Die Frau und das Buch
Wir veröffentlichen den Einleitungstext des Kardinalbibliothekars der Heiligen Römischen Kirche zum Terminkalender der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek für 2021, der als Veröffentlichung der Reihe »Jahresplaner der Vatikanbibliothek« dem Thema »Die Frau und das Buch« gewidmet ist. Neben Claudia Montuschi, die die Veröffentlichung auch hier vorstellt, haben an dem Projekt Ambrogio M. Piazzoni, Simona De Crescenzo, der Präfekt, Msgr. Cesare Pasini, und der Vizepräfekt, Timothy Janz, mitgewirkt. Der Terminkalender ist im Großformat (26 x 18 cm, Euro 20) und im Kleinformat (17 x 12 cm, Euro 14) erhältlich.
Die Frau und die Bücher. Die Frau als Erbauerin und Hüterin von Bibliotheken im Lauf der Zeit. Die Präsenz der Frau in den literarischen und ikonographischen Schätzen der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek. Will man sich mit diesen Themen auseinandersetzen, so muss man vielleicht bis zum Kommentar des heiligen Ambrosius über die Verkündigungsszene zurückgehen, wo er erklärt, dass es sich für Maria in ihrem Gespräch mit dem Erzengel als nützlich erwiesen habe, zuvor den Propheten Jesaja gelesen zu haben, insbesondere jenen Abschnitt, wo es heißt, dass eine Jungfrau einen Sohn gebären werde (7,14). Legerat hoc Maria, versichert die maßgebliche Stimme des Ambrosius.
Auf diese Art und Weise präsentierte er der künstlerischen Vorstellungskraft des Westens das, was künftig eines der kuriosesten und konstantesten Elemente bei der Darstellung des Geheimnisses der Menschwerdung werden sollte: die Präsenz eines Buches in den Händen der Mutter Christi.
Die erste Darstellung Mariae cum libro stammt aus dem 9. Jahrhundert, eine mittelalterliche Neuerung, die die Renaissance nicht nur übernehmen und erweitern sollte, sondern die der Moderne auch ein sicheres Erbe hinterlassen sollte: die des Lesen kundige Jungfrau Maria, die geschickt mit den Texten umzugehen weiß und sich nicht etwa mit den Arbeitsutensilien des häuslichen Lebens in dem Bauerndorf Nazaret darstellen lässt, sondern vielmehr mit dem, was zu einem Werkzeug der Befruchtung werden sollte, die das Christentum im Lauf der Zeit anbieten sollte: der Bibliothek. In einer feinsinnigen Untersuchung (Cosa leggeva la Madonna? Quasi un romanzo per immagini, Polistampa, 2019) entdeckt Michele Feo überraschenderweise über vierzig verschiedene Texte, in deren Lektüre Maria vertieft ist. Dabei ist es nicht wichtig, welches Buch Maria im entscheidenden Augenblick der Verkündigung gerade las. Wichtig ist vielmehr, zu erfassen, dass das Buch in dieser Szene bereits die Funktion hat, eine geistliche Erfahrung zu begünstigen: eine Erfahrung des Hörens und der Erkenntnis, die die Welt neu konfiguriert. Angefangen bei der inneren Welt eines jeden Lesers, einer jeden Leserin.
Es ist unmöglich, die Geschichte der Bibliothek der Päpste darzustellen, ohne den Beitrag ins rechte Licht zu rücken, den die Frauen beigesteuert haben: Autorinnen, Künstlerinnen, Theologinnen, Protagonistinnen des kirchlichen Lebens, Mäzeninnen, schöpferisch tätige Frauen, Frauen der Wissenschaft und der Kultur. Und das gilt bis in die heutige Zeit. Man denke nur etwa daran, dass weit über die Hälfte der Arbeitsgemeinschaft, die die Vatikanische Apostolische Bibliothek funktionieren lässt, aus Frauen besteht.
Von José Tolentino de Mendonça