Eine Reise quer durch die Sammlungen der Manuskripte, gedruckten Bücher, Zeichnungen, Stiche, Münzen und Medaillen: das ist es, was der Terminkalender der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek jedes Jahr anbietet, mit den Abbildungen der dort gehüteten Schätze und einigen historischen Informationen über die Bibliothek und ihre Sammlungen. Die Reise folgt immer dem Konzept eines spezifischen Themas (2011 waren es die liturgischen Feste; 2012 die Fresken des Salone Sistino; 2013 Manuskripte klassischer Texte; 2014 Inkunabeln; 2016 die orientalischen Sammlungen; 2018 die Baudenkmäler des antiken Rom; 2019 Alphabete und Schriften). Eines Themas, das mitunter durch besondere Jahrestage oder Feiern (Dante im Jahr 2015; Giovanni Battista Piranesi 2020), aktuelle Themen und das Leben der Kirche (2017 die Schöpfung, um über die Enzyklika Laudato si’ nachzudenken) angeregt wurde. Der Terminkalender der Vatikanbibliothek ist nämlich nicht nur eine Galerie hübscher Bilder, sondern das Ergebnis einer Forschungsarbeit und der Ausarbeitung einer Route seitens der Herausgeber des Projekts.
Der Terminplaner kann seinen Nutzern also auch die Gelegenheit bieten, neue Wege der Forschung ausfindig zu machen, zu vernetzen und entdecken. Papst Franziskus’ Reflexion über die Frauen, die auf den ersten Seiten abgedruckt ist, kündigt das Thema für dieses Jahr an. Beim Durchblättern des Terminkalenders stößt man auf Darstellungen von Gesten, Blicken, Gefühlen, Texten von Frauen, die ihre Spuren in der Geschichte, der Kunst, der Literatur oder schlichtweg im alltäglichen Leben hinterlassen haben und deren Namen teils hochberühmt, teils völlig unbekannt sind. Die Suche der Bilder – die nur einige der vielen sind, die hätten in Betracht gezogen werden können – folgte einer Auswahl von Bibelzitaten über Frauengestalten, die die Heilsgeschichte bevölkern.
Ihre Abfolge entspricht jener der biblischen Bücher, denen sie entnommen sind. Die Zitate kommen mit den Illustrationen zusammen, um zwischen Texten und Bildern ein subtiles Spiel gegenseitiger Lockrufe zu weben, unterstützt durch dem Druck unterlegte figurative Details. Dadurch werden Brücken zwischen den biblischen, literarischen oder historischen Gestalten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Wirklichkeit und weiblichen Personifizierungen geschlagen (Gerechtigkeit und Friede, Nächstenliebe…).
Ganz bewusst wurden unterschiedliche Materialien, verschiedene Epochen und Kulturen betreffende ikonographische Typologien Seite an Seite gestellt, ein Spiegel der außerordentlichen Heterogenität und des grenzenlosen Reichtums des Menschheitserbes, das in der Vatikanbibliothek aufbewahrt wird und Tag für Tag auf unterschiedliche Art und Weise den Forschern aus aller Welt zur Verfügung gestellt wird.
Am Anfang steht die Schöpfung: Eva (Stampe I.164) und ihr gegenüber Philemon und Baucis (Stampe III.440), Symbol der vereinenden Liebe, die allem zugrunde liegt. Rebekka wird auf der Zeichnung und auf einer Münze, die die biblische Geschichte aufgreifen, als Frau am Brunnen (Cappon. 237, pt. A) dargestellt, während eine japanische Tänzerin (Vat. estr. -or. 32) an die Lobeschöre und Tänze der Frauen aus dem Exodus erinnern. Die Verheißung aus dem Buch Tobit, dass sich die Tränen in Freude verwandeln sollen, spricht auch das moderne Mädchen an, das entgeistert auf die Auswirkungen einer Naturkatastrophe schaut (Marangoni Stampe I V.1). Das Autograph der heiligen Teresia Benedicta vom Kreuz (Edith Stein, Autogr. Paolo VI 561) bildet den Hintergrund zur Geschichte der Ester, die für ihr Volk kämpft; auf der gegenüberliegenden Seite die Mutter, die in [Senecas] Rasendem Herkules (Hercules furens) versucht, ihre Kinder vor dem Angreifer zu schützen (Ott. lat. 1420). Von weiblicher Hand stammen die Seidenstickereien der auf den Ostertag abgestimmten Einbände, die auf den Durchgang von der Passion zum neuen Leben verweisen bzw. mit dem Profil des Kreuzes (Stamp. Ross. 7253) oder mit einer hell leuchtenden Blumenkomposition versehen sind (Stamp. Barb. TTT. II. 5). Das Hohelied bringt die Liebe aller Zeiten und aller Völker zum Ausdruck. Die Zitate dieses Buches werden mit Liebenden der klassischen Mythologie assoziiert, wie etwa Hero und Leander in Ovids Heroides (Ross. 893), die zwar zueinander streben, auf dem Blatt aber durch den Schriftspiegel getrennt sind wie in ihrer Geschichte durch das Meer, und Dido, die während ihrer Verzweiflungstat porträtiert ist (Ashby Disegni 933); die Liebesgeschichte von Bayâd und Riyâd (Vat. ar. 368) und die Hochzeit einer ungarischen Prinzessin in Konstantinopel (Vat. gr. 1851). Ein Widerhall der Weisheit und des