Der Einfluss des katholischen Glaubens auf den britischen Schriftsteller

Tolkien und der Violinschlüssel

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07. November 2020

1947 schrieb Emmanuel Mounier in einem mit Traité du caractère (Abhandlung über den Charakter) betitelten Buch: »Der Mensch ist kein statisches Bauwerk: dieses lebt, dauert in der Zeit an. Tatsächlich ähnelt sein Aufbau eher dem einer musikalischen Themenentwicklung als einem Werk der Architektur, da er sich nicht außerhalb der Zeit darstellen kann.« Das gilt auch für einen der Protagonisten der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts: John Ronald Reuel Tolkien. Es ist interessant, die Noten dieser Lebens-Partitur zu lesen, um zu versuchen, dieselbe Melodie anzustimmen, die auch Ainur, Elben, Zwerge, Menschen und Hobbit gelernt haben und deren wichtigste Musiker und Sänger sie waren.

Der »Violinschlüssel«, der es diesen Noten gestattet hat, den richtigen Platz im Leben des Oxford-Professors einzunehmen, ist mit Sicherheit sein katholischer Glaube. So schrieb er am 2. Dezember 1953 im Brief Nr. 142 an seinen Jesuitenfreund P. Robert Murray: »Vor allem sollte ich dafür dankbar sein, (seit dem Alter von acht Jahren) in einem Glauben erzogen worden zu sein, der mich gestärkt und mich all das gelehrt hat, was ich weiß; und das habe ich meiner Mutter zu verdanken, die ihrer Bekehrung treu geblieben und jung gestorben ist, was größtenteils den der Armut zu verdankenden Entbehrungen zuzuschreiben ist, die deren Folge war.« Diesen Worten lässt sich entnehmen, dass die heißgeliebte Mutter Mabel in Ronalds Augen eine Märtyrerin des Glaubens war. Diese so gebildete und mutige Frau, die dem Herzen ihres Sohnes die Liebe zu Fremdsprachen eingeflößt hatte, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom anglikanischen zum katholischen Glauben konvertiert, wodurch sie sich ihre ganze Familie zum Feind machte. Tolkiens Glaube hatte also von Anfang an eine »mütterliche Tongebung«, die in eine inbrünstige Verehrung der Jungfrau Maria mündete, auf der, wie er selbst in dem Brief an seinen Jesuiten-Freund gestand, seine ganze »kleine Wahrnehmung der Schönheit sowohl in Erhabenheit als auch in Einfachheit« gründete.

Aber Tolkiens Katholizismus wies – auch das ist Mabel zu verdanken – auch eine zweite Eigenschaft auf: die »Intonation des Oratoriums«. Tatsächlich begann Ronald 1902, das Oratorium in Birmingham zu besuchen, wo er nicht nur Messdiener bei der Frühmesse war, sondern auch drei grundlegende Persönlichkeiten kennenlernen konnte, drei Persönlichkeiten, die ebenso viele Fäden eines Wandteppichs darstellen, in den Vergangenheit und Gegenwart eingewoben sind und die auf gewisse Weise sein Wachstum als Mensch und Glaubender beeinflussten: der heilige Filippo Neri, der heilige John Henry Newman und P. Francis Xavier Morgan.

Was die erste dieser Gestalten betrifft, die aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit kommt, so sind die Worte des Oratorianers Edoardo Aldo Cerrato, des aktuellen Bischofs von Ivrea, erleuchtend, der Folgendes sagte: »Es ist nicht leicht, zu sagen, wer Filippo Neri ist, so nuancenreich ist seine Persönlichkeit und so einfach aber tiefgründig sein geistliches Angebot. Er ist ein zutiefst kontemplativer Geist. Ausgesprochen asketisch in seinen auch körperlichen Bußübungen, lebte und lehrte er die Verpflichtung zur geistlichen Kasteiung, die sich auszeichnet durch die Freude und Heiterkeit des Spieles; er ist ein eifriger Leser – davon zeugt seine umfangreiche Privatbibliothek –, und er interessiert sich für Geschichte, Philosophie, Theologie, Literatur und Texte zur Spiritualität. Die Tatsache, dass er da Erfolg hatte (schreibt M. Teresa Bonadonna Russo), »wo andere gescheitert waren, ist der Anwendung seiner Methode zuzuschreiben, die für alle Menschen und alle Umstände funktioniert, und beruht auf seiner Fähigkeit, sich stets einfach und bescheiden auf dieselbe Ebene wie sein Gegenüber zu stellen, der sich infolgedessen letztendlich seine persönliche Natur und Persönlichkeit zuerkannt sah: ein Respekt, den der heilige Filippo Neri seiner Art und Weise verdankte, die Freiheit zu verstehen und die weitaus üppigere und dauerhaftere Ergebnisse zeitigte als jene, die durch Nötigung und Macht erreicht wurden«.

