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Teodolfo Kardinal Mertel (1806-1899)

Der Letzte seines Standes

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20. November 2020

Dass es unter den Kardinälen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts »echte« Diakone gab, ist zumeist unbekannt. Der letzte Purpurträger, der nur die Weihe zum Diakon empfangen hatte, war der Abkömmling einer deutsch-italienischen Familie gewesen: Teodolfo Mertel (1806-1899).

Geboren wurde Teodolfo Giovanni Antonio Mertel am 6. Februar (nach anderen Angaben am 9. Februar) des Jahres 1806 in Allumiere bei Civitavecchia. Sein Vater Isidor, ein gelernter Bäcker, war 1802 aus Eglfing in Bayern nach Allumiere ausgewandert und hatte in dem kleinen Städtchen des Tolfa-Gebirges eine Einheimische geheiratet. Bekannt war der in der Region Latium gelegene Ort durch sein reiches Alaunvorkommen, das in einer beträchtlichen Zahl von Gruben abgebaut wurde (das italienische Wort für »Alaungruben« ist »allumiere«). Isidor Mertel und seine Familie erlangten durch diese Industrie einen gewissen Wohlstand.

Schon in der Pfarrschule der Kapuziner zeigte sich der herausragende Intellekt Teodolfo Mertels, so dass der begabte Junge in das Seminar von Montefiascone geschickt wurde, wo er mit Bravour die klassischen Studien abschloss. Zum Studium der Rechte begab er sich dann nach Rom. An der »Sapienza«-Universität promovierte er zweiundzwanzigjährig am 16. Juli des Jahres 1828 »in utroque iure«, im weltlichen und kirchlichen Recht. Schon nach wenigen Jahren der Praxis bei einem bekannten Advokaten hatte der Name des jungen Doktors einen guten Klang in den Gerichtssälen der Ewigen Stadt. Aufgrund seiner Fähigkeiten und seines sozialen Engagements wurde er Präfekt der »Congregazione di S. Ivo«, eines römischen Institutes, das die unentgeltliche anwaltliche Vertretung und Verteidigung Mittelloser übernahm.

Monsignore Giacomo Antonelli, der damalige Unterstaatssekretär des Papstes und spätere Kardinalstaatssekretär, wurde auf den begabten Juristen aufmerksam und freundete sich sogar mit ihm an. Von Antonelli gefördert, schlug Teodolfo Mertel eine vielversprechende Karriere an der Römischen Kurie ein. Am 29. August 1843 wurde er zum Prälaten-Referendar der Apostolischen Signatur ernannt, ein Jahr später stieg er zum Votanten (stimmberechtigter Richter) der Signatur auf, 1847 erfolgte die Berufung zum Auditor (Richter) der Sacra Romana Rota.

In all diesen Ämtern bewies Monsignore Mertel soviel Gewandtheit und Klugheit, dass ihn Pius IX. (Giovanni Maria Mastai-Ferretti, 1846-1878) in die Kommission für die politischen Reformen berief, die er zu Beginn seines Regierungsantrittes errichtet hatte. 1848 wurde ganz Europa durch Revolutionen erschüttert. Auch in Rom schien ein Umsturz unmittelbar bevorzustehen. Um dem entgegenzuwirken, sah sich Pius IX. gezwungen, dem immer lauter werdenden Ruf nach einer Verfassung zu entsprechen. Der Papst sah in Mertel den geeigneten Mann, ein für alle akzeptables »Statuto« zu schaffen. Zur Ausarbeitung der 69 Artikel wurden dem Prälaten nur 36 Stunden (!) zur Verfügung gestellt. Teodolfo Mertel gelang das Unmögliche. Obwohl sie für damalige Verhältnisse als liberal galt, konnte sie die Revolution im weltlichen Herrschaftsgebiet des Papstes und die dadurch erzwungene Flucht des Papstes in das Königreich Neapel nicht verhindern.

