Ein altes Holzbrett, das in den kalten Kriegsnächten aus einem Fenster in der Via del Mascherino geschoben wird und sich zwischen die Zinnen einer im 13. Jahrhundert errichteten Mauer einfügt, die den Päpsten die Flucht aus dem Vatikan in die Engelsburg ermöglichte. Diese Mauer, »Passetto del Borgo« genannt, wurde so zum Weg, auf dem die von Nationalsozialisten und Faschisten Verfolgten sich in den Vatikan retten konnten, um am Leben zu bleiben. Dass in den Jahren 1943 und 1944 Dutzende
von ihnen dort beherbergt wurden, versteckt in den Wohnungen von Prälaten und Monsignori oder in die Palatingarde aufgenommen, ist eine dokumentierte Tatsache. Vor Kurzem kam ein neues Fragment dieser Geschichte ans Tageslicht, in den Erinnerungen einer älteren Dame, die diese Geschehnisse als Kind miterlebt hatte.
Drei Meter und 40 Zentimeter: Das ist die Entfernung, die das Gebäude in der Via del Mascherino von der Mauer trennt. Der Abstand musste in leichtem Anstieg bewältigt werden, auf einem fünf Meter langen Holzbrett. Gerade so lang, dass es an beiden Enden auflag und so den Menschen erlaubte, in wenigen Sekunden aus Italien in den Vatikan zu gelangen. Immer in der Nacht, wenn die Umrisse von Personen und Dingen kaum zu erkennen sind. Dies geschah häufiger in jenem Winter 1943/1944, als Rom von den Nationalsozialisten besetzt war.
»Manchmal saßen morgens Menschen in der Küche, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, sicherlich nicht am Abend vorher, wenn ich schlafen ging. Sie saßen an unserem Tisch, aßen und sprachen mit meinen Eltern. Ich habe Papa gefragt, wer sie seien, aber ich erhielt keine Antwort. Dann am nächsten Morgen waren sie verschwunden. « Das erzählt Antonietta Cecchini Vatican News. Sie ist mittlerweile 82 Jahre alt und war zu jener Zeit ein Kind von fünf Jahren. »Es war kalt, es war im Winter. Ich erinnere mich an den warmen Kohlenofen in der Küche. Ich sah jene Menschen, sie grüßten mich, und am nächsten Tag waren sie weg. Es waren immer neue Gesichter.«
»Einmal, es wird ungefähr acht Uhr abends gewesen sein, habe ich das Holzbrett gesehen, das aus dem Küchenfenster in die Mauer gegenüber ragte. Aber auch da erklärten mir meine Eltern nicht, was sie taten.« Einige Jahre später habe sie ihren Vater erneut gefragt, »was dieses Holzbrett zu bedeuten hatte und warum immer wieder einmal Fremde in unserer Wohnung gewesen
waren, immer nur für einige Stunden. Bei jener Gelegenheit sagte er mir, dass es Menschen waren, die gerettet werden mussten, und dass ich weiterhin zu niemandem etwas sagen sollte«, erzählt die Tochter Antonietta nicht ohne Rührung.
»Mein Großvater hasste Gewalt und war sehr nachdenklich. Was er getan hat, dieses Holzbrett, das war sehr mutig.« Mit diesen Worten beschreibt Stefano, der Enkel von Cesare Cecchini, diese Rettungsaktionen. »Er war ein Mann, der nicht auffallen wollte, jemand, der viel arbeitete. Er war kein Mitglied der faschistischen Partei, hielt sich aber in der Öffentlichkeit mit der Äußerung seiner Überzeugungen zurück.« Eine Vorsicht, die sich für das Gelingen jenes Planes als grundlegend erwies, Menschen aus dem Küchen- oder Badfenster in den Vatikan zu helfen. Dabei unterstützte ihn seine Frau Natalina, die als Krankenpflegerin im römischen Polyklinikum arbeitete.
