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Architektur im Vatikan nach 1870

Architektonische Ideen mit Rücksicht auf die Gärten

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06. November 2020

Für die Geschichte der Urbanistik Roms ist der 20. September 1870 ein Datum, der weit über die Bresche in der Aurelianischen Stadtmauer hinausgeht. Die Annexion der Stadt durch das Königreich Italien und ihre Ausrufung zur Hauptstadt einige Monate später setzen eine Neuorganisation des gesamten städtischen Territoriums in Gang, und zwar sowohl diesseits als auch jenseits des Tiber. Denn der Vatikan muss nun auf seinem Gebiet Baulichkeiten für all jene Funktionen schaffen, die vorher in der Stadt verteilt waren. Die Leoninische Mauer bildet die Grenze eines Territoriums, das in den folgenden 150 Jahren all das aufnimmt, was für eine selbstständige und funktionierende Verwaltung notwendig ist. In den ersten Jahren erfolgen nur wenige, einzelne Maßnahmen, darunter die Wiedereröffnung des »Turms der Winde« mit neuen astronomischen Geräten (1891) und der befahrbare Tunnel zwischen dem Belvedere-Hof und den Vatikanischen Gärten, der auf Pius X. zurückgeht.

Umfassendere und bedeutende Bauarbeiten beginnen erst nach dem Konkordat von 1929. Sie betreffen einen Teil der Grünflächen, die den Petersdom und die bestehenden Gebäude im Vatikan umgeben, aber auch exterritoriale Flächen außerhalb des Vatikan. Auf Letzteren werden vor allem Bauten für das Gesundheitswesen und für Bildungseinrichtungen untergebracht. Das Kinderkrankenhaus »Bambino Gesù« zum Beispiel vergrößerte den ursprünglichen Baubestand (1869) an der Piazza Sant’Onofrio durch die Errichtung weiterer Krankenstationen (1912). Im Laufe der Zeit kamen zwei neue Standorte hinzu: Palidoro (1978) auf nicht-exterritorialem Gebiet und San Paolo (2012) auf dem Areal, das zur Basilika St. Paul vor den Mauern gehört. Auf dem exterritorialen Territorium beim Lateran, das die Basilika St. Johannes einschließt, wird kurz nach der Unterzeichnung des Konkordats der Gebäudekomplex der Päpstlichen Lateranuniversität errichtet (1932-37).

Die »modernen« Bautätigkeiten innerhalb der Vatikanstadt beginnen demnach erst in den 1930-er Jahren. In dieser Zeitspanne gibt es zwei für die Architektur bedeutsame Momente, die mit der jeweiligen Wahl eines Architekten durch den Papst in Zusammenhang stehen: Pius XI. entscheidet sich für Giuseppe Momo, Paul VI. für Pier Luigi Nervi. Die beiden Architekten sind ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Momo (1875-1940), »Architekt der Dombauhütte von St. Peter«, kann eine Berufserfahrung mit intensiver Tätigkeit vor allem im Piemont, seiner Herkunftsregion, vorweisen. Nervi (1891-1979), international bekannter Bauingenieur, bringt eine Erfahrung mit, die auch in Zusammenarbeit mit den größten Architekten jener Zeit herangereift ist.

Die von Pius XI., dem »Baupapst«, bei Momo in Auftrag gegebenen Arbeiten sind nie der Suche nach einem persönlichen, wiedererkennbaren Stil verpflichtet, sondern zielen eher auf konkrete Funktionalität und solide Konstruktion. Das Bild des »Modernismus« wird stets von der Bezugnahme auf die Tradition begleitet. Momo bringt seine Vorstellung von Architektur durch den Gebrauch verschiedener Stilelemente aus unterschiedlichen Inspirationsquellen zum Ausdruck, die er jedoch stets getrennt stehen lässt, ohne sie innerhalb eines Bauwerks miteinander zu vermischen. Das Governatoratsgebäude (»Palazzo del Governatorato«, 1931) war sicherlich formal und von der Größenordnung her die größte Herausforderung. Es gliedert sich in drei voneinander abgesetzte Baukörper, deren mittlerer zurücktritt, aber die anderen überragt. Dem Bau ist eine Treppe vorgelagert, die auf das erhöht liegende Niveau des Eingangs führt. Der symmetrischen Fassade mit ihrem regelmäßigen Fens­terrhythmus ist die Aufgabe anvertraut, einer geordneten internen Aufteilung Ausdruck zu verleihen, zugeschnitten auf ein geräumiges, gut beleuchtetes und belüftetes Arbeitsumfeld.

Eher in eklektizistische Richtung verweist der Vatikanbahnhof, ein nicht sehr großer Bau, dem ein enormer Pronaos mit zwei ionischen Säulen vorgelagert ist. Hier endet die kurze Bahnlinie, die den Vatikan mit dem nahegelegenen Bahnhof »St. Peter« verbindet. Der zwischen 1929 und 1932 errichtete Vatikanbahnhof wurde 1934 offiziell eröffnet und 1962 zum ersten Mal von einem Papst benutzt, als Johannes XXIII. mit dem Zug nach Loreto und Assisi fuhr. Gegenwärtig ist in dem Bau ein Verkaufsbereich untergebracht.

