Der Heilige Vater hatte es im Lauf dieses nunmehr vergangenen langen Jahres 2020 immer wieder gesagt: Die Krise verändert uns, wir gehen an ihrem Ende anders aus der Krise hervor, als wir zuvor gewesen waren: besser oder schlechter, aber eben anders.
Am letzten Tag des Jahres hat eine schmerzhafte Ischias-Neuralgie den Papst daran gehindert, die heiligen Messen zum Jahresende und zu Neujahr zu feiern. Es ist nichts Neues, dass er Probleme mit dem Ischias-Nerv hat, aber das zeitliche Zusammentreffen berührt und lässt diese kleine und simple »klinische« Episode nachhallen und hebt sie auf eine symbolische Ebene. Unweigerlich kommt da der Text der Bibel in den Sinn, und zwar vor allem die Ischias-Neuralgie, die Jakob am Ende der nächtlichen Begegnung/dem Kampf mit dem Engel des Herrn an der Furt des Jaddok bekam. Es handelt sich um die Geschichte von Jakobs Ringkampf mit Gott (Gen 32, 23-33), ein »geheimnisvolles Ereignis«, wie Romano Guardini bemerkte, das »in die Erinnerung sinkt und dort eingeprägt bleibt. Man versteht es vielleicht nicht, und trotzdem fühlt man, dass es der allerheiligsten Wirklichkeit voll ist. Man sinnt darüber nach, man holt es hervor und findet immer noch mehr Neues daran«. Am Ende der Geschichte bricht nach dem zähen nächtlichen Kampf die Morgenröte an, und beim Aufgang der Sonne sieht man, dass Jakob aus der Hüfte heraus hinkt, »weil [sein Gegner] Jakobs Hüftgelenk am Ischias-Nerv getroffen hatte«. Der Kampf, ein intensiver Nahkampf, der reich an überraschenden Wendungen ist, fand nachts statt, als »Jakob alleingeblieben war«.
Dieses Jahr 2020 ist einer langen Nacht vergleichbar, in der sich die Menschheit einsam und allein in der Situation wiederfand, einen intensiven Kampf zu kämpfen, dessen Ende sich erst in den letzten Tagen abzeichnet, in Gestalt eines neuen Sonnenaufgangs. Wir alle werden uns im Hinblick auf dieses Jahr der Bilder vom 27. März erinnern, mit einem Papst, der ganz allein unter strömendem Regen bei Anbruch der Dämmerung eines dunklen Abends in die Trostlosigkeit des leeren Petersplatzes hinaustrat, um den Herrn anzuflehen, fast wie ein zweiter Noah, der während der Sintflut im Namen aller um Errettung bittet.
Papst Franziskus wie Noah, nun aber auch wie Jakob, der im Licht der Morgendämmerung mit einem verstärkten Gefühl der Kraft und des Vertrauens weitergeht, weil er den Segen des Engels des Herrn erbeten und erhalten und seine Worte vernommen hat: »Mit Gott und Menschen hast du gestritten und gesiegt!« Er ist nicht mehr derselbe Franziskus von vor einem Jahr, wie auch der biblische Patriarch nicht mehr derselbe war (dem Gott auch seinen Namen von Jakob in Israel abänderte), und alle beide hinken. Sie haben einen Schrittwechsel vornehmen müssen. Dazu zwingt die Krise: Es ist der geeignete Augenblick für eine Veränderung, für die Umkehr. Ein Schrittwechsel: Das ist gefragt, um die Schwelle einer noch nie dagewesenen Zeit zu überschreiten, die ein neues Licht verheißt. Nur dadurch, dass man seinen Schritt, die gewohnte Gangart wechselt, kann man die Welt aus einer anderen Perspektive sehen. Wer stur darauf besteht, weiterzumachen wie bisher, bleibt steif in einer Leichenstarre, wer hingegen zugibt, dass die Krise da ist und, indem sie uns alle gezaust hat, unterschiedslos in uns allen Spuren zurückgelassen hat, der wird am Leben bleiben.
Es gibt eine »Kontrollleuchte«, die anzeigt, ob dieser Übergang tatsächlich auch in der Tiefe erfolgt ist, oder ob es sich dabei nur um eine gefühlsgeladene und oberflächliche Angelegenheit gehandelt hat, und auch dieses Detail lässt sich auf die biblische Geschichte zurückführen: die »Kontrollleuchte« ist unser Verhältnis zu unseren Brüdern und Schwestern. Jakob steht da, alleine, an der Furt des Flusses, gebeutelt von der Furcht vor der unmittelbar bevorstehenden Begegnung mit seinem gefürchteten Bruder Esau. Erst nach der Begegnung/dem Kampf mit Gott kann er seinen Bruder umarmen und sich mit ihm versöhnen. Das ist der Weg, den uns Papst Franziskus mit der Enzyklika Fratelli tutti weist, die zwar schon vorher im Geiste vorlag, aber erst während der Pandemie zu Ende geschrieben wurde.: Im Augenblick der Krise besteht der Ausweg darin, Gott um die Kraft zu bitten, sich gegenüber den Mitmenschen zu öffnen, sich der Brüder und Schwestern anzunehmen, indem man die Ketten des Selbstmitleids und des Narzissmus zerschlägt. Man wird sich unser annehmen, wenn wir uns der anderen annehmen. Vor uns liegt eine Furt, die wir durchqueren müssen, und wir werden nur dann dazu imstande sein, wenn wir bereit sind zu diesem schmerzhaften und lebensnotwendigen Schrittwechsel.
Von Andrea Monda