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Auf der Suche nach dem Vater: der Telemach-Mythos

Lernen, erwachsen zu werden

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14. Januar 2021

Auf dem Höhepunkt von Homers Odyssee – jener Szene im 22. Gesang, in der Odysseus erbarmungslos die Horde der Freier niedermetzelt, die seit Jahren seine Frau belagern – gibt es einen außergewöhnlichen Augenblick der Ruhe und der Vergebung, ja selbst der Gnade, ist man geneigt zu sagen. Die Gewalt ist eine mächtige, um nicht zu sagen brutale, Bestätigung des ehelichen Bandes: nach Jahren des Leidens bestraft ein Mann die frevlerischen Eindringlinge in sein Haus, rettet die geliebte Frau und bestätigt seinen Status als Ehemann. Aber der Augenblick der Gnade, an den ich denke – der auf seine Art ein Highlight ist, ebenso wie das Blutvergießen, das um ihn herum erfolgt – ist das Zeugnis einer weiteren Liebesgeschichte, die sich durch das ganze homerische Epos zieht: jene der Beziehung zwischen Odysseus und Telemachos, zwischen einem Vater und seinem Sohn.

Ein Großteil des Epos betrifft tatsächlich Telemachos, unter dem Gesichtspunkt des Bogens, der seinen geistigen Reifungsprozess umspannt. Er ist weitaus mehr als jeder andere Protagonist des Dichtwerks durch eine dramatische Evolution charakterisiert. De facto sind von den 24 Gesängen des Epos die ersten vier fast ausschließlich Telemachos gewidmet; Odysseus wird so gut wie nie erwähnt (diese vier Gesänge werden als Telemachie bezeichnet: der Gesang über Telemach).

Hier, am Anfang des Epos, sind bereits zwanzig Jahre seit dem Aufbruch des Odysseus von Ithaka vergangen und niemand weiß, ob er noch am Leben oder tot ist, ob Penelope seine Gattin oder seine Witwe ist, ob Ithaka noch einen König hat oder einen neuen König braucht. Telemachos – der eben geboren war, als Odysseus aufbrach, um in Troja zu kämpfen – ist nunmehr ein 20-jähriger Jüngling, der, wir wir sagen würden, von einer alleinerziehenden Mutter aufgezogen wurde und der irgendwie lernen muss, auch selbst ein Held zu sein, die Kontrolle über die chaotische Situation in Ithaka zu übernehmen, den Freiern seiner Mutter die Macht zu entreißen, sich als Führungspersönlichkeit, Fürst und künftiger König durchzusetzen.

In anderen Worten, er muss lernen, erwachsen zu werden, muss lernen, die Art von Mann zu werden, die sein verschollener Vater war. Der Lernprozess, der in diesen vier Gesängen angestoßen wird, erreicht de facto seinen Höhepunkt in jenem Augenblick der Gnade, auf den oben angespielt wurde.

Der Weg, der vor Telemachos liegt, ist in vielerlei Hinsicht ebenso schwierig wie jener seines Vaters. Während Odysseus für seine beachtlichen geistlichen Fähigkeiten berühmt ist, mit all seinen Tricks und seiner List, seinen Verkleidungen und Wortspielen, muss gesagt werden, dass sein Sohn, als wir ihm das erste Mal begegnen, auf geradezu peinliche Art dazu neigt, Fehler zu begehen und Böcke zu schießen. Am Anfang des Epos sehen wir, wie er schlecht gelaunt im Bankettsaal des Königspalastes sitzt und sich beklagt, ohne zu reagieren, während ihn die Freier demütigen und blamieren. An einem gewissen Punkt versucht er, eine Verteidigung vorzubringen, aber jene hören nicht auf, ihn mit Herablassung zu behandeln. Im Zweiten Gesang beruft der junge Prinz eine Versammlung der Bürger von Ithaka ein, um sie dazu zu bringen, ihm bei seiner familiären Krise zu helfen. Aber nachdem er eine kurze Rede gehalten und die Freier angeklagt hat, bricht er in Tränen aus und nimmt peinlich berührt wieder Platz.

