· Vatikanstadt ·

Der therapeutische Wert des Erzählens von der Bibel bis zu den Romanen des 21. Jahrhunderts

Geschichten entstehen aus Begegnung

3-TED_4_x.jpg
04. September 2020

Das Genre des Spionageromans reicht zurück bis in das Alte Testament: Im Buch Josua können die Spione ihren Verfolgern entkommen, weil die Dirne Rahab ihnen zu einer abenteuerlichen Flucht verhilft: »Darauf ließ die Frau sie mit einem Seil durch das Fenster hinab; das Haus, in dem sie wohnte, war nämlich in die Stadtmauer eingebaut….

Erzähle, gedenke! Dieses zweifache Gebot durchzieht die gesamte Bibel. In einer Reihenfolge, die dem Erzählen den Vorrang einräumt. Denn es gibt kein Gedenken ohne Erzählung. So ist es auch im Abschnitt aus dem Buch Exodus (10,2), der der Botschaft des Papstes zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel zugrunde liegt: »Damit du deinem Sohn und deinem Enkel erzählen kannst.« Von den Wundern des Herrn erzählen, von Generation zu Generation seine Taten überliefern. Lebendige, dynamische Erinnerung, deren Hauptquelle das Erzählen ist.

Die Bibel besteht aus Erzählungen, sie ist durchwoben von Geschichten, auch und vor allem in den poetischen Büchern, ein Repertorium erzählter Geschichten und anderer, erahnter oder erträumter Geschichten, Gegenstand faszinierender Incipits (»Mein Vater war ein heimatloser Aramäer«, Deuteronomium 26,5) und eben­so faszinierender überraschender Wendungen, Abenteuer, Enthüllungen. Sie ist das große Repertoire der Leidenschaften, in der wir im Ansatz alle Genres unserer Literatur wiederfinden.

Apologie der Macht? Im Buch der Richter (9,7-15) ergreifen die Bäume das Wort wie im Roman von Richard Powers Die Wurzeln des Lebens, Pulitzer-Preis für Belletristik 2019. Rätselhaftes Mystery? Ein Sprachfehler, ein falsch ausgesprochenes Kennwort kann euch das Leben kosten, wenn ihr auf der falschen Seite seid (ebenfalls im Buch der Richter: 12,5-7). Spionagethriller? Einer von vielen: die auf Kundschaft nach Jericho geschickten Spione, die von der Dirne Rahab versteckt wurden (Josua 2,1-24). Und dann ganz klar die Epik, Kriege, Tragödien aus Leidenschaft, Rache, Themen aus Groschenromanen und unzähligen Hollywood-Filmen. #MeToo? Steht bereits alles in der Geschichte von Susanna und den beiden Alten (Daniel 13,1-64).

Die Wissenschaftler der Narrativen Exegese haben detaillierte Analysen des Textaufbaus vorgelegt und die Besonderheit der biblischen Rhetorik ebenso untersucht wie den Gebrauch von Symbolen und Metaphern und auch die meisterhaften Erzählstrategien. Aber in den Heiligen Schriften ist eine andere Weisheit enthalten – ein gemeinsames Erbe aller großen Literatur –, die sich unser Bedürfnis nach Geschichten zunutze macht, um uns eine andere Geschichte zu erzählen: die Geschichte eines Bundes, eines unerhörten Pakts zwischen Gott und seinem Volk.

»Der Mensch ist ein erzählendes Wesen«, unterstreicht der Papst. Und es ist nicht notwendig, dass man von Beruf Schriftsteller ist, um neue Personen und Handlungsstränge ins Leben zu rufen, um Reisen in die zu Erinnerung unternehmen oder Neuland zu erkunden. Wenn aber das Erzählen eine allen gemeinsame Fähigkeit ist, warum dann diese Wortmeldung zur Verteidigung des Erzählens, diese Botschaft über den Wert der Geschichten?

Vielleicht weil unsere Erzählungen korrupt geworden, unsere Geschichten ausgetrocknet, unsere Lieder auf unseren Lippen erstorben sind. Und selbsternannte Propheten verkünden das Ende des Romans oder des Erzählens, wie sie gestern das »Ende der Geschichte« verkündet haben. Nachdem die Mauern der Utopien des 20. Jahrhunderts, deren illusorische Aspekte wir gesehen haben, eingerissen waren, ist, fast unbemerkt, die Zeit anderer Mauern gekommen. Und anderer Illusionen, propagiert im Namen eines »Konfrontationskurses«, der als Realismus eingefordert und als Tugend verkauft wird.

Dabei vergisst man, dass seit Herodot Geschichten aus der Begegnung und dem Dialog mit dem anderen entstehen, dem Eindringling, dem Illegalen, dem, der anders ist, den wir hartnäckig »Barbar« nennen, weil er eine andere Sprache spricht als wir selbst. In den von der Politik – verstanden im Weberschen Sinn als Beruf und Berufung – hinterlassenen Leerraum nisteten sich Geschichtenverfälscher, Marktschreier, Fake News-Meister ein. Ihr Wortschatz ist modern, aber schon die Bibel warnt: »Du sollst kein leeres Gerücht verbreiten. Biete deine Hand nicht dem, der Unrecht hat, indem du als falscher Zeuge auftrittst! Du sollst dich nicht der Mehrheit anschließen, wenn sie im Unrecht ist, und sollst in einem Rechtsstreit nicht so aussagen, dass du dich der Mehrheit fügst und das Recht beugst« (Exodus 23,1). Das klingt nach heutiger Geschichte und ist doch die Geschichte aller Zeiten.

