständliche Wort (alles andere sind unaussprechliche, ächzende Laute), das immer wieder über ihre Lippen kommt (über die ihren wie auch über jene des Papstes) ist ein »Danke«. Sie dankt ihm dafür, dass er jetzt hier ist, er dankt ihr dafür, dass sie immer da war, um durch ihre Präsenz, durch ihre Worte, durch ihr Leben Zeugnis abzulegen. Edith entschuldigt sich für all die Tränen und ihr Zittern und hat Mühe, sich wieder zu fassen und dem Papst durch den langen Korridor ins Wohnzimmer vorauszugehen, wo sich ihre engsten Angehörigen eingefunden haben: Deborah, die Tochter ihrer Schwester Judit, die genau wie sie den Schrecken der Lager überlebt hat (»wenn wir uns nicht umarmt und uns gegenseitig Mut gemacht hätten, hätten wir das nie geschafft«), mit deren Ehemann Lucio, und dann der andere, angeheiratete Neffe, Marco Risi (der Regisseur, der Sohn von Dino), dann Olga, die Frau aus der Ukraine, die Edith seit zwanzig Jahren begleitet, und schließlich Francesca Romana, gerade sie, die Journalistin des »Osservatore Romano«, mit der alles angefangen hat. Das an der Schwelle war der emotional am tiefsten aufwühlende Augenblick, und wie so oft war dafür keine »Verbalisierung« vorgesehen: die Gesten und die Augenblicke ohne Worte, gerade das Stöhnen haben die volle Wucht dieser Begegnung zum Ausdruck gebracht. »Für die schönen Augenblicke des Lebens ist man nie recht vorbereitet«, kommentierte dann Edith, als alle schließlich auf dem Sofa saßen, als müsse sie sich rechtfertigen für das glückliche und gerührte »Durcheinander«, mit dem sie ihren Besucher empfing, »genau wie man nie auf die schlimmen Augenblicke vorbereitet ist«, setzt sie hinzu. Und der Papst hat nickend gleich erwidert: »So ist es, und dann ist da auch noch die Überraschung, die von innen her aus unserem Herzen kommt«.

Die Überraschung liegt im Ton, in der Farbe, die den Gesichtern der wenigen Anwesenden abzulesen sind, die in diesem Wohnzimmer geradezu ungläubig einen Augenblick erleben, der gerade durch seine wundervolle Normalität und Einfachheit  so ganz besonders ist. Als erstes werden die Geschenke ausgetauscht, denn der Papst ist keineswegs mit leeren Händen gekommen, sondern er hat zwei kleine Gaben mitgebracht: Eine Menora, den siebenarmigen Leuchter, sowie ein Buch, den Babylonischen Talmud in einer zweisprachig Hebräisch-Italienischen Ausgabe. Edith und ihre »Familie« sind gerührt ob so viel Feingefühls und »erwidert« mit einem festlich mit Torten und süßen Stückchen gedeckten Tisch, alles »hausgemacht«, wie Olga mit einem Anflug von Stolz erzählt, »und wer in dieses Haus kommt, kommt immer gerne wieder«.

