Hauptwerke der »Sammlung Roberto Longhi« in den Kapitolinischen Museen

Caravaggio und seine Nachfolger in Europa

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07. August 2020

Nach der coronabedingten Zwangspause öffneten die Kapitolinischen Museen – unter Beachtung aller Sicherheitsvorkehrungen (Vorbestellung und Maske obligatorisch) – Mitte Juni wieder ihre Pforten mit einer kleinen, aber hochkarätigen Ausstellung anlässlich des 50. Todestages von Roberto Longhi (1890-1970), dem bedeutendsten italienischen Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts.

Roberto Longhi ist die Entdeckung eines revolutionären Genies zu verdanken: Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, heute jedem Schulkind ein Begriff, oft nicht nur aufgrund der bahnbrechenden naturalistischen Malerei mit scharfen Hell-Dunkel-Kontrasten, sondern auch wegen seines angeblich dramatischen Lebenswandels. Zu Longhis Zeit war er jedoch weitgehend unbekannt.

Longhi, der Pionier der Caravaggio-Forschung, bezeichnete Caravaggio als ersten Maler der Moderne und schlug 1914 mit Beispielen der französischen Kunst eine Brücke bis zu Courbet. Diese Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart und ihre Wechselwirkung wurde typisch für Longhis kritische Methode. Noch immer gültig erscheint die Feststellung (1962), dass es die Kenntnis der »Vergangenheit ist, die uns nicht die Regel sondern vielmehr die geistige Freiheit gibt, die Gegenwart zu interpretieren«, und dass andererseits »die Gegenwart auf die vergangene Geschichte abfärbt«. Bereits 1911 hatte der blutjunge Longhi Caravaggio seine Doktorarbeit gewidmet, die er genau am Tag seines 21. Geburtstags an der Universität Turin vorstellte. In dieser Schrift begnügte er sich nicht mit der Präsentation eines damals unbekannten Genies und dessen Werkes, sondern erforschte im Kapitel »Die Wegbereiter des Naturalismus« auch die Wurzeln von Caravaggios Kunst, die im kulturellen »Humus« des lombardischen Naturalismus mit seiner dunklen Farbigkeit zu suchen seien. Longhi erwähnt aber auch die Lichteffekte des venezianischen Wandermalers Lorenzo Lotto (1480-1556) als wegbereitend für Caravaggio.

Nach der Promotion verbrachte Longhi mehrere Jahre in Rom. Er fuhr nicht nur fort, Caravaggio selbst und seine Vorläufer zu studieren, sondern untersuchte auch dessen ungeheuerliche Wirkung in Italien und ganz Europa – die berühmten »caravaggesken« Maler, welche das gesamte 17. Jahrhundert prägten. Wobei Longhi sogleich hervorhob, dass es sich nicht um eine »Schule« im engen Sinn handelte – denn Caravaggio hatte keine Schüler und stellte keine festen Regeln auf –, sondern vielmehr um einen Umkreis: Künstler (Longhi: »altri spiriti liberi«, andere freie Geister), die sich ihm in ihrer Kunstauffassung verwandt fühlten.

Mit einem der letzten Vertreter dieser Richtung, Mattia Preti (1613-1699), befasste sich Longhi bereits 1913 in einem Aufsatz. Es folgten bis 1916 jährlich Schlag auf Schlag Studien über weitere »Caravaggeschi«: den Römer Orazio Borgianni, den Neapolitaner Giovanni Battista Caracciolo, genannt Battistello, Orazio Gentileschi und dessen berühmte Tochter Artemisia. Nach Professuren in Bologna und Rom ließ er sich 1939 mit seiner Ehefrau, Schriftstellerin unter dem Pseudonym Anna Banti, in der »Villa Il Tasso« in den Hügeln oberhalb von Florenz nieder, die nach seinem Tod Sitz der Stiftung Longhi wurde und bis heute mit Bibliothek, Fotothek und der Kunstsammlung ein lebendiges Studienzentrum ist.

Dem Gelehrten sind Neufunde und die Identifikationen wichtiger Werke zu verdanken. 1943 publizierte er eine grundlegende Studie über den europäischen Naturalismus und seine Wurzeln bei Caravaggio und dessen Umkreis. Er wandte sich heftig gegen die geläufige akademische Auffassung des Künstlers als Ausläufer der Renaissance (Zitat: »Nachtportier der Renaissance«) und postulierte das Revolutionäre, Moderne seiner Kunst, die »natürlich, verständlich, mehr human als humanistisch« war.

