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Fratelli tutti, selbst die »Überzähligen«

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13. Oktober 2020

Der Text der Enzyklika Fratelli tutti, Papst Franziskus’ dritter Enzyklika, die am 4. Oktober veröffentlicht wurde, hat wie vorhersehbar eine Reihe verschiedener, sehr unterschiedlicher Reaktionen ausgelöst. Darunter gibt es auch eine Nachricht aus Übersee, die man weniger als eine »Reaktion« denn vielmehr als ein Symptom dessen definieren könnte, wie groß das heutige Bedürfnis danach ist, die eigentliche Bedeutung der Geschwisterschaft auch in ihrem engsten, wörtlichsten Sinne wiederzuentdecken. Wir haben es dabei mit einer Werbekampagne zu tun, die dieser Tage längs der Straßen und an den Hauswänden in Kanada und in den Vereinigten Staaten zu sehen ist und die eine Mentalität, eine Weltsicht zeigt, die von der Abschottung geprägt ist. Diese ist eine Folge der Angst vor dem Andersartigen und dem Mangel an Vertrauen, die der Text des Papstes dem Titel des vierten Kapitels von Fratelli tutti zufolge mit »einem offenen Herzen für die ganze Welt« zu überwinden einlädt. Das Thema, mit dem sich die Kampagne der Vereinigung OnePlanetOneChild auseinandersetzt, ist eben jenes der Geschwisterschaft, das in ganz simplen Begriffen betrachtet wird (im Übrigen besteht das Ziel der Werbung darin, mit einer einzigen Botschaft herüberzukommen). Das Plakat, von dem die Rede ist, zeigt ein Gesicht, jenes eines hübschen schwarzen Kindes mit aufgerissenen Mund und Augen, und darunter steht in großen Lettern ein klarer und einfacher Satz: »Die größte Liebesgabe, die du deinem erstgeborenen Kinde geben kannst, ist die, keine weiteren Kinder zu haben«. Es kann keinen größeren Gegensatz als diesen geben: Wo der Papst »Fratelli tutti« sagt, da antwortet die Vereinigung »Ein-Planet-von-Einzelkindern« mit »bloß kein Geschwisterchen«, denn zwei sind bereits zu viele. Kain hat gewonnen.

Unter der Nummer 9 der Enzyklika bekräftigt der Papst, dass »der Geburtenrückgang, der zu einer Alterung der Bevölkerung führt, und die Tatsache, dass die älteren Menschen einer schmerzlichen Einsamkeit überlassen werden, […] implizit zum Ausdruck [bringen], dass alles mit uns vorbei sein wird, wo nur unsere individuellen Interessen zählen«, und dann zitiert er eine bittere Reflexion, die er in der Ansprache beim Neujahrsempfang für die Mitglieder des beim Heiligen Stuhl akkreditierten diplomatischen Korps am 13. Januar 2014 ausgesprochen hatte: »Leider werden heute nicht nur Nahrung und überflüssige Güter zu Abfall, sondern oft werden sogar die Menschen ›weggeworfen‹«. Es gibt also »überzählige« Kinder, jene, die anders sind und weniger Glück haben als die »geplanten Kinder«: ein weiteres Plakat derselben Vereinigung zeigt ein fröhlich auf dem Boden sitzendes, sich an die Hauswand lehnendes Brautpaar, das noch seine Hochzeitsgarderobe trägt, und daneben steht in Großbuchstaben der Schriftzug »We’re planning ONE«, »Wir planen EINES«. Das Kind als Laborerzeugnis, das der Logik des »gleich beim ersten Mal im Kasten« folgt, das auch das letzte Mal ist.

Im Feld stehen sich zwei diametral entgegengesetzte Sichten des Menschen und des Lebens gegenüber, jene des »Produkts« und jene des »Geschenks«, die beide um das in diesem Punkt heikle Thema der Liebe kreisen und die Frage aufwerfen, welches die größte Liebe sei. Für die kreativen Werbetexter lautet die zu vermittelnde Botschaft, dass die größte Liebe sich in negativen Begriffen ausdrücke, darin, etwas NICHT zu tun, kein (weiteres) Kind zu zeugen, eben weil es ein »weiteres« und folglich »überzähliges« Kind wäre. Für die Christen hingegen gilt das genaue Gegenteil, nämlich dass die Liebe positiv, überschwänglich, inklusiv und generativ ist und eine enge Bindung zum Leben hat, das nicht als zu vermeidendes »Risiko« verstanden wird, sondern vielmehr als ein Lauf, der durch die Kraft eines in Umlauf zu bringenden überbordenden Geschenks angespornt wird: »Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt« (Joh 15,13).

Von Andrea Monda