Interview mit dem anglikanischen Erzbischof von Canterbury, Justin Welby

Die Botschaft der
Hoffnung leben

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04. Dezember 2020

Am 13. November 2019 hat Papst Franziskus den Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, im Vatikan empfangen. Ein Jahr später und einen Monat nach der Veröffentlichung der Enzyklika »Fratelli tutti« spricht der Erzbischof mit dem Osservatore Romano und Vatican News über aktuelle Themen und den Beitrag der Christen. Die Fragen stellte Alessandro Gisotti.

Euer Gnaden, Sie sind vor etwa einem Jahr von Papst Franziskus im Vatikan empfangen worden. Seitdem hat sich die Welt auch durch die Pandemie verändert. Was können christliche Führungspersönlichkeiten wie Sie und der Papst tun, um in einer weltweit von Angst und Leid geprägten Zeit Hoffnung zu wecken?

Grundsätzlich liegt unsere Hoffnung in Jesus Christus, der »derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit« (Hebr 13,8). Während die Welt sich verändern kann, bleibt die Liebe Gottes in Jesus Christus unveränderlich. »Das Erbarmen des Herrn ist nicht zu Ende« (Klgl 3,22). Die Aufgabe derer, die die Kirche führen, ist es, in diesen schwierigen Zeiten Zeugnis von der Hoffnung zu geben. Jesus ist nicht gekommen, Hoffnung in eine Welt zu bringen, in der alles gut lief, sondern in eine zerbrechliche und zerbrochene Welt, eine Welt voll schwacher, verletzter, sündiger Menschen. Und Jesus sagt uns, was wir tun sollen: »Fürchtet euch nicht!« Er ist unsere Hoffnung.

Christen sind berufen, Menschen der Hoffnung zu sein, was sich zeigen soll in der Art und Weise, wie sie als Gemeinschaft zusammenleben. Die Botschaft der Hoffnung auf Christus blickt weiter als auf das Hier und Heute; sie blickt auf das, was kommen wird, auf die Ewigkeit und die Verheißung ewigen Lebens. Das menschliche Leben ist zerbrechlich, und die Ausbreitung von Krankheit und Tod machen uns das auf jähe und dramatische Weise klar. Doch das ewige Leben ist genau das: ewig. Gott beruft uns dazu, darauf hinzuarbeiten, dass das irdische Leben besser das himmlische Leben widerspiegelt, weil das eine zum anderen hinführt. Indem wir dem Beispiel Jesu und seiner Lehre, den Nächsten zu lieben, folgen, können wir dazu beitragen. Wenn wir unseren Glauben an Christus leben und die Wehrlosen, Armen und Ausgegrenzten in den Mittelpunkt stellen, dann leben wir die Botschaft der Hoffnung.

Während der aktuellen Pandemie wurde die Enzyklika von Papst Franziskus veröffentlicht. Was ist Ihnen aufgefallen an der Botschaft, die der Papst mit diesem auf Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft konzentrierten Dokument vermitteln möchte?

Fratelli tutti ist ein sehr eindringliches Dokument und schlägt eine systematische, anspruchsvolle und mutige Vision für eine bessere zukünftige Welt vor. Es ist zur Gänze auf die Christologie gegründet, Christus im Mittelpunkt. Es ist auch ein Schreiben, das sich ernsthaft mit der Weite und Komplexität der Menschheit auseinandersetzt. Die Bezugnahmen des Papstes auf seine Begegnungen mit Persönlichkeiten wie dem Ökumenischen Patriarchen und dem Großimam, die Inspiration durch Mahatma Gandhi, die Verweise auf Martin Luther King Jr. und Erzbischof Desmond Tutu zeigen, dass seine Sicht nicht nur für die katholische Kirche gedacht ist, sondern für die gesamte Menschheit. Das ist einer der Gründe, warum seine Sicht sowohl anspruchsvoll als auch überzeugend ist.

