Verschiedene Blicke

Die Entscheidung Angelas, einer Vorkämpferin der Emanzipation

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01. Oktober 2020

Auf dem zentralen Platz von Desenzano am Gardasee, der einen malerischen kleinen Fischerhafen überschaut, thront auf der Spitze eines hohen Sockels eine Statue der heiligen Angela Merici, Gründerin der Gesellschaft der heiligen Ursula, des Ursulinenordens. Sie wurde 1474 geboren und starb 1540 im Alter von 66 Jahren (ein für eine Frau jener Zeit hohes Alter), und wurde fast dreihundert Jahre später, nämlich 1807, heiliggesprochen. Wenig mehr als dreißig Jahre vor dem Ende ihres Heiligsprechungsverfahrens hatte der aus Brescia stammende Gelfino Calegari »im Auftrag ihrer Mitbürger«, wie auf dem Postament des Denkmals eingemeißelt steht, eine Marmorskulptur der künftigen Heiligen angefertigt, wobei er sich des typischen Stilelements eines zum Himmel gewandten Blicks und der schlichten, einfachen Kleidung eines auf Wanderschaft befindlichen Menschen bediente.

Angela war die Tochter einer Bauernfamilie, die in einem armseligen Bauernhaus des Ortes Le Grezze in unmittelbarer Umgebung der bedeutenden Benediktinerabtei Maguzzano lebte, die allerdings wenige Jahre zuvor von den Truppen der Visconti zerstört worden war und erst 1492 wieder aufgebaut wurde, als Angela bereits seit Kurzem bei einem einigermaßen wohlhabenden Onkel in Salò lebte, gleichfalls am Gardasee. Die Nähe zu einem der wichtigsten Klöster Norditaliens hatte seit Jahrhunderten zur Frömmigkeit der Bewohner Desenzanos beigetragen, weshalb Angela, als sie heranwuchs, allabendlich den Erzählungen über die Leben der Heiligen zuhörte, darunter wahrscheinlich auch jenes der heiligen Ursula. Ursula, eine legendäre Frauengestalt des frühen Mittelalters, war die Tochter eines katholischen Königs der Bretonen und wurde von den Hunnen in Köln ermordet, als sie auf der Flucht vor einer arrangierten Ehe in Gesellschaft ihrer Gefährtinnen, 1000 Jungfrauen, die sie in der Wahrheit des Glaubens unterrichtet hatte, von einer Pilgerfahrt nach Rom zurückkehrte. Praktisch eine selbstbewusste und unabhängige Frau, eine Aktivistin, eine charismatische Persönlichkeit, die sich dem Unterrichten und der Schwesternschaft widmete.

Aber zurück zur jungen Angela. Wie es zu jener Zeit zu geschehen pflegte, wurden die Familien durch Krankheiten dezimiert, und tatsächlich starben innerhalb weniger Jahre der Vater, die Mutter und die vier älteren Geschwister, weshalb Angela und ihre überlebende Schwester 1492 von Desenzano in das wenige Kilometer entfernte Salò zu einem Onkel mütterlicherseits zogen, der sie liebevoll aufnahm und dafür sorgte, dass die Mädchen eine angemessene Erziehung erhielten: Hygieneregeln, Glaubensvorschriften, Fertigkeit im Lesen und Rechnen. Angela war an diesem Punkt 18 Jahre alt. Es herrschte Männermangel, da diese mit den unablässigen Kriegen der Republik Venedig beschäftigt waren, zu der Brescia samt Umland gehörte. Die Aussichten des Mädchens konnten also entweder so aussehen, dass es den schwierigeren Weg wählte, einen Ehemann zu finden, vielleicht einen Witwer mit Kindern (zu jener Zeit starben die Männer, wenn sie dem Tod durch Krankheit entronnen waren, im Krieg, während die Frauen im Kindbett starben), oder aber den leichteren Weg einzuschlagen, bei einer adeligen Dame vor Ort Dienstmädchen zu werden, oder, was noch leichter war, entweder durch Verliebtheit oder durch Vergewaltigung schwanger zu werden und als Bettlerin auf der Straße zu landen, oder sich aber ins Kloster zurückzuziehen. Und paradoxerweise waren die Klöster oft Orte der Verderbtheit und der Sünde. Nachdem auch ihre Schwester gestorben war, trat Angela dagegen in den dritten Orden des heiligen Franziskus ein. Nach weiteren zwei Jahren starb auch der Onkel, und so kehrte Angela ins elterliche Haus in Desenzano zurück, wo sie eine kleine Schule eröffnete, wo sie kleine Mädchen im Katechismus unterwies.