Die Familie Cecchini wohnte bis in die 1960er-Jahre in diesem Haus, aber nie hatte jemand über diese Rettungsaktionen gesprochen, aus Angst vor Rache oder Gewalt. Heute ist in dem Gebäude das Sicherheitsinspektorat der italienischen Polizei beim Vatikan untergebracht. Der leitende Beamte war unter den ersten, der von dieser Episode aus der Geschichte der Familie Cecchini erfuhr. »Jemand hat mir von dieser Geschichte erzählt, und dann habe ich mich mit Antonietta und dem Enkel getroffen. Eine heroische Geschichte, die in diesen Räumen geschah, wo sich heute unsere Büros befinden.« Er erwähnt eine Audienz des Papstes für das Inspektorat für Öffentliche Sicherheit »Vatikan«: »Franziskus hat uns aufgefordert, nicht nur die unserer Wachsamkeit anvertrauten heiligen Stätten des katholischen Glaubens zu hüten, sondern auch die Wurzeln der Zivilisation. Diese
Geschichte erlaubt es uns, dieser großherzigen edelmütigen Gesten zu gedenken und ihnen Ehre zu erweisen.«
Der Gang in der Mauer führt in die Erste Loggia des Apostolischen Palasts. Dutzende Menschen wurden in jener Zeit im Vatikan in Sicherheit gebracht. Diesbezügliche Dokumente aus dem Pontifikat von Papst Pius XII. in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die in den Vatikanarchiven zu finden sind, wurden in elf Bänden veröffentlicht. Im zehnten Band dieser Actes et Documents du Saint Siège relatifs à la Seconde Guerre Mondiale ist der Bericht von Msgr. Guido Anichini enthalten. Er war seit 1928 Kanoniker des Petersdoms und berichtet in einem auf den 13. Februar 1944 datierten Dokument über die Flüchtlinge in den Räumlichkeiten der Kanoniker.
Anichini schreibt an den Papst: »Die väterliche Güte Eurer Heiligkeit, die sich erneut in so bewegender Weise gezeigt hat, bringt mir meine Pflicht zu Bewusstsein, treu darzulegen, was getan wurde, meinerseits und durch einige Kanoniker des Petersdoms, um den aus verschiedenen Gründen Verfolgten zu helfen, indem sie in den Räumlichkeiten des Kanonikerhauses aufgenommen wurden.« Er fährt fort: »Als ich am vergangenen 1. November endlich nach Rom zurückkommen konnte […], sah ich, dass im Kanonikerhaus, das als abgetrenntes Terrain betrachtet wird, das der besonderen Jurisdiktion des Kardinalerzpriesters unterstellt ist, bereits nicht wenige Personen untergebracht waren, deren Leben bedroht war. Daher war ich der Meinung, dass auch ich mich nicht weigern durfte, im Haus gefährdete Personen und Verwandte dessen aufzunehmen, der meine glückliche Rückkehr bewerkstelligt hatte.« Es geht um die Wintermonate zwischen November 1943 und Februar 1944, in denen Antonietta Cecchini als Kind etwas von den nächtlichen Rettungsaktionen ihrer Eltern mitbekommen hatte. Weiter ist im Bericht von Msgr. Anichini zu lesen, dass in verschiedenen Kanonikerwohnungen weitere Gäste aufgenommen wurden, »dringende, gravierende Fälle besonders von Personen, die von den Italienischen Rassegesetzen betroffen waren«. Es folgt eine lange Liste mit Namen, angefangen von einem Herrn di Adri und seiner Familie, »der zwar katholisch ist, aber dies nicht ausreichend dokumentieren kann, um als arisch zu gelten, und der daher gesucht wurde, weil er nach Polen deportiert werden sollte«, bei »Msgr. Fioretti seine Eltern, auch sie Katholiken, geflohen und grausamer Verfolgung ausgeliefert, weil sie nicht arisch sind«.
Die Liste geht weiter und enthält den Namen eines Offiziers des »Regio Esercito«, des »Königlichen Heeres«, der in Lebensgefahr war, »weil er aus politischen Gründen erschossen werden sollte«. Auch ein Beamter des Innenministeriums ist darunter, der »das neue Regime abgelehnt hat«, wie weitere Personen, die unter dem Vorwand rassistischer Motive oder aus politisch-militärischen Gründen gesucht wurden«. Manch einer von ihnen könnte über jenes Holzbrett in den Vatikan gelangt sein, das aus dem Haus der Familie Cecchini immer wieder in die Mauer auf der gegenüberliegenden Seite geschoben wurde.
Von Andrea De Angelis und Franco Piroli