Mutige Schwestern an der Seite der italienischen Emigranten

Die Kirche als Geburtshelferin
für eine neue Kultur jenseits des Ozeans

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15. Januar 2021

Ende des 19. Jahrhunderts überquerte ein ganzer Strom bedauernswerter Menschen die Weltmeere. Hunderttausende  erließen den Alten Kontinent Richtung Amerika, um dort ihr Glück zu suchen. Schätzungen zufolge sollen zwischen 1836 und 1914 dreißig Millionen Europäer nach Nordamerika ausgewandert sein, darunter vier Millionen Italiener. Ebenso viele gingen in Argentinien und Brasilien an Land. Vor allem Ordensfrauen bemühten sich, ihnen auf ihrem Weg beizustehen.

Der erste, den dieser Exodus schockierte, war der Bischof von Piacenza, Giovanni Battista Scalabrini (1839-1905). »In Mailand«, so schrieb er, »wurde ich Zeuge einer Szene, die in meiner Seele tiefe Traurigkeit hinterließ. Ich sah den riesengroßen Saal, die seitlichen Vorhallen und den angrenzenden Platz, die mit drei- bis vierhundert ärmlich gekleideten, in verschiedene Gruppen aufgeteilten Personen überfüllt waren. Ihre von der Sonne gegerbten, von Entbehrung durchfurchten Gesichter ließen die widersprüchlichen Gefühle erkennen, die ihr Herz in jenem Augenblick bewegten.«

Man kann sich den Schock der Trennung sowohl bei den Aufbrechenden und als auch bei den Zurückbleibenden ausmalen. An der Hafenmole von Neapel blieben mitunter arme Frauen zurück, die keinen Pfennig mehr in der Tasche hatten, weil alles, was sie hatten, ins Pfandhaus getragen worden war, um die Überfahrt zu bezahlen. Verzweifelte Frauen, die jedermann auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert waren. Für sie eröffneten vier Salesianerinnen eine Zufluchtsstätte, wo sie an Land zurückgebliebene Emigrantinnen beherbergten, sie zu einer zweiten ärztlichen Untersuchung begleiteten und ihnen dann, wenn alles in Ordnung war, halfen, sich einzuschiffen. 1911 vertraute Schwester Clotilde Lalatta ihrer Ordensoberen an: »Wir haben kaum Zeit für das Gemeinschaftsleben, da wir zu wenige sind für diese Arbeit. An den Tagen, an denen die Dampfer ablegen, heißt es ein- oder zweimal täglich zum Hafen zu gehen. Zu Hause gilt es zu nähen, zu bügeln, zu putzen, den aufgenommenen Frauen zu helfen und die Tür im Auge zu behalten. Dann die Besorgungen und der Einkauf, die Hausbesuche der Ärzte, die die Frauen behandeln, sowie Leute empfangen, die einen Anspruch darauf haben, das Haus zu sehen.«

Das ist nur ein kleines Beispiel für den Einsatz der Ordensfrauen bei dieser immensen Völkerwanderung. Für viele wurde dies bald zur eigentlichen Herausforderung ihrer missionarischen Tätigkeit. Schwester Grazia Loparco, Historikerin, Dozentin an der Päpstlichen Fakultät für Erziehungswissenschaften Auxilium, bemerkt dazu: »Genau wie andere Ordensgründer fühlte sich Don Bosco herausgefordert durch die Unsicherheit, der sich die Migranten ausgesetzt sahen. In der Tat kümmerten sich die Missionen der Salesianerinnen in Argentinien und Uruguay um italienische Familien, bevor diese das ersehnte Patagonien erreichten und die, wie es hieß, auf dem Ozean ihren Glauben verloren. Viele Ordensgemeinschaften boten nicht nur geistlichen Beistand, soziale und juristische Unterstützung an, sondern waren auch in Erziehung und Schulbildung tätig. 1877 begannen sechs junge Salesianerinnen mit ihren Missionsreisen nach Südamerika und ihrer Arbeit unter den Migrantenfamilien. Unter der Leitung von Don Boscos Nachfolger, Don Michele Rua, erweiterten die Ordensfrauen ihren Aktionsradius: zunächst, wie der männliche Ordenszweig, innerhalb Südamerikas, dann aber auch im Nahen Osten, der Schweiz, Belgien, England und einige Jahre später auch in den Vereinigten Staaten.«

Den Immigranten zu helfen war eine moralische Pflicht. Der Vatikan war allerdings in Sorge, weil viele bei ihrer Ankunft keine Pfarrgemeinde vorfanden, wo ihre Sprache gesprochen wurde. Stattdessen erwartete sie eine aktiv antiklerikale, sozialistische und freimaurerische Propaganda. Die Immigranten wurden so Ziel einer Neuevangelisierung. Sehr bekannt ist das Engagement von Schwester Franziska Xaviera Cabrini, der ersten amerikanischen Staatsbürgerin, die heiliggesprochen wurde. Sie war 1850 in einer reichen norditalienischen Familie zur Welt gekommen und gründete im Alter von 30 Jahren die Kongregation der Missionsschwestern vom Heiligsten Herzen Jesu.

Papst Leo XIII. forderte sie ausdrücklich auf, Nord- und Südamerika zu evangelisieren. 1889 kam Schwester Cabrini nach New York. Es war eine harte Reise gewesen, als Emigrantin unter Emigranten. Aber eine noch viel härtere Wirklichkeit sollte sie erwarten. Der Erzbischof von New York, Michael Augustine Corrigan, war ihr feindlich gesinnt und sagte in harschem Ton zu ihr, dass es für sie in New York nichts zu tun gäbe und dass sie wieder nach Italien zurückkehren solle. So liefen die Dinge zu jener Zeit.

