Reflexion über die Enzyklika »Fratelli tutti«

Auf zu neuen Ufern!

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08. Januar 2021

»Die Moderne, die mit so viel Entschiedenheit Gleichheit und Freiheit hervorgebracht hat, muss sich nun mit dem gleichen Elan und derselben Hartnäckigkeit auf die Geschwisterlichkeit konzentrieren, um sich den vor uns liegenden Herausforderungen zu stellen. Die Geschwisterlichkeit wird es der Freiheit und der Gleichheit erlauben, ihren rechtmäßigen Platz im Gleichklang einzunehmen.« Dieses Zitat aus dem neuen Buch Wage zu träumen! (S. 14) von Papst Franziskus, das weltweit hohe Aufmerksamkeit erfahren hat, setze ich an den Anfang meiner Reflexion über die im Oktober vorgelegte Enzyklika Fratelli tutti (FT). Ich wähle auch deshalb diesen gedanklichen Ansatz, weil Papst Franziskus mit der zeitnahen Veröffentlichung einer Enzyklika und eines anschließenden Buches seine Haltung auch durch sein Tun selbst so überzeugend klar macht: Er wendet sich – wie auch in der Enzyklika ausdrücklich benannt – an alle Menschen, an die ganze Welt. Schon die Enzyklika und noch mehr das Buch versammeln erste Reflexionen und weiterführende Gedanken von Papst Franziskus angesichts der Corona-Pandemie, die die Welt nach wie vor in Atem hält und die unser Leben – persönlich, gesellschaftlich und als Weltgemeinschaft – auch »nach Corona« prägen wird.

In gewissem Sinne leistet Papst Franziskus mit seinem Buch Wage zu träumen! eine Art Übersetzungsarbeit der Enzyklika. Es erweckt fast den Anschein, als wolle er ganz sicher gehen, dass wirklich alle verstehen, dass er auch in seinem Papstamt Grenzen überwinden möchte und uns aufruft, es ihm gleichzutun in unseren Verantwortungsbereichen. Diese Grundmelodie gibt schon die erste Zwischenüberschrift in Fratelli tutti vor, denn sie lautet: »Ohne Grenzen« (FT 3).

Papst Franziskus steht, wie auch schon mit der Enzyklika Laudato si’, eindeutig in der Tradition der Katholischen Soziallehre, und knüpft an den heiligen Franz von Assisi an, vor allem an dessen Einladung zu einer Liebe, »die alle politischen und räumlichen Grenzen übersteigt« (FT 1). Ein besonders starkes Signal von Fratelli tutti ist ganz in diesem Sinne zweifelsohne die Anknüpfung

an die Begegnung mit Großimam Ahmad Al-Tayyeb in Abu Dhabi 2019 und das gemeinsame Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt. Mit diesem Bezug unterstreicht Papst Franziskus erneut, dass Religionen nicht zur Abgrenzung und zur Verstärkung von Ideologien dienen dürfen, sondern alle im Dienst an der einen Menschheitsfamilie stehen müssen, und er erteilt allen fundamentalistischen Versuchen, Religion für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, eine klare Absage.

Man kann Fratelli tutti durchaus als eine Summe des bisherigen Pontifikates von Papst Franziskus lesen, als Summe dessen, was er der Welt und auch der Kirche selbst ins Stammbuch schreiben will. In Anknüpfung an die Enzyklika Caritas in veritate von Papst Benedikt XVI., die sich ihrerseits stark an Populorum progressio von Papst Paul VI. anschließt, fordert Papst Franziskus die Kirche dazu auf, ihrer öffentlichen Rolle gerecht zu werden und sich in den »Dienst der Förderung des Menschen und der weltweiten Geschwisterlichkeit« (Caritas in veritate, 11) zu stellen. Auch Fratelli tutti steht in der langen Tradition der kirchlichen Sozialverkündigung und führt den Gedanken der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen konsequent weiter.