Wer weiß, ob auch der Papst wiederkommen wird, sicher ist aber, dass er gekommen ist, um da zu sein, sich aufzuhalten und diesen Menschen zu begegnen. Und die Unterredung ist freundlich, langsam, sie ist ein »Raum«, an dem alle teilhaben. An einem bestimmten Punkt zitiert Deborah Borges, den großen argentinischen Dichter und großartigen »Gesprächspartner«, denn Ediths Nichte hat viele Jahre lang ausgerechnet in Buenos Aires gelebt und richtet dem Papst (auf Spanisch) die Grüße eines gemeinsamen Freundes, Rabbi Daniel Goldmann, aus. Der Papst strahlt und beginnt, alte und geistreiche Anekdoten zu erzählen, die ihn mit dem jüdischen Freund verbinden. Gerade so ist die Stimmung, leicht, die Stimmung eines fröhlichen Familientreffens mit dem Papst, der (sehr zu Olgas Freude) ein Stück Käsekuchen kostet und lobt, und Edith, die ihm die Familienfotos zeigt. Franziskus ist aufmerksam und demonstriert, dass er viele Details dieser dramatischen Familiengeschichte bereits kennt: er hat das Buch Il pane perduto gelesen und kommt Ediths Worten oft zuvor, die jener fünf »Lichtpunkte« gedenkt, die den Abgrund des Schreckens erleuchtet haben, in den sie im Alter von dreizehn Jahren gestürzt wurde, als sie nach Auschwitz deportiert wurde. »Diese Geschichte mit dem Kamm hat mein Herz berührt«, sagt der Papst unter dem gerührten Staunen Ediths und der anderen. Die damals Dreizehnjährige hatte diesen Kamm vom Koch von Dachau geschenkt bekommen, der sie erst fragte, wie sie hieße (»Ich antwortete mit meinem Namen, es war lange her, dass ich das zuletzt getan hatte, ich habe erneut gefühlt, dass ich ein Mensch mit einem Namen war, keine Nummer«), und dann sagte er zu ihr: »Ich habe eine Tochter in deinem Alter«, und »nachdem er meinen Kopf betrachtet hatte, auf dem die Haare eben wieder zu wachsen angefangen hatten, zog er diesen kleinen Kamm aus der Tasche und schenkte ihn mir. Ich hatte das Gefühl, nach langer Zeit wieder einem menschlichen Wesen gegenüberzustehen. Diese Geste, die Leben, Hoffnung war, hat mich gerührt.« Die fast 90-jährige Ungarin und der argentinische Papst gehen gemeinsam weitere Episoden von »Licht in der Finsternis« durch:  die chronologisch gesehen erste, die der kleinen Edith das Leben rettete, trug sich zu, als sie von einem Soldaten gewaltsam (mit Schlägen mit dem Gewehrkolben) von ihrer Mutter getrennt wurde, die in die Gaskammern geschickt wurde; dann, als ein deutscher Soldat ihr sein Kochgeschirr zuwarf, weil sie es spülen sollte, in dem er aber Marmelade zurückgelassen hatte; und als ein anderer ihr Handschuhe schenkte, die zwar zerrissen und zerlöchert waren, für sie aber kostbar waren, und schließlich, als sie, als Teil einer Gruppe von 15 Mädchen, die Jacken für die Soldaten zu dem 8 km entfernten Bahnhof bringen sollten, eine Jacke wegwarf, weil ihr die Kräfte fehlten, mit all dem Gewicht zu gehen. Ein deutscher Soldat bekam das mit und stürzte sich auf sie, aber als ihre Schwester Judit ihm einen Schlag versetzte, der ihn zu Boden warf, verzichtete er aufs Schießen, weil ihr Mut ihn beeindruckte, und so verschonte er sie. Im Lauf des Lebens gibt es immer wieder »Signale«, die manchmal in dem Augenblick, in dem man sie erlebt, nicht entzifferbar zu sein scheinen, sich aber durch das eine oder andere distinktive Merkmal auszeichnen. Für den Papst handelt es sich bei diesem Merkmal oft um die Zärtlichkeit, jene Kraft, die »die Menschen ändert«, und dann fügt er, fast als wolle er es resümieren, noch hinzu: »Wie viel Mut, wie viel Leid«. Aber Edith gleicht einem Fluss, der Hochwasser führt, was soweit geht, dass sie mitunter einhält und uns bittet, sie zu unterbrechen, weil sie uns sonst mit ihren Worten überfluten würde, schließlich ist es ihr aber wichtig, zu versichern, dass »ich letztendlich Glück gehabt habe. Auch wenn es jetzt so scheint, als ob ich den ganzen Schmerz der Welt spürte.« Die beiden sind sich einig, dass das Erzählen, das Erinnern wichtig ist. Ans Gute ebenso wie an das Schlimme. »Es gibt ein überaus wichtiges, vor Kurzem erschienenes Buch, Sindrome 1933 von Siegmund Ginzberg, eine absolut wichtige Lektüre, weil es reflektiert – und in gewisser Hinsicht auch erklärt –, wie all das Böse möglich war. Und wie es deshalb wieder dazu kommen kann.«

Der Papst greift ein Thema auf, das ihm lieb und wert ist, jenes der Großeltern, die Notwendigkeit, die Geschichten der alten Menschen anzuhören, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, und er zitiert den Propheten Joël: Wenn die Alten Träume haben, können die jungen Menschen Visionen haben. Und er führt Großmutter Rosa und die kleine Geschichte über das Tischchen an, an die er sich bis zum heutigen Tag erinnert. »Es war einmal eine Familie, die immer gemeinsam ihre Mahlzeiten einnahm, auch der Großvater. Der es aber nicht mehr fertigbrachte, zu essen ohne zu kleckern und ohne alles fallen zu lassen, wobei er sich selbst und anderes bekleckerte… bis eines Tages der Vater verkündete, dass der Großvater künftig allein am Küchentisch essen würde, so dass der Rest der Familie wieder die Möglichkeit hatte, Freunde einzuladen, ohne in Verlegenheit zu geraten. Ein paar Tage später sieht der Vater, dass sein kleiner Sohn mit Hammer, Nägeln  und Brettern hantiert…   ›Was machst du da?‹, fragt er ihn. ›Ich mache ein Tischlein für dich, an dem du dann essen musst, wenn du alt bist.‹« Während des folgenden Gelächters und des Beifalls scheint sich Frau Brucks Gesicht zu verfinstern, und sie gesteht voller Sorge, Angst zu haben »vor dieser Gesundheitskrise, ich will nicht, dass es soweit kommt, dass man wählen muss, wer behandelt wird und wer dagegen aussortiert wird. Der Punkt ist, dass man [die Leute] zu Hause behandeln sollte.« Und während der Papst an die stets aktuelle Gefahr der Wegwerf-Kultur erinnert, gelten Ediths Erinnerungen ihrem Mann, Nelo Risi und seinen letzten zehn Lebensjahren, die von Altersdemenz und Alzheimer gezeichnet waren. »Es mag seltsam klingen«, sagt Edith, »aber es waren glückliche Jahre, ich habe mit meinem Mann weiter Gespräche geführt, war an seiner Seite, Hand in Hand. Die Ärzte sagten, er würde im Laufe weniger Tage sterben, und wir haben dann noch über zehn Jahre weitergemacht.« »Weil Sie ihn geliebt haben«, fügt der Papst hinzu.