In der Folge – dreißig Jahre später – sollte sie in einem gleichermaßen religiös wie sozial inspirierten Augenblicksentschluss den Ursulinenorden gründen.

Aber zurück zu ihrer Statue. Obwohl Angela die Gestalt einer Frau verkörperte, die sich besonders der Liebe zu Kindern mit einem Bildungsdefizit sowie vor allem auch dem Thema der Freiheit der Frau widmete (womit zu jener Zeit gerade einmal ein Minimum an Würde und Bildung gemeint war), wurde ihre innovative Rolle von den Jakobinern nichtsdestotrotz verkannt, die sich Ende des 18. Jahrhunderts in Desenzano als die Herren aufspielten. Und so wurde die Skulptur tatsächlich 1797 vom Dorfplatz entfernt und durch einen »Baum der Freiheit« ersetzt. Im Jahr 1800 gelang es den frommen Bewohnern von Desenzano schließlich, sie wieder an ihren Platz zurückkehren zu lassen.

Wenn wir Angela Mericis Geschichte neu lesen und dabei die Anliegen der Gegenwart auf die Verhältnisse der Vergangenheit anwenden, dann kommen wir nicht umhin, sie als eine charismatische Gestalt der Frauenemanzipation zu verstehen, als deren Ahnfrau.

Die (keineswegs nur religiöse) Bildung, die Emanzipation vom Spiel der arrangierten Ehen oder vom als Strafmaßnahme aufgezwungenen Geschlechtsverkehr, der dich dazu bringt, auf der Straße zu enden, die Errungenschaft der grundlegenden pädagogischen Rolle, vor allem aber einer Würde, sind die ersten Schritte jenes rasanten und oft von Stolpersteinen behinderten Rennens, das uns heute dazu bringt, die Gleichstellung bei der Arbeit und im Privatleben einzufordern. Natürlich hat die Legende Angelas Lebensbeschreibung mit Gemeinplätzen der Heiligkeit angefüllt: mit den Visionen, in denen ihr Offenbarungen zuteil wurden, mit den Pilgerfahrten ins Heilige Land und nach Rom, dem Wunder des auf der Pilgerfahrt verlorenen und bei der Rückkehr nach Brescia wiedererlangten Augenlichts. Aber was bleibt, wenn man von den einem »Heiligenleben« entsprechenden Geschichten absieht, ist die Gestalt einer unabhängigen Frau mit Charakter, die im Glauben und in ihrem Zeugnis ihre Rolle als Schwester unter Schwestern und eine Art und Weise gefunden hat, sich des Schicksals derer anzunehmen, die mittellos dastanden, und eine solide Institution zu hinterlassen, die ihr Werk fortführen sollte.