Wissensdurstes, die die Lehr- bzw. Weisheitsbücher durchziehen, findet sich in einigen Frauen der Geschichte (Mathilde von Canossa, Vat. lat. 4922, und Königin Christine von Schweden, Vat. lat. 8171, Md. Uom. III. Cristina di Svezia, 22, und Pont. Alexander VIII, 46); die Verheißung eines Landes, das nicht länger »verwüstet« noch »verlassen« wird, klingt nach in den Geschichten über Wunden, die Frauen unterschiedlicher Zeiten und Epochen erlitten haben (Stamp. Barb. P. IX. 4). Außer Maria, der Frau par excellence, ziehen entsprechend den Zitaten aus dem Neuen Testament die vielen Protagonistinnen der Begegnungen mit Jesus vorüber, die Frauen, die sich ihm nähern und Bitten an ihn richten, die sich seiner annehmen und sich heilen und bis ins Innerste transformieren lassen: die Künstler haben diesen Episoden Gesten und sprechende Blicke entlehnt. Auch hier finden sich außer wörtlichen Illustrationen der Worte des Evangeliums Beispiele, die durch die Literatur wandern: so haben wir neben der Ehebrecherin (Vat. lat. 39) etwa die Hetäre Bacchis aus der Hecyra des Terenz (Vat. lat. 3868), einer innovativen Komödie, die sich dadurch auszeichnet, dass ihre Protagonisten gerade keine Stereotypen sind und die zu ihrer Zeit beim Publikum auf wenig Gegenliebe stieß. Der Darstellung der Wunder in einem syrischen Kodex (Vat. sir. 559), bei denen Jesus ein Mädchen (die Tochter des Jaïrus) bei der Hand nimmt und von einer Frau (der Blutflüssigen) berührt wird, steht die Hand gegenüber, die in der Zeichensprache für Taubstumme das Vehikel der Kommunikation ist und die auf dem Frontispiz eines im 18. Jahrhundert gedruckten Handbuchs abgebildet ist (Stamp. Ross. 7802). Im Zusammenhang mit den Zitaten aus den Paulusbriefen sticht die Frau unserer Zeit hervor, die die Nächstenliebe in konkrete und revolutionäre Aktion übersetzt hat: die heilige Teresa von Kalkutta in einem Porträt einer zeitgenössischen Künstlerin (Moede Jansen, Disegni 211A).
Die Präsenz der Frau tritt auch in der Reproduktion der Texte einiger Autorinnen zutage: so beispielsweise gleich auf den ersten Seiten zwei Blätter einer Handschrift von La Cité des Dames aus der Feder der Christine de Pizan (Pal. lat. 1966), einer Intellektuellen und hauptberuflichen Schriftstellerin, die an der Schwelle vom 14. zum 15. Jahrhundert in Italien und Frankreich lebte.
Weiter hinten eine von weiblicher Hand geschriebene und verzierte Handschrift, die den Viten weiblicher Heiliger gewidmet ist (Ross. 941). Sodann auch die Arbeiten der Kopistinnen, die Rolle der Widmungsträgerinnen, die Bilder der Kataloge ihrer Büchersammlungen. Auf den letzten Seiten sind Beispiele für Autographen von Unterzeichnungen, Widmungen, Unterschriften, Kolophone, Besitzvermerke, persönlich gestaltete Einbände mit den Namenszeichen einer Königin (Vat. lat. 14936) oder dem Namen der ancilla Dei (Gottesmagd), die den Band in Auftrag gegeben hatte (S. Maria in Via Lata I. 45), gesammelt, als lebendige Zeugen der Verbindung zwischen den Frauen und den Büchern in der Geschichte: in erster Linie Maria, dargestellt mit einem offenen Buch gerade in dem Augenblick, in dem sie Mutter wird.
Der für den Terminkalender gewählte Einband scheint nicht gleich auf den ersten Blick auf die Welt der Frau zu verweisen, insofern er nur diskret darauf anspielt: die Verbindung offenbart sich erst nach aufmerksamer Betrachtung. Der auch auf dem mit Anmerkungen versehenen Vorsatz- bzw. Anpappblatt getreu reproduzierte Einband besteht, wie in Bibliotheken so oft der Fall, aus dem wiederverwandten Blatt einer Handschrift, das zuvor als Einband eines Druckwerkes, einer in volkstümlichem Italienisch gehaltenen, mit Holzschnitten der Protagonistinnen versehenen Ausgabe von Giovanni Boccaccios De mulieribis claris (1506), benutzt worden war (R.G. Lett. It. IV. 1060). Bei dem Blatt handelt es sich um ein Psalter-Fragment: da sind unter anderem auch Vertrauenskundgebungen »vom Mutterleib an« (Ps 71,6) zu lesen.
Beatrice kommt es zu, den Terminkalender zu eröffnen und beschließen (Barb. lat. 4112; R. G. Lett. It. I. 49[2]): ein Verweis auf die Dante-Feiern des Jahres 2021. Beatrice mit Dante: Der Terminkalender ist den Frauen in jener Wirklichkeit gewidmet, die ihnen am meisten zu eigen ist, jener des Dialogs, der Beziehung und der Kommunikation, deren höchster Ausdruck das Buch ist. Da kommen die Worte eines bekannten Liedes in den Sinn (Fabrizio De André, Ave Maria, in: La Buona Novella, 1970), »femmine un giorno e poi madri per sempre« [Frauen für einen Tag, und dann für immer Mütter]: Mütter des Lebens, das sie geschenkt haben, die Mütter von Texten, von Entdeckungen, von Projekten.
Von Claudia Montuschi