Dieser vom Pech verfolgte junge Mann ist die Figur, deren das Epos bedarf, um »erziehen« zu können – ein Prozess, der in der zweiten Hälfte der Telemachie beginnt. Tatsächlich verlässt er, angeregt durch die Göttin Athene, zum allerersten Mal seine Heimat, um sich auf der Suche nach Nachrichten über seinen Vater einzuschiffen. Er reist so zunächst nach Pylos auf dem Peloponnes und dann nach Sparta, befragt die mittlerweile alt gewordenen Kriegskameraden seines Vaters, versucht, von ihnen zu erfahren, was diesem zugestoßen sein könnte. In diesen Gesängen sehen wir, wie der Jüngling zum ersten Mal lernt, wie man sich Fremden vorstellt, wie man sich als Gast im Haus anderer Leute zu verhalten hat, wie man Sympathie wecken und wie an Informationen kommen kann – kurzum, wie man mit Menschen umgeht bzw. verhandelt. In anderen Worten, wir sehen, wie er lernt, erwachsen zu werden.

Der wichtigste Augenblick der Erziehung des Telemachos kommt allerdings erst im letzten Teil der Odyssee: in jenem Teil, der die »Rache« betrifft. Nachdem er endlich nach Ithaka zurückgekehrt ist (im 13. Gesang), offenbart Odysseus – der sich weiterhin versteckt, weil er noch nicht weiß, wer ihm treu geblieben ist und wer nicht – seinem staunenden Sohn seine Identität. Homer, der hier eine Probe eines außerordentlichen psychologischen Scharfsinns ablegt, lässt diese Begegnung seltsamerweise ausgesprochen enttäuschend ausfallen: ein anfangs ungläubiger Telemachos weigert sich anfangs, die Offenbarung zu akzeptieren (schließlich und endlich ist es unmöglich, dass sich die beiden gegenseitig »erkennen«, da sie sich nie wirklich kennengelernt haben; wie dem auch sei, die Wirklichkeit ist kaum je so perfekt wie in unserer Vorstellung). Als Telemachos den Schlag erst einmal verarbeitet hat, beginnen die beiden, miteinander einen Plan gegen die Freier auszuhecken, einen Plan, der langsam Gestalt annimmt und demonstriert, wie verantwortungsvoll und reif der junge Mann inzwischen geworden ist.

Diesem reifen und zur Selbstbeherrschung fähigen Telemachos unterläuft allerdings im Lauf des Höhepunktes des Gemetzels im 22. Gesang ein fataler Fehler: und es ist gerade dieser Fehler, der zu einem Augenblick ruhiger Gnade, führt, zu jenem schönen Augenblick, der uns viel darüber aussagt, wie sehr dieser Sohn und dieser Vater gereift sind.

Im 22. Gesang, als der Plan gegen die Freier endlich Gestalt annimmt, stehen den 108 Freiern nur Odysseus, Telemachos, zwei treue Diener und eine alte Dienerin gegenüber, die ihnen bei ihrem Plan hilft. Aber die Erfolgsaussichten  sind weniger schlecht, als es anfänglich scheinen mag. Tatsächlich sind der Held und seine Gefährten bewaffnet, im Gegensatz zu den Freiern; Odysseus hat sich vergewissert, dass die Kammer, in der alle Waffen des Palastes aufbewahrt werden, verriegelt ist. Folglich sind Odysseus und die Seinen überlegen, als der Kampf beginnt. Aber an einem gewissen Punkt tauchen, nachdem Telemachos in die Waffenkammer zurückgekehrt war, um weitere Waffen zu holen, einige Freier auf, die Rüstungen und Waffen tragen: es ist offensichtlich, dass jemand die Tür der Waffenkammer offen gelassen hat.

Dieser »jemand« ist Telemachos. Als er seine Gegner in Waffen erblickt, denkt Odysseus sogleich, dass sein Plan von einem der Diener verraten worden sei; aber in einer ganz ungewöhnlichen Szene übernimmt Telemachos kühl die Verantwortung dafür: »O mein Vater«, so sprach er, »das hab’ ich selber versehen, und niemand anders ist schuld! Ich ließ die feste Türe des Söllers unverschlossen zurück; und das hat ein Lauscher bemerket.«

Nun, in dieser Szene geschehen zwei außergewöhnliche Dinge: zuvörderst sei die Leichtigkeit, die Sicherheit und die Aufrichtigkeit angemerkt, mit der Telemachos seinen Fehler eingesteht – in klaren Worten, ohne Ausflüchte; er hat einen weiten Weg zurückgelegt, seitdem er jener jammernde Jüngling war, der im 2. Gesang in der Volksversammlung die Notabeln herausforderte und dann zu weinen begann, weil er nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte.