Den Höhepunkt von Longhis Studien bildeten jedoch zweifellos die von ihm organisierte epochale Caravaggio-Ausstellung 1951 im Palazzo Reale in Mailand und die im Jahr darauf folgende Monographie des »ersten Malers der Moderne«. Diese erste Ausstellung Caravaggios war ein durchschlagender Erfolg. Der Ansatz, wie die gesamte wissenschaftliche Tätigkeit Longhis, war zweifellos avantgardistisch; die bisherigen Leitlinien des Studiums der italienischen Malerei waren die toskanische – Florenz und Siena – und die venezianische Schule gewesen. Nun sah sich das Publikum konfrontiert mit einer andersartigen, unmittelbaren Malerei (Longhi: »pittura diretta«) in dramatischen Helldunkel-Kontrasten, die alltägliche Themen realistisch in starker Nahsicht präsentierte und sogar sakrale Themen in die Gegenwart des 17. Jahrhunderts katapultierte.

Vor allem die bekannte »Berufung« – die sensationelle Darstellung eines heiligen Geschehens in einem profanen Rahmen, einer verstaubten dunklen Taverne mit Akteuren in Kostümen um 1600 – bildete wenige Jahre später (1615/17) die direkte Inspirationsquelle für den Franzosen Valentin de Boulogne (1591-1632), der früh nach Rom kam, die Werke von Caravaggio, Ribera, Bartolomeo Manfredi studierte. Im monumentalen Gemälde der »Verleugnung Petri« mit würfelspielenden Soldaten ersetzt er den Spieltisch durch einen Steinblock mit antiken Reliefs. Dieses meisterhaft gemalte monochrome Element spielt auf die damals aktuelle Streitfrage an, ob in der Kunst mehr dem Vorbild der Natur oder der Antike zu folgen sei. 1997 konnte Marcello Fagiolo dell’Arco den Steinblock als eine Zusammenstellung von zwei antiken Terracotta-Reliefs aus der Sammlung Farnese (nach ihrem späteren Besitzer, Marchese Campana, Campan-Platten genannt, heute im Louvre) identifizieren, welche die Hochzeit von Peleus und Thetis sowie die Vorbereitung zum Fest darstellen. Dazu sei gesagt, dass auch Caravaggio selbst – entgegen der landläufigen Meinung, er habe ausschließlich nach der Natur gemalt, sozusagen »was er auf der Straße sah« – sehr wohl die antike Skulptur kannte, studierte und deren Werke in seinen Bildern rezipierte.

Roberto Longhi war nicht nur ein großer Kunsthistoriker, sondern auch ein leidenschaftlicher Sammler. Die römische Ausstellung, kuratiert von der wissenschaftlichen Leiterin der Stiftung Longhi, Maria Cristina Bandera, zeigt über 40 Gemälde ausschließlich dieser Sammlung, welche die stattliche Zahl von 250 Stücken erreicht. Dem Gelehrten bedeutete sie mehr als eine Zusammenstellung von Bildern, die seinem Geschmack entsprachen. Sie stellte ein einzigartiges Studienobjekt dar, an dem er seine Kennerschaft übte, eine Illustration seiner Schriften. Nicht von ungefähr hat die caravaggeske Malerei einen Löwenanteil.

Bereits 1921 erwarb Longhi in Rom aus der Sammlung des Marchese Gavotti eine Serie von fünf stark an Caravaggio angelehnten Apostelporträts, die er einem »Meister des Salomonurteils« (nach einem stilverwandten Bild in der Galleria Borghese) zuschrieb. Besonders eindrucksvoll ist der heilige Bartholomäus, ein kahler Greis mit den makabren Symbolen seines Martyriums, einem großen Messer und der abgezogenen eigenen Haut. Erst in jüngerer Zeit konnte Giovanni Papi eruieren, dass es sich um Jugendwerke eines berühmten Caravaggio-Nachfolgers handelt: des Spaniers Jusepe de Ribera (1591-1652).