In ersten kritischen Stimmen zu Fratelli tutti war zu vernehmen, dass soziale Geschwisterlichkeit keine klassische Kategorie der Soziallehre sei, sondern der Gedanke der Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit für das hier Bezeichnete ausreichend seien und es keine neue Begrifflichkeit brauche. Solidarität ist ein soziales Ordnungsprinzip und eine moralische Tugend, so wie es auch das Kompendium der Soziallehre der Kirche erläutert, die »den Rang einer grundlegenden sozialen Tugend ein[nimmt], weil sie im Raum der Gerechtigkeit angesiedelt ist, der Tugend schlechthin« (193). Ebenso wie bereits Caritas in veritate stärkt Fratelli tutti das sozialethische Prinzip der Solidarität, das sich gerade nicht darin erschöpft, eine gleichsam rechtlich einklagbare und gegebenenfalls sozialstaatlich abgesicherte Kategorie zu sein, sondern grundlegend ein Wohlwollen aller gegenüber allen formuliert und einfordert. Soziale Geschwisterlichkeit greift eine philosophische Grundkategorie des Wohlwollens, der Freundschaft auf, wie sie etwa auch Aristoteles in der Nikomachischen Ethik beschreibt als Freundlichkeit, mit der wir unseren Mitmenschen grundsätzlich in einer Haltung der Liebenswürdigkeit, Akzeptanz und Rücksichtnahme begegnen. Denn ohne solche Freundschaft kann es kein wirkliches Verstehen des Anderen geben, das ja eine Grundlage des guten Miteinanders der Menschen ist.

Papst Franziskus schreibt unserer Zeit in der Tat etwas ins Stammbuch, das universelle und zeitlose Gültigkeit hat und das für alle Menschen guten Willens prinzipiell zustimmungsfähig sein sollte: »Aufeinander zugehen, sich äußern, einander zuhören, sich anschauen, sich kennenlernen, versuchen, einander zu verstehen, nach Berührungspunkten suchen – all dies wird in dem Wort Dialog zusammengefasst « (FT 198). Ich bin sehr dankbar dafür, dass Papst Franziskus diese scheinbar so selbstverständliche Haltung im Umgang miteinander, die Bereitschaft zum Dialog, durch seine Enzyklika noch einmal in den Vordergrund stellt und damit gerade in einer Zeit erstarkender Populismen, Nationalismen und Ideologien Orientierung gibt, die gerade nicht das Trennende betont, sondern stets das Verbindende, das Gemeinsame sucht. Zu dieser Haltung braucht es jedoch die freie Zustimmung, das Anderssein aller Menschen zu akzeptieren und respektieren. Das ist nach meinem Dafürhalten ein notwendiger

common sense, um Spaltungen innerhalb von Staaten und Gesellschaften, aber auch weltweit zu überbrücken beziehungsweise bestenfalls sogar schon zu verhindern. Denn die Gefahr sehe ich ebenso wie Papst Franziskus in Wage zu träumen!: »Das Fehlen ehrlichen Dialogs in unserer öffentlichen Kultur macht es schwieriger, einen gemeinsamen Horizont zu schaffen, auf den wir uns zusammen zubewegen können« (S. 100f.).

Der gemeinsame Horizont gibt die hoffnungsvolle Richtung vor, um das »gemeinsame Haus der Schöpfung« förderlich und zum Wohl aller Menschen gestalten zu können, ausgehend von einem positiven Menschenbild, einer Anthropologie, die im Glauben an den Schöpfergott gründet (vgl. Laudato si’, 13). In Fortschreibung von Laudato si’ fordert Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika zu einem Umdenken auf, das zu einer neuen Fortschrittsidee der Menschheit führen muss angesichts der weltweiten existentiellen Krisen. Er spricht in Wage zu träumen! Sogar von den »verborgenen Pandemien der Welt« (S. 12), wie Hunger, Gewalt und Klimawandel, die wir als eine Menschheitsfamilie in ihrem hohen Krisenpotential geschwisterlich und nachhaltig bestehen müssen.

Das »gemeinsame Haus der Schöpfung« kann deshalb nicht im Modus der Abgrenzung bestimmt werden, sondern ausgehend von der Orientierung am Gemeinwohl, das nicht nur formal und materiell gedacht wird. Die Ursprünge des Gemeinwohlprinzips reichen zurück bis in die griechische Antike und sind weiter wirkmächtig auch in der Soziallehre der Kirche. Papst Franziskus greift dieses Prinzip schon in Laudato si’ auf, ordnet ihm die Sozialprinzipien von Personalität, Solidarität und Subsidiarität zu, und setzt so das Kaleidoskop der christlichen Soziallehre seit Rerum Novarum 1891 gleichsam neu zusammen. Laudato si’ definiert wie das Zweite Vatikanische Konzil Gemeinwohl als »die Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Mitgliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen« (Gaudium et spes 26).