Dem Papst liegen alle Aspekte des menschlichen Lebens am Herzen, von der Einzelperson bis hin zu den multinationalen Unternehmen, von der Familie bis zur Welt des Handels, der Industrie und der Politik. Er erklärt die Doppelgefahr des »Kommunitarismus« und des Individualismus, der »Skylla und Charybdis« der Politik und der Philosophie. Beide führen zur Tyrannei oder zur Anarchie. In seinen Kontakten mit Menschen wie dem Großimam, den auch ich kenne, zeigt er, dass es im interreligiösen oder kulturellen Konflikt keine Unausweichlichkeit gibt. Der »Kampf der Kulturen« ist eine Vorstellung, die die Wirklichkeit der Geburt Christi, seines Lebens, Todes, seiner Auferstehung und Himmelfahrt ignoriert, die das Universum verwandeln kann: eine Verwandlung, die es ermöglicht, dass das schöpferische Wirken des Vaters durch den Sohn sich in der Kraft des Heiligen Geistes fortsetzt und das Reich Gottes sichtbar werden lässt.

»Fratelli tutti« schließt mit einem ökumenischen Gebet. Welchen Beitrag kann die ökumenische Bewegung zum Aufbau einer besseren Zukunft leisten, in einer gespaltenen, von Kriegen und Terrorakten erschütterten Welt, wie die, die kürzlich in Europa geschehen sind?

Ein Problem, das viele Christen betrifft, ist die Vorstellung, dass ihre Kirche die einzige christliche Institution ist, die es gibt, oder wenn sie die Existenz anderer Christen anerkennen, dann denken sie, dass diese generell Unrecht haben. Zuweilen gilt das für die Anglikaner, aber auch für andere. Wenn wir auf die christlichen Brüder und Schwestern blicken, von denen wir aufgrund eines historischen Ereignisses oder aufgrund von Lehrstreitigkeiten getrennt sind, dann sehen wir wirklich Menschen, die Christus gehören, andere Pilger auf dem Weg, von Gott geliebte Menschen, denen er dient und von denen wir lernen können. In einem englischen Hymnus heißt es: »In Christus gibt es weder Osten noch Westen, Norden oder Süden. / Nur eine große Liebe, innen und außen./ Wahrhaftige Herzen, manche taub, manche blind, / singen überall diese eine Melodie, die verlorene Seelen nicht finden können. / Reicht euch die Hände und glaubt. / Welcher Rasse auch immer ihr sein mögt: Wer meinem Vater dient und dem Sohn, gehört gewisslich zu mir« (Hymnus von John Oxenham, 1908).

Menschen haben die Neigung, Barrieren zu errichten und das Territorium einzugrenzen. Das geschieht in der Kirche und auch im politischen Bereich. Grenzen implizieren Unterschiede, und manchmal verfestigen sie sie auch fälschlichlicherweise. Was die ökumenische Bewegung getan hat und weiterhin tut, das ist, jene Grenzen nach und nach in Frage zu stellen. Ab und zu gibt es einen wichtigeren Fortschritt, wie wir das bei der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre von katholischer und lutherischer Seite gesehen haben, der jetzt Anglikaner, Methodisten und Reformierte zugestimmt haben. Ab und zu wird das Grenzgebiet geöffnet und die Grenze wird durchlässig.

Eine der realen und sichtbaren Erfolge der ökumenischen Bewegung ist, dass auf persönlicher Ebene über die konfessionellen Unterschiede hinwegreichende vertrauensvolle und freundschaftliche Beziehungen geknüpft wurden. Die Barrieren wurden von der Freundschaft (oder der »Geschwisterlichkeit«) beseitigt. Ich lebe tagtäglich in einer ökumenischen Gemeinschaft, denn fast seit Beginn meiner Anwesenheit im Lambeth Palace wohnt dort eine Gruppe der Gemeinschaft »Chemin Neuf« mit uns zusammen. Im Lauf der Jahre waren unter ihnen Katholiken, Anglikaner und Lutheraner. Ich habe einen katholischen geistlichen Begleiter, mit dem ich kürzlich am Vorwort für eine französische Ausgabe von Fratelli tutti zusammengearbeitet habe. In all diesen Beziehungen ist der andere kein Fremder, sondern vielmehr ein Gefährte auf dem Pilgerweg, ein Freund, eine Schwester oder ein Bruder.