Als der Heilige Vater seine weltliche Herrschaft mit der Unterstützung eines französischen Expeditionskorps wiedergewann, ernannte er Monsignore Mertel zum Konsultor der Kommission, die er während seiner Abwesenheit mit der Regierung der Päpstlichen Staaten betraut hatte. Nach der Rückkehr des Papstes wurde der Prälat zunächst Minister ohne Portefeuille (Juni 1850 – März 1853), dann Minister des Innern und der Justiz (März 1853 – März 1858). Gemeinsam mit Monsignore François Xavier de Merode arbeitete er äußerst erfolgreich an der Verbesserung der Gerichtsverfahren und der Strafprozessordnung in den Päpstlichen Staaten.

Im Konsistorium vom 15. März 1858 berief ihn Papst Pius IX. in das Kardinalskollegium und übertrug ihm die Diakonie des heiligen Eustachius. Wie ein Großteil der Prälaten, die in der Verwaltung der Kirche und der Päpstlichen Staaten wirkten, so hatte auch Teodolfo Mertel nie die höheren Weihen eines Klerikers erhalten. Da die Erhebung zum Kardinal aber zumindest den Empfang der Weihe zum Diakon erforderte, wurde ihm diese am 16. Mai des Jahres in Castel Gandolfo, der Sommerresidenz der Päpste in den Albaner Bergen, von Pius IX. persönlich erteilt (die Weihe zum Subdiakon hatte er schon unmittelbar nach seiner Kreierung erhalten).

Noch im gleichen Jahr ernannte ihn der Papst wiederum zum Minister ohne Portefeuille und beauftragte ihn mit der Sorge um die Anstalten für Taubstumme und Behinderte – soziale Einrichtungen, die dem Heiligen Vater besonders am Herzen lagen und deren Errichtung in den Päpstlichen Staaten Pius IX. schon mit Beginn seines Pontifikates energisch betrieben hatte. 1861 wurde Kardinal Mertel zum Präfekten der Kongregation der Spolien ernannt; von 1863 bis 1871 war er zudem Präfekt des Staatsrates. Der Apostolischen Signatur stand er seit 1877 vor.

Zur Zeit der Sedisvakanz des Jahres 1878 war Teodolfo Mertel der ranghöchste der Kardinaldiakone, der Kardinalprotodiakon der Kirche. Ihm kam daher das alte Vorrecht und die ehrenvolle Aufgabe zu, den Gläubigen die Wahl und den Namen des neuen Papstes zu verkünden (20. Februar) und das Oberhaupt der Kirche mit der dreifachen Papstkrone, der Tiara, zu krönen (3. März).

Unter Papst Leo XIII. (Gioacchino Pecci, 1878-1903) stieg Teodolfo Mertel in die einflussreiche und exklusive Klasse der Palatinkardinäle auf, zunächst als Sekretär der Memorialien (1878), dann ein Jahr später als Sekretär der Apostolischen Breven. Im Konsistorium von 1881 optierte er auf die Diakonie Santa Maria in Via Lata. Von 1884 bis zu seinem Tod im Jahre 1899 bekleidete er das Amt des Vizekanzlers der Heiligen Römischen Kirche. Seine Diakonie von Santa Maria in Via Lata tauschte er mit der Titelkirche S. Lorenzo in Damaso, die traditionsgemäß dem Vizekanzler zustand und »pro illa vice – für jenes eine Mal« –den Status einer Diakonie erhielt – die Ironie der Geschichte wollte es, dass unweit dieses Gotteshauses am 15. November 1848 Graf Pellegrino Rossi, der erste der nach der vom ihm erarbeiteten Verfassung ernannte Ministerpräsident des Kirchenstaates, von Revolutionären ermordet worden war und später in der genannten Basilika seine Grabstätte erhielt.