Verschwörungstheorien, der Triumph des Irrationalen und Feindbilder untergraben die Ethik – oder vielmehr das Ethos – des Erzählens, schaffen Parallelgeschichten, wacklige Erzählungen. Sie sind die Anti-Geschichte, »anti-lògos«. Denn George Steiner hatte Recht: »In den Worten gibt es wie in der Teilchenphysik die Materie und die Antimaterie.« Das Wort, das heilt, und die Wortwahl, die täuscht, wehtut. Ein Erzählen, das packend ist und den Genuss des Zuhörens und Lesens steigert. Und ein Erzählen, das uns nach unten zieht. Nicht wegen der Inhalte, zumindest nicht nur, sondern wegen der Schlampigkeit des Stils, der Banalität der Erzählstrategie, der Inkonsistenz der Charaktere.

Der »Anti-lògos« bedroht die Erzählung und die Kunst des Erzählens an sich, so wie im faszinierenden Kinder- und Jugendbuch Harun und das Meer der Geschichten von Salman Rushdie (1990). In einer sehr traurigen Stadt, so traurig, dass sie sogar ihren eigenen Namen vergessen hat, strömt aus den Fabriken der Traurigkeit der graue Rauch der Monotonie über die Einwohner. Und auch in die einzige Insel der guten Laune – ein altes, heruntergekommenes Stadtviertel, wo der Geschichtenerzähler Raschid Khalifa mit seinem Sohn Harun wohnt – dringt das Gift der Langeweile ein. Raschid ist ein Wortkünstler, der mit seinen Geschichten verzaubert: Liebesintrigen, Sagen von Feiglingen und Helden, von »Prinzessinnen, bösen Onkeln, fettleibigen Tanten, schnurrbärtigen Gangstern in gelb karierten Hosen«. Doch eines Tages merkt er, dass er nichts mehr zu erzählen hat, seine Ader ist versiegt, jemand hat die Quelle aller Geschichten vergiftet.

Setzen Sie an die Stelle der Schornsteine, aus denen Traurigkeit aufsteigt, die Fabriken des Hasses, die Internet-Trolls, die Werkstätten der Desinformation, und ersetzen Sie den Namen des Fürsten des Schweigens durch die Namen der Lehrlinge in Diktatur, die wieder umgehen, und siehe da, Sie befinden sich auf vertrautem Gebiet, denn auch hier gilt die alte Regel: »mutato nomine de te fabula narratur«, auch die Erzählung von Rushdie.

Wir sind nicht die Ersten und werden auch nicht die Letzten sein, die das Gefühl haben, sich mitten in einer epochalen Krise vor einem Abgrund zu befinden. Die Ersten, die zusehen müssen, wie primitive Triebe, die Stammeslogik auf die öffentliche Bühne zurückkehren, die Natur zerstört wird, sich neue Viren und neue Krankheiten verbreiten. »Das verzweifelt helle Bewusstsein, inmitten einer entscheidenden Krisis zu stehen, ist in der Menschheit chronisch«, sagte Walter Benjamin. Aber der Horizont hat sich verändert. Diesmal bedrohen die in den Waffenarsenalen angesammelten Kräfte der Zerstörung, die Umweltkatastrophen und die immer lauter zum Himmel schreienden Ungleichheiten das Überleben des Planeten und die Möglichkeit einer gemeinsamen Geschichte, einer miteinander geteilten Erzählung.

Daher kommt die Mahnung des Papstes, für die Geschichten Sorge zu tragen, im richtigen Moment. Geschichten sind ein zerbrechliches Gut, das bewahrt werden muss. Ihre Kunst verlangt Geduld, Zuhören, die Fähigkeit, in ihnen den Hauch, den Rhythmus des Lebens fließen zu lassen. Einfache Kunst, die keine machtvollen Verstärker, keine ausgefeilten Mittel braucht.

»Gebt mir die Dorferzähler zurück: ›In einem fernen, fernen Land…‹«, ruft eine der Figuren des schönen Romans Allerseelen von Cees Nooteboom aus.

Aber wie es notwendig ist, die Erinnerung an die Vergangenheit zu bewahren, die Bibliothek der Erinnerungen zu pflegen – ein in den Kulturen mit mündlicher Überlieferung umso kostbareres Gut –, so ist jede Generation aufgerufen, die eigenen Erzählungen zu erfinden, den Fürsten des Schweigens Widerstand zu leisten, die das Meer der Geschichten kontrollieren oder austrocknen wollen. Und auch für die Kirche tut sich jedes Mal eine enorme Baustelle auf: den Glauben in der zeitgenössischen Sprache zu erzählen. Das ist die unerlässliche Aktualisierung in der Treue zu Jesus von Nazareth, dem Rabbi, der in Gleichnissen lehrte, einem Meister des Geschichtenerzählens.

Von Piero Pisarra