Momo erhält von Papst Pius XI. noch eine Reihe weiterer Aufträge: das Eingangstor »Porta Sant’Anna« (1931), Gerichtsgebäude und Postamt (1932), den »Palazzo delle Sacre Congregazioni Romane« in Trastevere (1936) sowie die bereits erwähnte Lateranuniversität. Sein interessantestes und als architektonische Erfindung bedeutendstes Projekt ist sicherlich der Turm mit der Doppelwendeltreppe des neuen Eingangs der Vatikanmuseen (1929-1932). Diese besteht aus zwei ineinander verschlungenen Rampen, so dass sich hinein- und hinausgehende Besucher nicht begegnen. Es entsteht ein dynamischer Innenraum, der von einem Oberlicht aus Glas erhellt wird, dessen tragende Teile eine achteckige Kuppel imitieren. Bei seinem Besuch lässt sich Frank Lloyd Wright von Raumkonzept und der Lichtkaskade von oben zu seinem Entwurf für das Guggenheim-Museum in New York (1943) inspirieren. Dort werden die Besucher auf einem kontinuierlich fließenden Weg zu den Kunstwerken geführt, ausgestellt in nur angedeuteten Räumen, die an die Umfassungsmauer angelehnt sind. Wright vervollständigt die Idee, indem er das Motiv der Wendeltreppe auch auf die Außenseite überträgt, wo es sich aufgrund der Originalität seiner Form und trotz der geringen Größe gegen die Wolkenkratzer der Fifth Avenue durchsetzen kann. Die von Momo entworfene Doppelrampe ist sicherlich eines der bekanntesten und meistfotografierten Motive von Romtouristen. Die Stadt Rom besitzt kein eigenes »universales Museum«, so bleibt den Vatikanmuseen der Auftrag erhalten, die Kunst aller Zeiten und aus aller Welt zu sammeln.

Paul VI. beauftragt 1964 Pier Luigi Nervi mit dem Entwurf einer Audienzhalle auf einem an das Stadtgebiet angrenzenden Areal südlich des Petersdoms. Die 1966 begonnenen Arbeiten werden 1971 abgeschlossen und die Halle kann benutzt werden. Sie trägt sowohl den Namen des Papstes als auch den ihres Architekten. Der Innenraum, der bis zu 10.000 Personen aufnehmen kann, wird nach oben durch eine parabelförmige Bedachung aus Stahlbetonträgern abgeschlossen. So kann ein sehr großer Raum entstehen, der vollkommen ohne innere Stützen auskommt. Der trapezförmige Grundriss richtet die Aufmerksamkeit der Anwesenden nach vorne, wo der Papst seinen Platz hat. Außerdem steigt der Boden des Raumes an, so dass man von jedem Punkt aus die gesamte Umgebung überblicken kann und die direkte Sicht auf den Papst für alle gewährleistet ist. Außerdem erblicken die Besucher vorne eine Orgel (1972), die allerdings meistens hinter einem Vorhang verborgen ist, und die »Auferstehung« von Pericle Fazzini (1975). Der für die Darstellung überschäumender Bewegung bekannte Künstler sagte über seine etwa 20 Meter breite, sieben Meter hohe und drei Meter tiefe Skulptur: »Ich wollte Christus so darstellen, als wäre er aus der Explosion dieses großen Olivenhains auferstanden, dieses friedvollen Ortes seines letzten Gebets. Aus diesem von der Atombombe geöffneten Krater ersteht Christus auf: eine überwältigende Explosion, ein Strudel von gewaltiger Kraft und Energie.«

Überblickt man die 150 Jahre der baulichen Maßnahmen innerhalb der Vatikanmauern, wird deutlich, dass die Aufmerksamkeit stets der Gestaltung des Ganzen galt. Neben der Qualität der Konstruktion, die immer gesichert ist, kann man ein allgemeines Projekt erkennen, das unter wechselnden Päpsten und Architekten fortgeführt wurde: Es betrifft die Erhaltung der Grünflächen, indem die Bauarbeiten so weit wie möglich auf die peripheren Teile, in der Nähe der Mauern, beschränkt wurden. Auch wenn umfassendere Eingriffe notwendig waren, um Räumlichkeiten für neue Funktionen zu schaffen, wurde es so möglich, die Gärten unangetastet zu lassen und ihren deutlich erkennbaren ursprünglichen Plan zu erhalten. Diesem Kriterium der Rücksichtnahme entsprechen die Eingriffe der unterirdischen Gebäudeerweiterungen: unterhalb des Cortile della Pigna, des Giardino Quadrato und des Bibliothekshofes.

Die Beziehung des Heiligen Stuhls zur Architektur kam im Jahr 2018 durch die erstmalige Teilnahme an der Architektur-Biennale in Venedig zum Ausdruck. Das Projekt bestand aus zehn Kapellen, die von zehn renommierten Architekten entworfen wurden. Sie wurden im Wald auf der Insel San Giorgio errichtet und verwirklichen architektonische Ideen an einem reizvollen Ort. Architekten und Besucher waren, unabhängig von ihrem Glauben, beeindruckt von diesem Umfeld des Friedens und der Abgeschiedenheit. Das Eintauchen in das Grün der Insel San Giorgio lenkt die Aufmerksamkeit auf diese Beziehung zwischen dem sakralen Gebäude und der natürlichen Situation, die eine respektvolle Haltung gegenüber der Umwelt zum Ausdruck bringt, wie man sie auch erleben kann, wenn man zu Fuß durch die Vatikanischen Gärten spaziert.

Von Mario Panizza