Auch bei Tolkien war der Bezug auf die Literatur, die Spiritualität und die Kontemplation vor allem angesichts der Eucharistie, des bei ihm zu einem »geheimen Laster« werdenden Spiels, Sprachen zu erfinden (logopoiesis), die die zu erzählenden Geschichten und Mythen in Gang brachten und ihnen Substanz verliehen (mythopoesis, Mythenschöpfung ), sehr stark. Interessant ist auch – im mit dem heiligen Filippo Neri zusammenhängenden Diskurs – der Bezug auf das Thema, sich ohne jede wie auch geartete Nötigung oder Druck frei entscheiden zu können. Das lässt uns auf geradezu spektakuläre und unglaublich ähnliche Art und Weise wieder daran denken, was Frodo im Herrn der Ringe über den Einfluss, den der Eine Ring auf ihn ausübt, zuerst von Gandalf (»Siehst Du? Er ergreift Besitz von Dir, und auch Du, Frodo, bist bereits nicht mehr imstande, Dich seiner zu entledigen und willst ihn nicht mehr zerstören. Und ich könnte Dich nicht dazu ›zwingen‹, es sei denn durch Gewaltanwendung, wodurch Dein Geist verwirrt würde«) und dann von Elrond gesagt wird im Hinblick auf seine Entscheidung, die Aufgabe des Ringträgers des Einen zu übernehmen (»Aber er ist eine schwere Bürde. So schwer, dass keiner sie den Schultern eines anderen aufbürden könnte. Ich bürde sie Deinen Schultern nicht auf. Aber wenn Du sie aus eigenen Stücken übernimmst, dann werde ich sagen, dass Du die richtige Entscheidung getroffen hast«).

Aber das Oratorium von Birmingham hatte auch einen zweiten Vater, nämlich seinen Gründer, den heiligen John Henry Newman, von dem Tolkien, wie wir Oronzo Cillis Buch Tolkien’s Library entnehmen, mindestens zwei Werke kannte: Apologia pro Vita Sua und The Dream of Gerontius, and Other Poems. Diesem großen Intellektuellen und Giganten des katholischen Glaubens verdankte Ronald vermutlich unter anderem die Leidenschaft für die Phantasie bzw. Einbildungskraft und die Aufmerksamkeit gegenüber der inneren Freiheit, Respekt für die Würde des Menschen und das Unterscheidungsvermögen des Gewissens beim Streben nach dem Guten und der Vermeidung des Bösen.

Die dritte Tolkien in seinem Leben sehr nahestehende und wesentliche Gestalt war zweifellos jene von P. Francis Xavier Morgan, der nach dem Tod seiner geliebten Mutter Mabel sein Vormund wurde. In Erinnerung an diesen »zweiten Vater« schrieb der Professor 1965 in einem Brief an seinen Sohn Michael: »Von ihm habe ich vor allem die Nächstenliebe und die Vergebung gelernt.« Tatsächlich merkt Raymond Edwards in seiner jüngst erschienenen Biographie des Oxford-Professors zu Recht an: »Ronalds Glaube war von traditioneller Art und war (zumindest in späteren Jahren) stark auf das Allerheiligste Sakrament ausgerichtet; aber seine Theologie war im Allgemeinen expansiv und großzügig, fern aller rückschrittlichen Tendenzen (…). Diese Persönlichkeitsbildung ist Francis Morgan und der wohlwollenden Atmosphäre des Oratoriums zu verdanken.«

Tolkien konnte also in einer so tief von diesen drei großen Vätern im Glauben gezeichneten Gemeinschaft eine voll und ganz auf das Depositum fidei, und vermutlich auch auf das 1905 entstandene Kompendium der christlichen Lehre des heiligen Pius X. gegründete Spiritualität entwickeln. Die Inhalte des letztgenannten Werkes wurden im Oratorium von Birmingham auch dank P. Denis Sheil verbreitet, wie Tolkiens Biograph José Manuel Ferrandéz Bru in dem Buch erinnert, das er der Beziehung zwischen Tolkien und P. Morgan gewidmet hat: »Gerade innerhalb des Oratoriums stoßen wir auf eine eminente Persönlichkeit, deren enge Beziehung zu den Autoritäten im Vatikan den Einfluss der Pastoralbotschaft Pius’ X. auf seine Anhänger stärken sollte. Hier ist die Rede von P. Denis Sheil, dem besten Freund, Vertrauten und Briefpartner des einflussreichen Kardinals Merry del Val y Zulueta, vatikanischer Staatssekretär und rechte Hand Pius’ X. Denis Sheil ist eben der Priester, der in einer verschlüsselten, im Sommer 1904 von Tolkien an Rednal geschriebenen Postkarte angeführt wird, wo er ihn schlicht und einfach P. Denis nennt.«

All das kam bei Tolkien zu einer prophetischen Gabe hinzu, die es ihm gestattete, viele Themen vorwegzunehmen, die im Lauf des II. Vatikanischen Konzils behandelt wurden und auch im nachkonziliären päpstlichen Lehramt, vor allem jenem des heiligen Paul VI. und von Papst Franziskus, präsent sind.

Der junge Ronald konnte also in der Schule des Oratoriums und im Schatten dieser drei Zeugen einer authentischen und katholischen Spiritualität zu jenem »Sub- bzw. Nebenschöpfer von Welten« werden, der es dem 20. Jahrhundert, einem historisch gesehen »kurzen Jahrhundert«, gestattete, ein vom literarischen Standpunkt aus »umfangreiches Jahrhundert« zu werden, in dem sich die Horizonte der Phantasie und der Einbildungskraft weit öffnen und mit dem Glauben an Christus und an einen unendlich barmherzigen Deus absconditus vereinen konnten, der fähig ist, zu vergeben und die vielen verächtlichen Gollums zu lieben, die es in unserer Welt und in Mittelerde gibt.

Von Ivano Sassanelli