In einem Brief an die britische Nation haben Sie vor Kurzem geschrieben, dass es drei Antworten auf die Fragen gibt, die die Pandemie uns allen gestellt hat: ruhig bleiben, mutig sein, Mitleid haben. Warum haben Sie gerade diese drei Aspekte hervorgehoben?

In einem verborgenen Feind gibt es etwas, das Angst auslöst. Aber die Angst besiegt man nicht durch Panik, sondern so vergrößert man sie eher noch. Die Ruhe dagegen gibt uns den Raum, Bilanz zu ziehen und überlegt zu handeln. Sie verweist auf das hebräische Wort »Shalom« und erinnert an die »völlige Stille« nach der Stillung des Seesturms durch Jesus in Matthäus 8,26. Die fehlende Ruhe in den Herzen der Jünger führte zu einem Tadel durch Jesus. Aber wir müssen mutig sein. In der Zeit des Lockdown gab es viele Schlagzeilen in den Zeitungen darüber, dass die Kirchen geschlossen waren. Vielleicht waren die Gebäude geschlossen und das sakramentale Leben der Kirche war beeinträchtigt, aber die Kirche war offen: Christen aller Konfessionen haben sich bemüht, anderen zu helfen, ihren Nachbarn und anderen Bedürftigen. Es ist klar, dass wir angesichts einer Corona-Pandemie alle betroffen sind.

Papst Franziskus hat in diesem Jahr mehrfach wiederholt, dass wir aus dieser Krise nur herausfinden werden, wenn wir uns umeinander kümmern und anerkennen, dass wir alle im selben Boot sitzen. Doch wir sehen in Europa, und nicht nur in Europa, dass Populismus und Nationalismus an Boden gewinnen. Was ist die christliche Antwort auf diesen Egoismus, der genährt wird von der Angst, die wir erleben?

Auch ich habe gesagt, dass wir im selben Boot sitzen (oder wenn wir in unterschiedlichen Booten sitzen, dann befinden wir uns auf demselben Meer und haben denselben Sturm zu bewältigen) und dass wir uns um uns selbst und unsere Gemeinschaften kümmern müssen, indem wir Kraft und Mut voneinander schöpfen und den Weg gemeinsam gehen. Die Angst lässt uns Barrieren errichten, von denen ich vorhin gesprochen habe. Je mehr die Menschen in der Angst gefangen sind und je mehr diese Ängste von den politischen Führungen benutzt oder manipuliert werden, desto mehr ist die Kirche aufgerufen, etwas anderes zu zeigen: Aufnahmebereitschaft, Dienen und Liebe.

In der gesamten Enzyklika Fratelli tutti verknüpft Papst Franziskus Individuum und Gesellschaft, wobei er die Extremformen auf beiden Seiten zurückweist und ihre wechselseitige Abhängigkeit hervorhebt. Der anglikanische Priester und Dichter des 17. Jahrhunderts John Donne hat geschrieben, dass »niemand eine Insel und in sich ganz« ist. Jeder Mensch ist mit anderen verbunden, und wenn einer leidet, dann leiden andere mit ihm. Der Heilige Vater zeigt in der ganzen Enzyklika, dass dies heute genauso gilt wie vor 400 Jahren und in der ganzen Geschichte der Menschen.

