Eine andere Sichtweise

Die venezianische Rebellin, die gezwungen wurde, Nonne zu werden

Chiesa di Sant'Anna Venise
02. Januar 2021

Arcangela Tarabotti sprach bereits im 17. Jahrhundert von Gleichstellung


Ich werde sie Elena nennen. Und ihr zumindest für die Zeit dieser Erzählung den Nonnenhabit ausziehen, den sie niemals hätte anlegen wollen. In dem sie ihr ganzes Leben zappelte, als sei er vergiftet, genau wie das Kleid, das Medea Jasons künftiger Frau als Hochzeitsgeschenk zusandte. Das sagen ihre Worte aus. Das entnimmt man ihren Schriften, die die Stärke, die Begabung, ja gar die Genialität einer wahren Schriftstellerin verraten. Als ich Elena Tarabottis L’inferno monacale las, musste ich oft an Etty Hillesums Tagebuch denken, das aus der dem Schmerz entgegengesetzten Perspektive geschrieben ist. Denn auch Hetty war eine neugierige junge Frau, mit einer sprühenden Intelligenz, die, unschuldig verurteilt, in einen sinnlosen Kerker gesperrt wurde.

Aber es gelang Etty Hillesum in der kurzen ihr zur Verfügung stehenden Zeit, die Welt zu erobern, sie liebte, spazierte durch die Stadt, schlief in verschiedenen Betten. Sie konnte über ihren Körper frei verfügen, um damit zu genießen oder zu leiden. Und sie bewahrte sich den Hunger nach dieser Form der Ernte, wie auch die Fähigkeit, in allem und jedem Schönheit zu sehen, die sie bis zum Ende ihrer Tage im Konzentrationslager von Auschwitz begleitet hat. Ich dachte an sie, weil Etty in ihren Briefen und im Tagebuch oft schreibt, dass sie gerne Schriftstellerin werden würde.

Das ist wahrscheinlich gerade die Art von Leben, das Elena Tarabotti sich für sich selbst vorgestellt hätte, wäre sie nicht gegen ihren Willen im Alter von gerade einmal dreizehn Jahren in ein Kloster gesperrt worden. Um es nie wieder zu verlassen. »Eingekerkert nicht etwa in einem heiligen und frommen Kloster, sondern in den Eingeweiden des eigennützigen Wales, der sie nie wieder ausspeit«, so beschreibt sie das Schicksal, das kleinen Mädchen wie ihr bestimmt war. Etty war Jüdin, Elena hingegen hatte von ihrem Vater einen kleinen physischen Mangel geerbt: das sind die Gründe für ihre lebenslängliche Kerkerhaft bzw. das Todesurteil. Etty Hillesum starb im Alter von 29 Jahren. Sie schrieb nur wenig, weil ihr keine Zeit blieb: das Tagebuch, die Briefe. Wie bei anderen Schriftstellern, deren Leben allzu kurz war, wie Raymond Radiguet, Alain Fournier, Emily Brontë, Sylvia Plath, bleibt uns nichts, als die Meisterwerke zu beweinen, die wir niemals lesen werden. Aber in dem Wenigen, das sie geschrieben hat, war sie Schriftstellerin, nicht nur jemand mit der Ambition, eine zu werden. Genau wie Elena Tarabotti. Jede von ihnen innerhalb der ihnen gesteckten Grenzen. Bei Elena waren es die Klostermauern, die sie einkerkerten. Die sie nicht zu ignorieren beschloss, ja die vielmehr zum Thema jeder ihrer Schriften wurden. Was blieb ihr auch schon übrig? Was hätte eine Frau denn schon erzählen können, die mit dreizehn Jahren zur Gefangenen wo nicht dieses Kerkers, so doch der Verzweiflung wurde?

Elena, Elena Cassandra Arcangela Tarabotti kam 1604 in Venedig im Stadtviertel Castello als Tochter einer reichen Familie zur Welt. Aber eben doch nicht so reich, sich die Mitgift leisten zu können,  um jede ihrer vielen Töchter angemessen unter die Haube zu bringen. Aut murus aut maritus. Einer Sitte jener Zeit gemäß beschloss ihr Vater, Stefano, diejenige zu opfern, die seiner unanfechtbaren Meinung nach die größten Probleme gehabt hätte, einen Ehemann zu finden. Elena hinkte. Genau wie er.

Wir wissen weiter nichts über ihr Äußeres. Ihre Schriften und die ihr gewidmeten Abhandlungen werden stets von einem Porträt begleitet, das man lange Zeit für das ihre hielt. Es stellt aber Maria Salviati dar, Gattin des Giovanni de’ Medici und Mutter Großherzog Cosimos I., ein Pontorno zugeschriebenes Werk, das heute in den Uffizien in Florenz hängt. Gemalt wurde es circa fünfzig Jahre vor Elenas Geburt, die also nicht mit jener Frau mit der langen, dünnen Nase, etwas verschiedenen Augen und einem wohlgeformten Mund identisch ist.