Das zweite außergewöhnliche Ding, das geschieht, ist erstaunlicherweise: nichts. Überraschenderweise erwidert Odysseus, der Vater, der Kommandant, nicht auf dieses Schuldgeständnis des Telemachos, obwohl der unerfahrene Telemachos – der, daran sollte erinnert werden, vorher noch nie  an einem Kampfe teilgenommen hat – einen Fehler begangen hat, der nicht nur das Leben des Odysseus, sondern auch jenes seiner wenigen treuen Gefährten  aufs Spiel setzt. Und in jenem Augenblick, in dem ein Tadel hätte erfolgen können, vergibt der Vater seinem Sohn schlicht und einfach und setzt den Kampf fort.

Das wäre schon an und für sich außergewöhnlich, aber es ist umso überraschender, insofern der Rest dieser Szene der Odyssee, die eine der blutigsten und erbarmungslosesten der Weltliteratur ist, dem Thema des Nicht-Vergebens gewidmet ist. Im Laufe des Gemetzels kommen immer wieder Leute zu Wort, die Odysseus anflehen, ihr Leben zu verschonen, und er sagt unablässig »Nein«. Tatsächlich endet das Buch keineswegs nur mit dem Massaker der Freier, sondern auch mit der von Odysseus angeordneten Hinrichtung all der untreuen jungen Dienerinnen des Palastes, die mit den Freiern geschlafen und die königliche Familie verraten hatten. Im 22. Gesang herrscht überall Rache – außer im Herzen des Odysseus, der Gnade für den eigenen Sohn walten lässt.

Warum? Ich möchte anmerken, dass diese höchst eindringliche Szene des Epos uns demonstriert, dass es zwei Personen sind, die aus den eigenen Fehlern gelernt haben. Vor allem, das ist offenkundig, Telemachos, der sehr viel reifer geworden ist, der gelernt hat, dass es überhaupt nichts brachte, sitzenzubleiben und zu weinen, und darauf zu hoffen, dass jemand käme, um ihn zu retten. Zudem weiß er jetzt, wie er die Verantwortung für sein Tun  übernehmen kann. Aber ist es denn möglich, dass der andere, der in dieser Szene einen Lernprozess durchläuft, ausgerechnet Odysseus ist, der brillante, listenreiche, weise Odysseus? Können wir das Schweigen des Odysseus im 22. Gesang – jenem »Augenblick der Gnade« – als seine allergrößte Leistung interpretieren? Können wir nicht etwa mit Fug und Recht sagen, dass seine Genialität darin besteht, nicht nur zu wissen, was er sagen oder tun soll – welche Lügen auftischen, welche Listen aushecken, welche Verkleidung anlegen –, sondern auch zu wissen, was besser nicht gesagt wird?

Es gibt eine alte Tradition, die auf den im 3. nachchristlichen Jahrhundert lebenden Philosophen Porphyrios zurückgeht – einen der ersten Gelehrten, die Abhandlungen verfassten, die die Odyssee interpretierten –, demzufolge das Thema der ersten vier Gesänge der Odyssee, die Telemachie, die paideusis, die »Erziehung«, ist.  Das griechische Wort leitet sich grundsätzlich von pais, ab, »ein Kind«: erziehen ist etwas, das man mit den bzw. für die Kinder tut. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass die Odyssee ein Epos ist, das zwei Erziehungsprozessen gewidmet ist. Zuvörderst handelt es sich um die Erziehung eines Jungen, der im Verlauf des Epos heranwächst und lernt, ein Mann zu sein; wir haben aber auch die Erziehung eines bereits erwachsenen Mannes, der, genau wir selbst es dann und wann tun, der Ansicht war, der listigste, der intelligenteste von allen zu sein – der aber erst in dem Augenblick seine beste Seite zeigt, als er einsieht, dass er noch viel zu lernen hat, selbst von jemandem, der jünger ist als er.

Und zwar gerade von einem jüngeren Menschen: von jemandem, der die spezielle Würde verkörpert, die mit der Bereitschaft einhergeht, einzugestehen, dass man noch nicht alles weiß. Die Odyssee enthält viele Geschichten, viele Themen, von denen uns einige heutzutage hoffnungslos dunkel und veraltet, ja archaisch vorkommen. Aber der ruhige Augenblick barmherziger Gnade, mit dem sie schließt und der durch die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn symbolisiert wird, ist ein Augenblick,  von dem wir alle noch lernen können.

Von Daniel Mendelsohn

Der Schriftsteller Daniel Mendelsohn, in New York lebender Schriftsteller und College-Professor für Klassische Philologie, ist der Verfasser zahlreicher Bücher. Unter den zuletzt in italienischer Übersetzung erschienenen Titeln erinnern wir etwa an Un’Odissea. Un padre, un figlio e un’epopea (Einaudi, 2018).