Die Gestalt der Königin Ester in der Bibel

Eine Heldin der Befreiung

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01. Juli 2020

Kann eine Frau der Macht der Männer Schach bieten und ihr Volk vor der Vernichtung retten? Im 5. Jahrhundert wurde während der feierlichen Einsetzungsriten der fränkischen Königinnen der Name der Königin Ester angerufen, und in der westgotischen Kirche wurde just auf deren gewichtige Gestalt verwiesen, wenn den Äbtissinnen die Mitra aufgesetzt wurde. Ester, Heldin der Befreiung, deren Gott sich bedient, um sein Volk vor seinen Feinden zu retten, wird in der Geschichte des Christentums also zu einem offenkundigen, symbolischen Hinweis auf weibliche Macht als Garant des Friedens und des Schutzes.

Aber wie wird diese faszinierende Königin in der Bibel präsentiert?

Die junge Ester wird dank ihrer Schönheit von dem persischen Herrscher Artaxerxes zu seiner Frau erkoren, der sie, in Unkenntnis über ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, zur Königin krönt. Aber sein ranghöchster Minister, Haman, hasst die Juden und überredet den König dazu, ein Gesetz zu erlassen, das deren Vernichtung dekretiert. Um ihr Volk zu retten, präsentiert sich Ester also unter Aufraffung all ihres Mutes vor dem König, offenbart ihre Herkunft und verhindert das Blutbad.

Diese biblische Heldin wird in der Heiligen Schrift also als Heilswerkzeug präsentiert und steht mit ihrer Grazie und ihrer Entschlossenheit – inmitten einer von der arroganten und leeren, am Beispiel des pompösen persischen Hofes und des grausamen eitlen Höflings beschriebenen männlichen Macht regierten Welt der Gewalt und des Todes – symbolisch für die Unterdrückten und deren Hoffnung. Tatsächlich werden die Verfolgten durch eine Verkehrung der Schicksale durch die Hand dieser weisen und gerechten Frau gerettet. In einem stetig wachsenden Bewusstsein verkörpert Ester jene Weisheit, die es versteht, in konkreten, schwierigen Situationen angemessen die zu treffenden Entscheidungen abzuwägen, und die es fertigbringt, das Gleichgewicht zwischen Versteckspiel und Enthüllung zu wahren. Angesichts der drohenden Vernichtung übertritt sie, obwohl sie dadurch ihr Leben aufs Spiel setzt, um ihr Volk zu retten das Gesetz, indem sie vor Artaxerxes erscheint, ohne von ihm einbestellt worden zu sein.

Das ist aber noch nicht alles. Ihre Geschichte ist auch an jene gerichtet, die wie die im Exil lebenden Juden ihrer Zeit Probleme damit haben, sich in dem fremden Land zu akklimatisieren, und hält dazu an, auch unter schwierigen Umständen Vertrauen und Hoffnung zu bewahren und auch unter Umständen der Diaspora, des Exils oder gar der Verfolgung treu zu bleiben. Just als der Tod das einzig mögliche Schicksal zu sein scheint – gerade so, wie es während der Gefangenschaft in Ägypten und während der Verfolgung unter Antiochos IV. Epiphanes der Fall gewesen war, zu der Zeit, in der der Text möglicherweise verfasst wurde – greift eine gerechte Person ein, die wie Ester trotz ihrer durch die Stellung der Frau bedingten Schwäche zum Werkzeug des Heils und der Erlösung bzw. Befreiung wird.

Die Erzählung stellte für die Juden auch eine Inspirationsquelle dar, sowohl im Hinblick auf Themen, die mit der Assimilation und der Möglichkeit zusammenhängen, unter Wahrung der eigenen Identität in der Fremde zu leben, als auch im Hinblick auf die machtvolle Botschaft des Widerstandes in den dunkelsten Augenblicken ihrer Geschichte. Der Text spendete tatsächlich bei den schmerzlichsten Anlässen Trost und Mut, schenkte einem landlosen Volk Würde und Identität, vor allem aber erinnerte er daran, dass Gott auch in einem von der Bedrohung überschatteten Leben nicht zulassen wird, dass sein Volk ausgemerzt würde, sondern dass er ein ungünstiges Los zugunsten der Unterdrückten in sein Gegenteil verwandeln werde. Aus eben diesem Grund erwies sich das Buch auch während der Verfolgung durch die Nazis als großer Trost, und selbst Edith Stein fühlte sich zutiefst mit der Gestalt der Königin verbunden: in dem poetischen Text Nächtliche Zwiesprache (1941) ist gerade Ester die Protagonistin, die bereit ist, um Rettung für ihr Volk zu flehen.

Bis heute erinnert das jüdische Purim-Fest an jene Episoden: ein fröhlicher Gedenktag voller Farben und Heiterkeit, an dem der Gefahr gedacht wird, der man entrinnen konnte, und der Verkehrung der Geschicke, die dank einer Frau, Ester, erfolgt war.

Von Adriana Valerio