Elena hinkte, sie hatte einen Bocksfuß, wie der Teufel.

War wirklich das der Grund dafür, dass zum Opfer dieser abscheulichen Tat, der aufgezwungenen Klosterhaft, erkoren wurde? Möglich – vielleicht hatte sie aber auch einen weniger gefügigen Charakter als ihre Schwestern, eine Neigung zur Unabhängigkeit, die man in ihrer Seele lesen konnte, obwohl sie noch ein Kind war. Vielleicht erkannte man in ihr eine jener schwer zu bändigenden, immer unzufriedenen weiblichen Wesen, die allzu intelligent waren, um sich mit einer Vernunftehe abzufinden. Eine jener hysterischen Frauen, deren Leidenschaftlichkeit, oder schlimmer noch, deren Verstand das Fließband von Zeugung/Erbschaft/Renditen zum Stocken bringen oder gar sprengen konnte? Vielleicht hinkte Elena nicht nur, sondern war auch nicht schlau genug, ihre Intelligenz und ihr Talent zu verheimlichen, so dass sich die Familie gezwungen sah, Maßnahmen zu ergreifen, um sie ihr auszutreiben.

1617 wurde sie deshalb im Alter von dreizehn Jahren ins Kloster Sant’ Anna gesteckt. Dieses Kloster, in dem sie zwölf Jahre später die Jungfrauenweihe erhielt, sollte sie nie mehr verlassen.

Ihr erstes Buch, in dem die Wut über diese Verurteilung noch ganz frisch und roh war, schrieb Elena im Alter von zwanzig Jahren und gab ihm den Titel Tirannia Paterna [Väterliche Tyrannei], es wurde aber nicht veröffentlicht. Es kam dann postum heraus, unter dem Pseudonym Galerana Baritotti und dem Titel La semplicità ingannata [Getäuschte Einfalt], und es landete 1661 auf dem Index der verbotenen Bücher: Es verurteilte die Praxis, jemanden dazu zwingen, den Schleier zu nehmen, es pochte auf die Würde der Frau und forderte das Recht auf Bildung ein. Ihr nächstes Buch, L’inferno monacale, blieb vierhundert Jahre lang unveröffentlicht, aber seine Handschrift war im Umlauf und eine seiner Abschriften überlebte in Alvise Giustinianis Sammlung. Die Erstausgabe, die von Francesca Mediola herausgegeben wurde, erschien 1990 (in Turin bei Rosenberg & Sellier). Ich habe es bei Amazon erstanden, es kostet dort 1 Euro und 5 Cents, aber immerhin. Sie ist gewiss keine berühmte Schriftstellerin, aber trotzdem kann ihr Buch nach vierhundert Jahren auf einer e-Commerce-Plattform erstanden werden. Wie eines dieser Bakterien, die sich in den Bandagen der Mumien verbergen, um zu überleben und dann, wenn sie erst einmal freigesetzt sind, dreist in Umlauf kommen.

Was ist das für eine Hölle? Die groteske Version des Paradieses, in das man sie zu führen versprochen hatte. Alle miteinander lügen die Mädchen an, die die Schwelle des Klosters überschreiten sollen. Die Familie lügt, wenn sie ihnen verspricht, dass sie an einem Ort leben würden, wo alles Spiel und Leichtigkeit sei, wo sie frei seien von der Pflicht, zu arbeiten und die Aufgaben einer Ehefrau oder Mutter zu erfüllen. Im Kloster, wird [ihnen] erzählt, gebe es reichlich zu essen und riesengroße Räume, in denen sie sich ausruhen könnten. Vor allem aber wird den zwangsweise ins Kloster gesteckten Mädchen erzählt, dass sie dort die allergrößte Freiheit genießen könnten.

»Geizig, wo es sich um kleine Summen handelt, aber geradezu verschwenderisch mit der Freiheit anderer«: das schreibt Tarabotti über die Väter, die sich ihrer Töchter entledigen, indem sie sie einsperren.  Sie lügen, genau wie die anderen Frauen, die Nonnen, die auch ihrerseits Opfer dieser Praxis des Wegsperrens waren. Ja, Letztere lügen sogar noch mehr, jenem psychologischen Mechanismus folgend, den wir alle kennen: Wenn man eingesperrt ist, sind die grausamsten Peiniger gerade die Schicksalsgefährtinnen, die versuchen, durch Denunziantentum und Trug wenn auch nur winzig kleine Abweichungen von ihrer erzwungenen Ruhigstellung zu erlangen.