Der Anspruch der Geschwisterlichkeit und des Dialogs in Fratelli tutti richtet sich aber auch auf die Kirche selbst, die als Gemeinschaft von Menschen eben nicht immun ist gegen die Versuchungen des Egoismus und des Individualismus, des Missbrauchs der Macht, der Ideologisierung und des Fundamentalismus. Die Kirche ist dagegen weder immun in innerkirchlichen Beziehungen noch in ihrer Verhältnisbestimmung zur Welt. Auch in der Kirche braucht es den Dialog!

Die Versuchung der Entgrenzung des Ich, des Selbst ist auch der biblischen Überlieferung bekannt, was in Fratelli tutti in wunderbarer Weise in der Katechese des Gleichnisses vom Barmherzigen Samariter zutage tritt. Im Blick auf diejenigen, die an dem verletzten Menschen vorbeigehen, sagt Papst Franziskus: »Sie waren religiöse Menschen. […] Es weist darauf hin, dass die Tatsache, an Gott zu glauben und ihn anzubeten, keine Garantie dafür ist, dass man auch lebt, wie es Gott gefällt« (FT 74).

Auch die Erfahrungen mit Missbrauch und Gewalt im Raum der Kirche haben – vor allem den Betroffenen – schmerzlich deutlich gemacht, wie gefährlich Macht sein kann, wenn Amtsträger und Verantwortungsträger sich der Grenzen ihrer Macht nicht bewusst bleiben und Macht nicht kontrolliert wird, wenn die Würde des Menschen missachtet und verletzt wird. Wir haben gelernt und müssen weiter daran bleiben, dass es unbedingt ein neues Denken braucht, das nicht an Selbsterhaltungsinteressen einiger orientiert ist, sondern am Wohl des gesamten Volkes Gottes. Dazu braucht es die Kraft zum Dialog.

Wesentliche Grundlage dieser erneuerten Haltung, die biblisch begründet ist, ist der Gedanke der chiesa synodale, das alte Prinzip der Synodalität, das Papst Franziskus auch in seinem Buch Wage zu träumen! aufgreift: »Dieses alte Vorgehen wollte ich aber nicht nur für die Kirche neu entwickeln, sondern auch als Dienst an der Menschheit, die so oft in lähmenden Streitigkeiten gefangen ist« (S. 106). Damit die Kirche jedoch in diesem Dienst an der Menschheit glaubwürdig sein kann, und somit auch der frohen Botschaft Gottes den Weg bereitet, muss sie sich auch in analoger Weise in ihren eigenen innerkirchlichen Beziehungen daran ausrichten. Da ist noch manches zu tun.

Mit Fratelli tutti und Wage zu träumen! will Papst Franziskus abermals den Horizont kirchlicher Verkündigung und kirchlichen Handelns vertiefen und weiten: Es ist ein geschärfter Blick für die Peripherien des Menschseins, des Weltseins und des Kircheseins. Und es ist vielleicht auch motiviert von dem Wunsch, die notwendigen innerkirchlichen Debatten in synodaler Weise so zu führen, dass davon der Blick auf das, was für den Menschen und die Menschheit insgesamt wichtig und bedeutsam ist, nicht getrübt wird. Dahinter steht die zentrale Frage, wofür die Kirche da ist. Und die Antwort von Papst Franziskus ist ebenso zentral und eindeutig: Die Kirche ist nicht für sich selber da, sondern damit alle Menschen Hoffnung haben, die von Gottes Liebe selbst ausgeht! Ausgehend von der Mitte des Glaubens, von Menschwerdung, Kreuz und Auferstehung, ist die Kirche Werkzeug der Einheit aller Menschen. Das sollten wir uns von Papst Franziskus auch mit Fratelli tutti ganz deutlich ins Stammbuch schreiben lassen.

Von Reinhard Kardinal Marx,
Erzbischof von München und Freising