Als Angela 1530 ihre religiöse Gesellschaft gründete – die Compagnia di Sant’Orsola (Gemeinschaft der heiligen Ursula), die 1535 dann offiziell anerkannt wurde – bestand deren Ziel keineswegs darin, sich mit den Schwestern ins Gebet zu flüchten, sondern darin, ein gemeinsames Haus zu haben, das jeden Morgen verlassen wurde, um mitten unter die Menschen hinauszugehen und wohltätige Missionen durchzuführen und zur Aufnahme bereit zu sein; praktisch also junge Frauen aus Elend, Unterdrückung und Ignoranz zu retten. Tatsächlich war die Compagnia das allererste Säkularinstitut: was für Angela zählte, war nicht, sich in ein Kloster zurückzuziehen, sondern in der Welt zu leben, und das beweist auch die Tatsche, dass sie wollte, dass die Leitung der Ursulinen in den Händen von »Jungfrauen«, aber auch in denen von »Matronen« liegen sollte, also Witwen aus dem Adel von Brescia, die gerade aufgrund ihrer konkreten Erfahrung als Mütter in der Lage waren, sich mit ihrer fürsorglichen und liebevollen Präsenz der Berufung und der Bedürfnisse der »geistlichen Töchter« anzunehmen. Ein weiterer Primat besteht in der Tatsache, dass die Ursulinen die erste Ordensgründung darstellen, die die Erfahrung und die Ressourcen wohlhabender Witwen aufwertet: Neben der Aufgabe, sich der Privatsphäre der jungen Mitschwestern anzunehmen, spielten sie auch eine politische Rolle. Sie kümmerten sich nämlich um die Eingliederung dieser neuen Einrichtung für Frauen in die politische und Zivilgesellschaft der Zeit. Ein Vermächtnis der Liebe, Menschlichkeit und Schwesternschaft, das bis heute in den circa 60 Säkulargemeinschaften und Ordensgemeinschaften der Ursulinen in Italien und im Ausland weiterlebt.

Carola Susani hat in der Mainummer von »Frauen – Kirche – Welt« über die wunderbare Erfahrung von Sr. Rita Giarretta, ihre Mitschwestern und über das »Haus Ruth« berichtet, das sich seit 1995 in Caserta der Aufgabe widmet, Migrantinnen, die Opfer des Menschenhandels geworden waren, zu einem neuen Leben zu verhelfen. Das ist nur eine der vielen moralischen Vermächtnisse, die auch noch Jahrhunderte nach Angela Mericis Tod die Intuitionen dieser visionären Frau verwirklichen: Für sie musste der Fortschritt der Gesellschaft auch die Bildung der Frauen mit einschließen, und die beste Art und Weise, dieses Ziel zu erreichen, waren Apostolat, Militanz und Inklusion. In Desenzano gibt es neben der Angela-Statue, auf deren Sockel Touristen, die vielleicht nicht das Geringste von ihrer außerordentlichen Geschichte wissen, sitzen, um den kleinen Hafen und die in venezianischem Stil gehaltene Brücke zu bewundern, auch noch den Sitz des »Mericianum«. Das nach der Heiligen benannte geistliche Zentrum wurde just an der Stelle errichtet, wo einst deren Geburtshaus gestanden hatte. Seit 1978 befasst es sich außer mit dem Studium des »Charismas [Angela] Mericis« auch damit, die schwesterlichen Beziehungen zwischen Ursulinen in Säkulargemeinschaften und Ordengemeinschaften zu fördern.

Von Camilla Baresani


Angela Merici


Geboren am 21. März 1474 in Desenzano am Gardasee
Gestorben am 27. Januar 1540 in Brescia
Verehrt in der Katholischen Kirche
Seligsprechung durch Papst Clemens XIII. am 30. April 1768
Heiligsprechung durch Papst Pius VII. am 24. Mai 1807
Gedenktag: 27. Januar


Die Verfasserin

Camilla Baresani stammt aus Brescia, sie hat Romane, Essays und Erzählungen geschrieben. Die letzten Bücher, die sie veröffentlicht hat, sind: Gelosia (La Nave di Teseo, 2019), Gli sbafatori (Mondadori Electa, 2015), Il sale rosa dell’Himalaya (Bompiani, 2014), das mit dem Internationalen Literaturpreis der Stadt Como, mit dem Cortina d’Ampezzo-Preis und mit dem Preis der Stadt Vigevano ausgezeichnet wurde.

Sie lehrt Kreatives Schreiben an der Scuola Molly Bloom [einer Schriftstellerschule mit Niederlassungen in Rom und Mailand].

Sie ist Autorin des TV-Formats Romanzo Italiano, ein »geo-literarisches« Programm mit Interviews mit 29 Autoren, die von den Orten erzählen, die ihre Prosa beeinflusst haben.