Ausgesprochen stark waren auch das gegenseitige Misstrauen sowie die Zusammenstöße zwischen den Angehörigen verschiedener Nationen, und das auch unter den Katholiken. Erzbischof Corrigan ging so weit, in einem Brief an den Papst zu schreiben: »Die Italiener stinken, und wenn sie in die Hauptkirche der Stadt gehen würden, dann würden die anderen wegbleiben.«

1887 autorisierte die Kongregation für die Verbreitung des Glaubens (»Propaganda Fide«) in den Vereinigten Staaten nach Nationen und Sprachen getrennte Pfarreien. Aber diese Trennung, so erläutert Matteo Sanfilippo, Dozent an der Università della Tuscia, »spaltete auch die Ordensgemeinschaften, die den Auftrag hatten, die jeweiligen Migranten zu beschützen. Oft waren diese Spaltungen in den neugegründeten Staaten äußerst komplexer Natur: Es ist bekannt, dass die Missionare aus Norditalien die Migranten und die Priester aus Süditalien verachteten, aber dasselbe geschah auch in Deutschland, wo der Norden auf Bayern herabblickte. Angesichts eines so absoluten Durcheinanders regte Bischof Scalabrini kurz vor seinem Tod die Gründung eines vatikanischen Sekretariats an, das sich allen Emigranten widmen und die nationalen Vorurteile zurückweisen sollte: Man sollte sich nach universalen Richtlinien um die Katholiken kümmern, und nicht aufgrund ihrer nationalen Herkunft.«

Schwester Cabrini machte sich an die Arbeit und trieb im Alleingang die ersten Gelder auf. Sie und ihre Mitschwestern begannen in den übelriechenden Gassen in Little Italy, aber Mutter Cabrini reiste auch unermüdlich: 28 Mal überquerte sie den Ozean und zu Pferd sogar die Anden, um von Panama nach Buenos Aires zu gelangen. Man braucht sich nicht darüber zu wundern, denn sie erkannte die Zeichen der Zeit, in der die Ordensfrauen an vorderster Front kämpften, außerhalb der Klöster, mitten in der Welt, um den Geringsten beizustehen, um Zeugnis für das Evangelium abzulegen.

Amerika stellte eine große Herausforderung dar. Die italienischen Ordensfrauen eröffneten Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, Waisenhäuser für »ihre« Emigranten. Die wenigsten von ihnen konnten die erforderlichen Abschlüsse aufweisen, und deshalb konnten sie sich nur der jüngeren Kinder annehmen, nicht aber in weiterführenden Schulen unterrichten. »Zu Beginn des

20. Jahrhunderts stammten die italienischen Ordensfrauen oft aus winzig kleinen Orten und aus einer vorindustriellen Gesellschaft. Als sie in den Vereinigten Staaten an Land gingen, waren sie in einer modernen Metropole und einer stetig wachsenden Industriegesellschaft völlig desorientiert«, so die Historikerin Maria Susanna Garroni. Sie erlebten die negativen Seiten des Kapitalismus. »Sie erzählten von ihrem Heimweh nach Italien, wie auch von ihrer Verwirrung angesichts der Wolkenkratzer, der breiten Straßen, der wimmelnden Menschenmenge. Außerdem mussten sie sich mit dem evangelischen Klerus auseinandersetzen. Sie entdeckten, dass ihnen mit Ausnahme des einen oder anderen erleuchteten Bischofs, der ihnen den Weg ebnete, niemand half. Ja, sie trieben vielleicht einige anfängliche Finanzmittel auf, dann aber mussten sie sich allein durchschlagen, weil sich auch die wohltätigen Werke finanziell selbst tragen mussten. Die amerikanische Gesellschaft zwang sie dazu, fleißig zu sein und auf eigenen Beinen zu stehen. Als die Weltwirtschaftskrise ausbrach, sammelten die ältesten Schwestern sogar Kräuter am Wegesrand, um sich zu ernähren. Viele sahen sich zum Betteln gezwungen. Aber sie gingen gestärkt aus der Krise hervor.«

Immer mehr Frauenorden engagierten sich in dieser Arbeit. Eine Geschichte, die Schwester Loparcos Forschungen entnommen ist, mag stellvertretend für alle stehen: Eine Gruppe Salesianerinnen eröffnete 1908 in Paterson in der Nähe von New York ein Haus mit einer Schule für italienischsprachige Kinder. Aus ihren Berichten wissen wir um ihre Bemühungen, ihre Erfolge und Misserfolge: nicht alle waren des Englischen mächtig, und da sie sich gezwungen sahen, ein monatliches Schulgeld zu erheben, gab es anfangs nur wenige Schüler. Zudem waren die Räumlichkeiten zwar gut beleuchtet, aber ärmlich und schmucklos. Die ersten Bücher waren ein Geschenk des italienischen Konsuls. Es wurde Englisch als Pflichtfach und auch Italienisch unterrichtet. Am Ende des ersten Jahres gab es die Möglichkeit, eine Prüfung in beiden Sprachen abzulegen.

Das war ein grundlegender Schritt für die Integration in der neuen Umgebung. Im zweiten Jahr kamen bereits 120 Schüler. Die italienischen Familien aus Paterson akzeptierten trotz ihrer bitteren Armut das Schulgeld, weil sie den Nutzen dieser Pfarrschule erkannten. Trotzdem war es ein steiniger Weg, wie Schwester Loparco in einem Bericht nach Rom schreibt: »1911 war die Schülerzahl gestiegen und sie wäre noch höher, wenn die Eltern kein monatliches Schulgeld entrichten müssten. Manche sehen sich daher gezwungen, ihre Kinder in die staatlichen Schulen zu schicken.« Aber Paterson bestand weiter. Und so wirkte die Kirche an der Geburt der Neuen Welt mit.

Von Francesco Grignetti