Teodolfo Mertel hatte sich neben den Arbeiten seines Berufs stets mit anderweitigen Studien beschäftigt und darin eine Erholung gesucht. Durch den Broterwerb seines Vaters und seinen Geburtsort angeregt, war er auf dem Gebiet der Geologie sehr bewandert und besaß eine Mineraliensammlung von hohem Wert. Besonderes Interesse zeigte er für historische Studien – schon in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts hatte er anonym zwei grundlegende Werke über seine Heimatstadt verfasst (»Le memorie storiche sull’Allumiere« und »Cenni istorici sulle miniere delle Allumiere«). Die Entdeckungen De Rossis in den römischen Katakomben verfolgte er mit großer Anteilnahme. Selbst in hohem Alter fehlte er selten in den Sitzungen des archäologischen Vereins, der seine Versammlungen allmonatlich im Palazzo della Cancelleria, in dem sich auch die Amtswohnung des Kardinals befand, abhielt. »Kardinal Theodulf Mertel ist der ehrwürdige Greis, der bei allen Feierlichkeiten im Vatikan und ebenso bei den gern von ihm besuchten wissenschaftlichen Sitzungen der Akademien auffällt, weil er wegen teilweiser Lähmung von seinem Sekretär und seinem Kammerdiener beim Gehen gestützt werden muss«, schrieb Pius Maria Baumgarten in seinem Buch »Die katholische Kirche unserer Zeit und ihre Diener in Wort und Bild« (Bd.1, Wien 1899).

Es war üblich, dass die in Rom weilenden Gesandten fremder Mächte mit Blick auf ein kommendes Konklave ihren Souveränen und Regierungen in bestimmten Abständen Rapporte zukommen ließen, die diesen einen umfassenden Einblick in das Kardinalskollegium geben sollten, das heißt das wahrscheinliche Wahlverhalten der Purpurträger beschrieben und ihre jeweiligen Chancen auf die Nachfolge des heiligen Petrus erläuterten.

In einem Geheimbericht der preußischen Gesandtschaft beim Quirinal hieß es zu Kardinal Mertel: »Allgemein geachtet. Hat den Ruf eines gediegenen Rechtsgelehrten. Ist in weltlichen Dingen bewanderter als die Mehrzahl der übrigen Cardinäle. Soll im allgemeinen von gemäßigter Gesinnung sein.« Als einziger Kritikpunkt wurde angemerkt: »Stottert im Reden, seine Sprache ist nur schwer verständlich.«

Freiherr Anton von Cetto, der bayerische Gesandte am Heiligen Stuhl, bezeichnete den Kardinal in seinem »Tableau des Cardinaux« als »für juristische Dinge sehr befähigt« und hielt ihn, wohl auf Grund seiner Urheberschaft der Verfassung von 1848, für »liberal« und von »modernen Anschauungen«.

Im letzten Jahrzehnt seines Lebens verbrachte der Kardinal immer mehr Zeit in seiner Heimatstadt, der er sich stets eng verbunden gefühlt hatte – die dortige Armenfürsorge war von ihm großzügig unterstützt worden; vielen Pries­teramtskandidaten, die über keine eigenen finanziellen Mittel verfügten, hatte er das Studium ermöglicht. Teodolfo Mertel verstarb am 11. Juli des Jahres 1899, fast völlig erblindet, in Allumiere. Die sterblichen Überreste des bei der Bevölkerung hochgeachteten Purpurträgers wurden in der Pfarrkirche aufgebahrt und dann in der Familiengruft nahe der Wallfahrtskirche der »Madonna delle Grazie al Monte« beigesetzt.

Mit Teodolfo Mertel starb der letzte Purpurträger, der keine höhere Weihe empfangen hatte als die eines Diakons. Dass es im Kardinalskollegium Kleriker gab, die »nur« Diakone waren, empfand man in alten Zeiten nicht als Mangel oder Makel, zumal es unter diesen herausragende, die Kirche prägende Männer gab – für das 19. Jahrhundert seien vor allem die Kardinalstaatssekretäre Ercole Consalvi (1757-1824) und Giacomo Antonelli (1806-1876) genannt.

Von Ulrich Nersinger