»Kalòs kìndynos« lautete ein Motto der antiken griechischen Weisheit: »Ein schönes Wagnis«, oder die Gefahr ist schön, das Risiko ist schön… Auf seine Art hat Papst Franziskus diese Worte am Welttag der Armen auch in seiner Auslegung des Gleichnisses von den Talenten wiederholt: »Im Evangelium werden diejenigen als gute Diener bezeichnet, die etwas riskieren. Sie sind nicht vorsichtig und zurückhaltend, sie bewahren nicht auf, was sie erhalten haben, sondern sie setzen es ein. Denn ein Gut, das nicht investiert wird, geht verloren, und die Bedeutung unseres Lebens hängt nicht davon ab, wie viel wir beiseitelegen, sondern davon, wie viel Frucht wir bringen. Wie viele Menschen verbringen ihr Leben nur damit, Besitz anzuhäufen. Sie sind darauf bedacht, dass es ihnen gut geht, anstatt dass sie Gutes tun. Aber wie leer ist solch ein Leben, das Bedürfnissen nachjagt, ohne auf die Bedürftigen zu schauen! Wenn wir über Gaben verfügen, dann nur darum, dass wir eine Gabe für die anderen sind. […] Riskieren: Es gibt keine Treue ohne Risiko. Gott treu zu sein bedeutet sein Leben hinzugeben.«
»Kalòs kìndynos« also. Aber von der Antike bis heute hat sich etwas getan auf dem gewundenen Weg des Denkens, sowohl des »hohen« philosophischen als auch der »niedrigeren« Ebene dessen, was allgemeine Überzeugung ist. Tatsache ist, dass in der heutigen Zeit das erfolgreiche »Dogma« eher lautet: Sicherheit und Gewissheit. Davon ist auch im Thessalonicherbrief des heiligen Paulus die Rede, den der Papst zitierte: »Während die Menschen sagen: Friede und Sicherheit!, kommt plötzlich Verderben über sie wie die Wehen über eine schwangere Frau und es gibt kein Entrinnen.«
Der biblische Text und der Papst warnen vor dieser illusorischen Haltung, die im Namen einer beruhigenden Sicherheit vor dem Nervenkitzel des Risikos zurückweicht. Aber da ist nichts zu machen: Im florierenden, sicheren und gesunden Westen der Nachkriegszeit setzt das dominierende Einheitsdenken Wahrheit mit Gewissheit gleich, weshalb die wissenschaftliche Dimension die einzige ist, die das Recht hat, sich »wahr« zu nennen. Wer mit Schulklassen zu tun hat, kann schon nach wenigen Tagen eine einfache Feststellung machen: Für die junge Generation ist »wahr« gleich sicher, gewiss, beweisbar, reproduzierbar. Deshalb löst sich auch der Begriff des »Gerechtseins« auf und vermischt sich unweigerlich mit dem des »Korrekten«, oder schlimmer noch, des »Legalen«. Den Legalismus derer, die Sicherheit suchen, um Risiken zu vermeiden, gab es schon zur Zeit Jesu. Und noch heute kann diese Haltung unter den Christen Fuß fassen. Auch deshalb hat der Papst in seiner Predigt vor der Versuchung gewarnt, »in die Defensive« zu gehen, indem man »sich nur an die Einhaltung der Regeln und die Befolgung der Gebote klammert. Jene ›maßvollen‹ Christen, die nie die Regeln übertreten, nie, weil sie Angst vor dem Risiko haben. Und diese, gestattet mir das Bild, diese, die sich so um sich selbst sorgen, um bloß nichts zu riskieren, diese beginnen schon im Leben einen Prozess der Seelenmumifizierung und enden als Mumien. Das reicht nicht, es reicht nicht, die Regeln zu beachten. Die Treue zu Jesus erschöpft sich nicht darin, keine Fehler zu machen.«
Aber es hat zumindest den Anschein, dass das herrschende Denken genau das meint: wahr ist gleich sicher. Ein Denken, das von diesem verkürzten Wahrheitsbegriff abrücken will, wird nur schwer größere Verbreitung finden. Ein italienisches Beispiel dafür ist Prof. Silvano Petrosino von der Katholischen Universität Mailand. Für ihn ist der Wahrheitsbegriff der antiken und insbesondere der biblischen Weisheit sehr viel weiter gefasst. Wahrheit wird nicht mit Gewissheit gleichgesetzt, sondern mit Fruchtbarkeit (was nicht dasselbe ist wie Fertilität). Und es ist gerade das Gleichnis von den Talenten, das dies deutlich macht. Der »schlechte« Diener fürchtet das Risiko, die Unsicherheiten des Marktes und klammert sich an die einzige Sicherheit, die zu haben er glaubt, jenes eine Talent, das ihm vom Herrn anvertraut wurde (das er ihm gegeben hat, indem er es in ihn investiert hat). Und seine »Nicht-Entscheidung« wird unweigerlich unfruchtbar bleiben, während die anderen die wahren treuen Diener sind, weil sie sich eingebracht haben und mit Mut und Freiheit ihre Rolle gespielt haben, was sich als fruchtbar erwiesen hat.
Dieses Gleichnis hat, wie die anderen Gleichnisse im Evangelium, gerade heute viel zu sagen, »in diesen Zeiten voll Unsicherheit, in diesen zerbrechlichen Zeiten«, wie sie der Papst in seiner Predigt genannt hat. Wenn wir auf unsere Zeit blicken, sehen wir eine Gesellschaft, die bis ins Mark erschüttert ist, weil alle Sicherheiten zusammengebrochen sind. Die Pandemie stürzt alle Arten von Gewissheit in eine Krise, auch die wissenschaftliche Gewissheit. Wenn wir beharrlich nach Gewissheiten suchen, besteht die Gefahr, verrückt zu werden.
Auch die Medien, die uns mit Daten und Statistiken bombardieren, spiegeln in dieser Hinsicht die allgemeine Fassungs- und Orientierungslosigkeit wider. Vielleicht, weil wir unsere Vorstellung von Wahrheit, von dem, was wirklich verlässlich ist, überdenken sollten. Vielleicht sollten wir denken, dass dieses »Verderben«, das uns plötzlich getroffen hat, in Wirklichkeit fruchtbar ist, weil es den »Wehen« einer schwangeren Frau ähnelt und es deshalb in sich selbst einen paradoxen Weg des Wachstums und der Erlösung birgt. Aber um das zu verstehen, müssen wir in Vorstellungskraft und Kreativität investieren und auch das Risiko eingehen, unsere eigenen Lebensregeln zu ändern, an denen wir zu sehr hängen, so wie an dem einen Talent, das wir letztendlich zum Götzen machen, indem wir es wie eine Mumie in der Erde konservieren.