In Neapel war der Caravaggismus aufgrund zweier ausgedehnter Aufenthalte des Malers in dieser Stadt zwischen 1606 und 1610 besonders verbreitet. Longhi kann als Entdecker von Giovanni Battista Caracciolo, genannt Battistello (1578-1635), gelten. Dessen dramatische »Grablegung« besticht durch die Eleganz der Linienführung, den kostbaren roten Brokatmantel der Rückenfigur rechts und den Tribut an Merisis »Heiligen Matthäus« der Contarelli-Kapelle im Nikodemus hinter Christus.

Zu den frühesten Nachfolgern Caravaggios in Rom zählte der Venezianer Carlo Saraceni, bereits 1598 in Rom. Auf den Höhepunkt seiner caravaggesken Phase (1618) ist eine mysteriös beleuchtete »Judith mit dem Haupt des Holofernes« zu datieren. Das makabre Thema, hier verstärkt durch das Motiv der Alten, die den Sack für das Haupt mit den Zähnen festhält, war im Kreis dieser Maler besonders beliebt.

Großen Raum nehmen in der Sammlung Longhis die Holländer und Flamen ein, die nach dem Aufenthalt in Rom in der Heimat die Neuerungen Caravaggios verbreiteten: Baburen, Honthorst, Matthias Stom. Dirck van Baburen (1594/95 – 1624 Utrecht) kam wie Ribera 1612, zwei Jahre nach dem Tod Caravaggios, nach Rom und übernahm gleich den neuen naturalistischen Stil – ein Beweis für die frühe Assimilierung auch durch nicht-italienische Künstler. Wie Baburen arbeitete Gerrit van Honthorst – bezeichnenderweise »Gherardo delle Notti« genannt – für Auftrag­geber in den höchsten Kreisen, den Marchese Vincenzo Giustiniani und Kardinal Scipione Borghese. Longhi kaufte eine »Gefangennahme Christi« Baburens bereits 1921.

Der große Coup gelang Longhi Ende der 1920er Jahre, als er ein eigenhändiges Frühwerk Caravaggios erwerben konnte: »Knabe, der von einer Eidechse gebissen wird«, weltweit ausgestellt und viel bewundert wegen der absoluten Lebensnähe. Im Schlaglicht von links zieht der Jüngling mit einer blitzschnellen verkrampften Bewegung (Longhi verglich sie 1951 mit einer Filmsequenz) vor Überraschung, Schreck und Schmerz die Schulter hoch, hebt die Hände, reißt die Augen auf und öffnet den Mund zum Schrei. Caravaggio hatte das Bild 1593, in der schwierigen römischen Anfangszeit gemalt, um es zu verkaufen, ebenso wie ein weiteres authentisches Exemplar, nun in der National Gallery, London. Schon 1642 betonte der Maler und Künstlerbiograph Giovanni Baglione, einst erklärter Feind Caravaggios, die Meisterschaft des Stilllebens im Vordergrund, eine Gattung, die Caravaggio in Italien zur Blüte gebracht hatte. Longhi studierte 1930 in einer ebenfalls ausgestellten Kohlezeichnung die Lichtführung dieser Perle seiner Sammlung.

1951 stellte er ein weiteres Frühwerk Caravaggios aus, »Frucht schälender Knabe«, allerdings nur in einer Kopie. Trotzdem besitzt diese früh datierbare Kopie einen hohen Wert, da das bereits 1617/21 von Giulio Mancini erwähnte Original verloren ist.

Die kostbare Ausstellung endet mit einem riesigen, ergreifenden Hochformat von exquisiter Chromatik eines späten Caravaggio-Nachfolgers, Giacinto Brandi (1621-1691): der heilige Sebastian, von Engeln gepflegt, umschlungen von einer fließenden Drapierung in Rosa-, Grau- und Pistazientönen. Der ursprüngliche Aufstellungsort des Altarbildes ist unbekannt, Longhi kaufte es 1927 in Neapel. Er bezeichnete es als »eines der vollkommensten Werke des italienischen Barock… fließend wie die schönsten Ideen Berninis« – Worte eines in seine Sammlung verliebten Kunstfreundes, dem die Forschung Immenses verdankt.

Brigitte Kuhn-Forte


Die Ausstellung »Il Tempo di Caravaggio« ist noch bis 13. September geöffnet, täglich 9.30 bis 19.30 Uhr, Reservierung Pflicht (museicapitolini.org; museiincomune.org), mit MIC Card gratis, Reservierung Tel. 0039 060608.