In der Enzyklika gibt es ein sehr eindringliches Kapitel, das das Gleichnis des barmherzigen Samariters analysiert. Der barmherzige Samariter hat Nationalismus und Vorurteile durch bedingungslose Liebe überwunden. In dieser liebevollen, fürsorglichen Beziehung gab es nicht einen Juden und einen Samariter, sondern zwei menschliche Wesen, einen in Not und einen, der dieser Not Abhilfe schafft. Die christliche Antwort auf den Egoismus ist die Liebe, eine Botschaft, die das gesamte Schreiben Seiner Heiligkeit durchzieht.

Sie haben in einem Interview gesagt, dass Sie jeden Tag für den britischen Premierminister Boris Johnson beten. In einer heiligen Messe in Santa Marta hat der Papst zum Gebet für führende Politiker aufgerufen, die in dieser Zeit schwierige Entscheidungen zu treffen haben. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach heute in einer immer stärker säkularisierten Welt das Gebet oder auch die Beziehung zu Gott?

Ich bete täglich für den Premierminister und für alle anderen, die jeden Tag fast unmögliche politische Entscheidungen treffen müssen. In jenem Interview hatte ich laut einigen Schlagzeilen in den sozialen Medien »zugegeben«, dass ich für den Premierminister bete. Ich gebe das nicht zu, als wäre es ein schuldbeladenes Geheimnis. Es ist meine Pflicht, und es ist etwas, das ich bereitwillig und gern für ihn und für andere tue.

Das Gebet ist das Lebenselixier unserer Beziehung zu Gott. Das Gebet ist schön, intim und immer überraschend. Gebet ist die Teilhabe an Schöpfung und Neuschöpfung, im Gebet verändern wir uns, und es verändert die Welt. Aber wenn wir sehen wollen, dass die Dinge sich ändern, dann beginnen wir beim Gebet, nicht indem wir eine Aufzählung von Bitten in den Himmel schicken, sondern indem wir Gott erlauben, uns zu verändern, uns Christus ähnlicher zu machen.

Frieden, Ökologie, soziale Gerechtigkeit gehören zu den Themen, die Ihnen und Papst Franziskus am Herzen liegen und für die Sie sich einsetzen. Was erhoffen Sie sich für die Zukunft von Ihrer Verbindung zum Papst, mit dem Sie bereits häufig zusammengetroffen sind und mit dem Sie den Wunsch teilen, gemeinsam den Südsudan zu besuchen, was Sie im Anschluss an die Begegnung mit den führenden südsudanesischen Politikern im April 2019 in Santa Marta zum Ausdruck gebracht haben?

Ich schätze meine Freundschaft mit Papst Franziskus sehr. Wir haben unseren Dienst beinahe gleichzeitig begonnen und wir teilen viele gemeinsame Sorgen. Für uns beide sind Frieden und Versöhnung grundlegend. Der Einkehrtag mit den verschiedenen führenden Politikern des Südsudan, an dem der Heilige Vater und ich teilgenommen haben, gehört bis heute zu den intensivsten Erfahrungen meines Lebens. Gemeinsam in den Südsudan reisen zu können bleibt eine konkrete Hoffnung. Bisher war es nicht möglich, aber die Kirchen, die katholische, anglikanische und presbyterianische, haben sich im Südsudan und auf internationaler Ebene weiter für den Frieden und für eine gerechte und dauerhafte Zukunft für jenes Land eingesetzt. Wenn es wieder erlaubt sein wird zu reisen, dann hoffe ich, dass es im Friedensprozess des Südsudan solche Fortschritte gegeben haben wird, dass es möglich sein wird, dass wir uns dorthin begeben, um das zu feiern und zu einer Vertiefung des Friedens und des Wachstums in der Gesellschaft zu ermutigen.

Am Ende einer meiner Begegnungen mit dem Papst hat er mir gesagt, dass er sich an die »drei P« erinnert: »prayer, peace and poverty« (Gebet, Frieden und Armut). Ich hoffe, dass diese »drei P« unsere Freundschaft weiter prägen und uns vereinen werden: das Gebet füreinander und für die Welt, der Einsatz für Frieden und Versöhnung sowie das Bemühen, das Leben der Armen zu verbessern.