Einmal im Kloster, werden die Mädchen mit einem dunklen Wollgewand bekleidet, man würde sie aber lieber in Kamelfelle hüllen wie die Eremiten, oder gar in Lorbeerblätter, um Geld zu sparen, oder auch gar nicht, also lediglich mit ihren eigenen (Körper-)Haaren bekleidet, um sogar noch mehr zu sparen. Was nämlich tatsächlich geschieht, ist dass die Familien die Töchter im Stich lassen, sobald diese endlich im Kloster sind. Sei es aufgrund von Schuldgefühlen, sei es aus Erleichterung, sie los zu sein: sie wollen nichts mehr von ihnen oder über sie wissen, vor allem aber wollen sie nichts mehr für sie ausgeben. Und im Kloster wird gestritten, was das Zeug hält, und Flüche werden laut gegen die Verwandten, die ihnen das eingebrockt haben, und gegen die Ordensoberen, die das zugelassen haben. »Wie wilde Tiere, die durch unlösbare Knoten  gebändigt werden, schlagen sie verzweifelt um sich und rennen gegen diese Mauern an, ohne anderes zu erlangen als quälendes Leid und Kummer. Der Gehorsam ist nur formale Geste, ein Ritus, alles ist Eitelkeit, Perspektive und Schatten, die das Auge dessen täuschen, der nur aufs Äußerliche schaut, ohne bis zum Mark vorzudringen.«

So kommt es, dass die Zeremonie der Profess vor allem einem Trauerritus ähnelt: »die bäuchlings zu Boden geworfene [Novizin] wird mit einem schwarzen Tuch bedeckt und ihr zu Füßen und bei ihrem Kopf wird eine Kerze aufgestellt, während über ihr Litaneien gesungen werden: alles Zeichen, die ihren Tod symbolisieren. Sie selbst hört ihren Exequien zu und begleitet sie aus ihrem Sarg heraus mit Tränen und mit Schluchzern, während sie all ihre Sinne zugunsten von Passion und Leid aufopfert… Die Oberin gibt ihr dann drei Spangen für den Schleier aus Camorada, »Sorazzetto« genannt, um sie daran zu erinnern, dass sie die folgenden drei Tage schweigen muss.

Tot, begraben, vergessen, erreicht Elena Tarabotti schließlich die Veröffentlichung ihres vierten Buches, das – was kein Zufall sein dürfte – Paradiso monacale [Nonnenparadies] überschrieben ist. Aber es handelt sich dabei keineswegs um einen Widerruf, sondern um einen geschickteren Gebrauch der Fiktion. »Ich schnitt meine Haare, aber ich riss keineswegs die Wurzeln meiner Gefühle aus, ich reformierte mein Leben, aber die Gedanken wimmeln, genauso wie die abgeschnittenen Haare immer schneller wachsen«. Genau wie sie in L’Inferno geschrieben hatte: »qui nescit fingere, nescit vivere« (»Wer sich nicht zu verstellen versteht, versteht nicht zu leben«).

Sie schrieb auch weiter, sie schrieb immer. 1644 kam in Venedig in der Druckerei Valvasene die Antisatira heraus, als Antwort auf die frauenfeindliche Satire des Sienesen Francesco Buoninsegni, Contro ’l lusso donnesco (auf Deutsch: Satyra Menippea oder Straff-schrifft weiblicher Pracht, Hamburg 1683). Das Werk wurde unter den Initialen »D. A. T.« veröffentlicht und Vittoria Della Rovere gewidmet, der Gattin des Großherzogs Ferdinand II., die mit der Verfasserin in Briefwechsel stand. Und 1651 erschien, wieder einmal unter dem Pseudonym Galerana Barcitotti, das polemische Schriftlein Che le donne siano delle spetie degli uomini [Dass auch die Frauen eine Art von Menschen sind], als Antwort auf ein Valens Acidalius zugeschriebenes, 1595 in Latein verfasstes und 1647 auf Italienisch gedrucktes Werk.

1650 waren bei dem Verleger Guerigli die Lettere familiari e di complimenti erschienen, die von ihrem Netzwerk von Beziehungen, Freunden und Briefpartnern zeugten, vor allem mit der Accademia degli Incogniti (Akademie der Unbekannten). Die in der Wohnung ihres Gründers, des venezianischen Autors Giovan Francesco Loredan zusammenkam. Dort wurde disputiert, veröffentlicht, man organisierte Aufführungen.

Die philosophisch libertinäre und des Gnostizismus verdächtige Akademie verstreute sich in alle Windrichtungen, als 1644 Ferrante Pallavicino, einer ihrer Haupt-Animateure, wegen Majestätsbeleidigung und Abfall vom Glauben in Avignon geköpft wurde.

Schwester Arcangela Tarabotti hingegen starb am 28. Februar 1652 im Alter von 48 Jahren an »Fieber und Katarrh«.

Von Elena Stancanelli


Die Verfasserin

Die gebürtige Florentinerin lebt in Rom. Ihr Erstlingswerk Benzina erscheint 1998 (Einaudi Stile libero); sie gründet die Associazione Piccoli Maestri, deren Präsidentin sie ist, und sie schreibt für La Repubblica und La Stampa. Ihr jüngstes Buch heißt Venne alla spiaggia un assassino (La Nave di Teseo).