Es ist schön, die Gefühle mit Händen greifen zu können, die die Mitglieder dieser Familie vereint, die um die alte Tante Edith versammelt sind. Der Papst adressiert ein wenig alle, das Gespräch weitet sich aus, man spricht viele Themen an, die alten und die jungen Menschen, die Tatsache, dass jede Minute ein Kind verhungert und dass gleichzeitig Unsummen für die Aufrüstung ausgegeben werden. »Das eigentliche Problem ist der Egoismus«, sagt der Papst, »jemandem die Hand zu reichen kostet wenig, aber der Egoismus verhindert diese Geste, er lässt die Hand steif werden, die bereit wäre, sich dem anderen entgegenzustrecken.«

An einem gewissen Punkt kommt das Gespräch aufs Kino. Marco Risi erzählt ihm vom Meisterwerk seines Vaters Dino, dem Film Il sorpasso (wörtlich: »das Überholmanöver«; in den deutschsprachigen Kinos lief er unter dem Titel Verliebt in scharfe Kurven), »der in Ihrer Heimat sehr erfolgreich war, so erfolgreich, dass mein Vater gleich danach seinen nächsten Film, Il gaucho,  in Argentinien gedreht hat«. »Aber ja, Verliebt in scharfe Kurven habe ich gesehen, ein wunderschöner Film! All diese Kurven auf der Straße, dieses Kommen und Gehen, ein kraftvolles Abbild des Lebens«. Marco Risi ist freudig überrascht und kommentiert das tragische Ende des Films (das sich De Sica anders gewünscht hätte): »Am Ende stirbt der junge Mann, die Unschuld stirbt, und der Zynismus bleibt; man schrieb das Jahr 1962 und es war fast schon eine Prophezeiung über Italien, das gerade einen Wandel durchmachte.« Der Papst entpuppt sich (auch) als Kino-Experte: »Tatsache ist, dass ich mich jahrelang damit vergnügte, ins Kino zu gehen, und ich habe praktisch alle italienischen Filme der Nachkriegszeit gesehen, die mit Anna Magnani, Aldo Fabrizi, die ersten Filme von Fellini – ich erinnere mich, dass ich alle seine Filme bis La dolce vita gesehen habe. Dann habe ich um diese Zeit herum auch wegen meiner zunehmenden Pflichten ein bisschen den Kontakt zum italienischen Film verloren, ich war damals sehr von Bergmans Filmen wie Das siebente Siegel angetan, ein großartiger Regisseur. Aber an Verliebt in scharfe Kurven erinnere ich mich gut, er war echt stark…dieses ganze Drama, das sich im Lauf von nur 24 Stunden abspielt.« Hin- und hergerissen zwischen Staunen und Ermutigung erzählt Marco Risi dem Papst von dem neuen Film, den er gerade dreht und der just die Geschichte zweier alter Menschen in einem Altersheim erzählt, in das zwei junge Leute kommen, die in Folge einer Verurteilung gezwungen sind, Soziale Dienste abzuleisten; das führt zu einem schwierigen und intensiven Verhältnis. Franziskus ist sehr neugierig, dieses Thema des Dialogs zwischen den Generationen ist für ihn von wesentlicher Bedeutung:  man muss es fertigbringen, aus der Geschichte zu lernen, und folglich braucht es Menschen, die sie erzählen. Edith Bruck greift dieses Thema wieder auf, um über die neuen und zugleich immer auch alten Formen des Faschismus und auch darüber zu sprechen, wie wichtig es ist, Schulen zu besuchen, um zu erzählen, was [damals] geschehen ist. An diesem Punkt ergreift der Papst das Wort, um Edith mit Nachdruck für das Zeugnis zu danken, das Edith mit ihrem Wort und vorher mit ihrem Leben abgelegt hat.

Und so haben wir das Band zurückgespult, aber in den Winkeln der Herzen aller Anwesenden wurde sehr viel mehr aufgenommen als nur die einfachen Worte, die hier festzuhalten und in der Erinnerung zu verankern wir uns bemüht haben.

Von Andrea Monda